Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsschadensausgleich. Vergleichsmaßstab

 

Orientierungssatz

Das Durchschnitts- oder Vergleichseinkommen iS des § 30 Abs 4 S 1 BVG ist der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe zu entnehmen, der der Beschädigte in der Zeit, für die er die Leistung begehrt, ohne die Schädigung angehört hätte. Diese Berufsstellung kann vernünftigerweise nicht diejenige sein, die der Schwerbeschädigte vor der Zeit, für die er den Berufsschadensausgleich begehrt, durch andere Umstände als durch Schädigung iS des BVG verloren hatte, sondern nur diejenige Berufsstellung, die er zur selben Zeit ohne die Schädigung inne hätte.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 3, 4 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 04.06.1970)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 4. Juni 1970 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt die Gewährung von Berufsschadensausgleich; er bezieht seit dem 1. Oktober 1950 wegen der bei ihm als Schädigungsfolge anerkannten Gesundheitsstörung "doppelseitige Lungentuberkulose mit Zwerchfellhochstand rechts" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H.

Der Kläger besuchte von 1919 bis 1927 die Volksschule, erlernte sodann das Schlosserhandwerk, war von Juli 1931 bis April 1932 Kraftfahrer, von Oktober 1933 bis Juni 1934 beim Arbeitsamt und ließ sich von Juni 1934 an zum Flugzeugführer ausbilden. Er war von 1938 bis August 1939 Flugzeugführer bei der D L; von Dezember 1939 bis April 1945 war er bei der Luftwaffe, und zwar als Zivilangestellter, beschäftigt. Von Oktober 1944 bis November 1946 arbeitete er bei einer Firma in B als Kraftfahrer. Im Oktober 1946 erkrankte er an Lungentuberkulose. Nach einer kurzfristigen Tätigkeit als selbständiger Vertreter war der Kläger von 1948 bis 1955 selbständiger Radiohändler, von August 1956 bis März 1958 als Kraftfahrer bei einer englischen Einheit und von August 1958 bis November 1959 bei einer Speditionsfirma beschäftigt; von November 1959 bis September 1960 war er zunächst Bürobote in einer Firma in B und seit dem 1. Oktober 1961 dort als kaufmännischer Angestellter tätig.

Die Versorgungsbehörde lehnte den Antrag des Klägers auf Berufsschadensausgleich mit Bescheid vom 19. Dezember 1966 ab, weil ein Einkommensverlust bei ihm nicht feststellbar sei; die Schädigungsfolgen seien nicht die Ursache dafür, daß er die Tätigkeit eines Flugzeugführers nicht mehr ausüben könne. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 19.7.1967).

Das Sozialgericht (SG) hat verschiedene Auskünfte eingeholt und mit Urteil vom 11. März 1969 die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 4. Juni 1970 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und in den Entscheidungsgründen ausgeführt, es sei nicht wahrscheinlich, daß der Kläger durch die anerkannten Schädigungsfolgen einen beruflichen Schaden i.S. des § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlitten habe. Der Kläger könne aufgrund der Schädigungsfolgen weder als Bauschlosser noch als Flugzeugführer tätig sein. Bauschlosser könne er deshalb nicht mehr sein, weil er nur noch leichte Arbeiten, überwiegend im Sitzen unter Schutz vor Durchnässung und Kälte verrichten könne und bei starker Belastung wieder erhebliche Insuffizienzerscheinungen auftreten würden. Der Beruf des Bauschlossers könne aber deshalb nicht mehr zum Ausgangspunkt der Prüfung gemacht werden, weil der Kläger diesen Beruf schon bald nach der Lehre - endgültig mit der Aufnahme seiner fliegerischen Betätigung im Jahre 1934 - aufgegeben habe. Der Kläger könne aber auch als Flugzeugführer nicht mehr tätig sein. Sollte er seit dem 1. Januar 1964 - dem maßgeblichen Stichtag für die Zahlung des Berufsschadensausgleichs - aus der derzeitigen Tätigkeit einen Minderverdienst im Vergleich zu dem Verdienst eines Flugzeugführers haben, so sei dafür nicht die Schädigungsfolge die wesentliche Ursache. Nach den Auskünften der Vereinigten Flugtechnischen Werke sei es unwahrscheinlich, daß der Kläger eine Stellung als Werkpilot oder in einer ähnlichen Position gefunden hätte. Die geringe Zahl derartiger Stellungen und die große Anzahl von Bewerbern ließen die Chancen einer Einstellung äußerst gering erscheinen. Zwar wären die Chancen des Klägers, bei der L angestellt zu werden, aussichtsreicher gewesen, weil er schon vor dem Kriege bei der D L als Zivilflieger angestellt gewesen sei. Hierzu brauche aber nicht abschließend Stellung genommen zu werden, weil dem Kläger, selbst wenn er nicht krank gewesen wäre, aus einem anderen Grund die Einstellung versagt worden wäre. Seine Flugzeugführerlizenz wäre ihm nämlich als Folge seiner Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe von einem Jahr widerrufen worden.

Dies ergebe sich aus der Verordnung zur Änderung der Verordnung über den Luftverkehr und der Prüfungsordnung für Luftfahrer vom 21. Juni 1955. Danach sei eine Erlaubnis zu entziehen, wenn sich Tatsachen dafür ergeben, daß die Inhaber für eine entsprechende Tätigkeit ungeeignet seien; solche Tatsachen seien - außer körperlicher Untauglichkeit - auch solche, die den Antragsteller als ungeeignet erscheinen ließen, insbesondere "Trunksucht, Entmündigung, Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte und Vorstrafen wegen Verbrechens" Entsprechende Vorschriften seien auch in der Luftverkehrszulassungsordnung vom 19. Juni 1964 (BGBl I 370) enthalten. Mit Recht verweise daher das Luftfahrt-Bundesamt in seiner Auskunft vom 2. Februar 1968 darauf, daß mit der Verhängung einer Zuchthausstrafe zwar der automatische Verlust der Erlaubnis für Luftfahrtpersonal nicht verbunden sei, daß aber eine derartige Strafe erheblich sei und zum Widerruf habe führen müssen. Auf die Art der Straftat komme es hierbei nicht an. Jedenfalls sei die Straftat, die zur Verurteilung des Klägers geführt habe, derart, daß der Kläger ungeeignet i.S. der gesetzlichen Bestimmungen des Luftverkehrsrechts sei Der Einwand des Klägers, es wäre zu der Straftat nicht gekommen, wenn er zur damaligen Zeit als Flugzeugführer hätte tätig sein können, überzeuge nicht, weil die Art der Straftat keinerlei Beziehungen zu irgendeiner beruflichen Tätigkeit erkennen lasse. Das Strafverfahren mache jedenfalls erhebliche Charaktermängel des Klägers deutlich. Wenn der Kläger ferner geltend mache, daß das Strafverfahren unberücksichtigt bleiben müsse, weil er die Stellung eines Flugzeugführers ohnehin nicht innegehabt und daher auch nicht habe verlieren können, so übersehe er, daß bei der Prüfung, ob einem Beschädigten Berufsschadensausgleich zustehe, von einem hypothetischen Geschehensablauf ausgegangen werden müsse.

Damit könne der Beruf des Flugzeugführers für einen Berufsschadensausgleich nicht in Betracht kommen. Von einer günstigeren beruflichen Stellung, als sie der Kläger in der Zeit vom 1. Januar 1964 an tatsächlich innehabe, könne nach den Lebensverhältnissen des Klägers, seinen Kenntnissen, Fähigkeiten und dem betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen nicht ausgegangen werden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat gegen dieses ihm am 1. Juli 1970 zugestellte Urteil am 17. Juli 1970 Revision eingelegt und diese am 14. August 1970 begründet. Er beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 1966 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 1967 sowie die Urteile des SG Braunschweig vom 11. März 1969 und des LSG Niedersachsen vom 4. Juni 1970 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, dem Kläger Berufsschadensausgleich gemäß § 30 Abs. 3 und 4 BVG zu zahlen und als Durchschnittseinkommen den durchschnittlichen Bruttomonatsverdienst eines technischen Angestellten aller Wirtschaftsbereiche zusammen (Leistungsgruppe II) zugrunde zu legen, sowie dem Beklagten die dem Kläger in allen Instanzen entstandenen außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.

In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger eine Verletzung des § 30 Abs. 3 und 4 BVG durch das LSG und bringt hierzu insbesondere unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. März 1970 (BSG 31, 74) vor, daß seine Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe im Rahmen der Prüfung, ob er durch die anerkannten Schädigungsfolgen den Beruf des Flugzeugführers nicht mehr ausüben könne, vom LSG zu Unrecht berücksichtigt worden sei. Da er bereits vor dieser Verurteilung nicht mehr in der Lage gewesen wäre, den Beruf eines Flugzeugführers zu ergreifen, müßten andere - später eingetretene schädigungsunabhängige - Ereignisse außer Betracht bleiben. Die vom LSG getroffenen Feststellungen ergäben aber, daß er bereits allein durch die anerkannten Schädigungsfolgen außerstande sei, den Beruf eines Flugzeugführers zu ergreifen. Im übrigen sei nicht vom 1. Januar 1964 als maßgeblichem Beurteilungszeitpunkt auszugehen, sondern von dem Zeitpunkt, von dem ab der Kläger durch die Schädigungsfolgen gehindert gewesen sei, Flugzeugführer zu werden; dieser Zeitpunkt liege aber vor seiner strafrechtlichen Verurteilung.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsätze vom 6. und 7. Juni 1972).

II

Die statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und zulässige Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Kläger keinen Anspruch auf Berufsschadensausgleich gemäß § 30 Abs. 3 und 4 BVG hat.

Nach dieser Vorschrift erhält - nach Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG - einen Berufsschadensausgleich in bestimmter Höhe, wer als Schwerbeschädigter "durch die Schädigungsfolgen" beruflich insoweit besonders betroffen ist, als er einen Einkommensverlust von monatlich mindestens 75.- DM hat (§ 30 Abs. 3 idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 21. Februar 1964 - BGBl 85 - 2. NOG -), bzw. derjenige Schwerbeschädigte, dessen Erwerbseinkommen "durch die Schädigungsfolgen" gemindert ist (Einkommensverlust) - § 30 Abs. 3 BVG idF des Dritten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 20. Januar 1967 - BGBl I 141 - 3. NOG -. Nach § 30 Abs. 4 BVG idF des 2. und 3. NOG ist Einkommensverlust der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen ... zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte "ohne die Schädigung" nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte.

Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 16. September 1970 (BSG 32, 1 ff) sowohl für den Witwenschadensausgleich als auch für den Berufsschadensausgleich des Beschädigten ausführlich dargelegt hat, muß der durch diese Versorgungsleistungen auszugleichende Schaden in der Zeit bestehen, für die der Ausgleich begehrt wird. Das bedeutet, daß der Einkommensverlust des Beschädigten nur im Unterschied zwischen dem tatsächlichen Einkommen und einem angenommenen (fiktiven) Einkommen besteht, welches der Beschädigte "ohne die Schädigungsfolgen" in derselben Zeit hätte. Das Durchschnitts- oder Vergleichseinkommen i.S. des § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG ist demnach der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe - dem Beruf - zu entnehmen, dem der Beschädigte in der Zeit, für die er die Leistung begehrt, "ohne die Schädigung" angehört hätte. Dieser Anknüpfungspunkt, nämlich der berufliche Schaden in der Zeit, in der die Leistung nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG gewährt wird, ergibt sich schon aus der Fassung des Gesetzes, wonach ein Unterschiedsbetrag zu ermitteln ist, bei dem einerseits das "derzeitige Bruttoeinkommen", andererseits das höhere Durchschnittseinkommen in dem Beruf, dem der Beschädigte "ohne die Schädigung" angehört hätte, gegenüberzustellen sind. Diese letztgenannte Berufsstellung kann vernünftigerweise nicht diejenige sein, die der Schwerbeschädigte vor der Zeit, für die er den Berufsschadensausgleich begehrt, durch andere Umstände als durch Schädigungen i.S. des BVG verloren hatte, sondern nur diejenige Berufsstellung, die er zur selben Zeit ohne die Schädigung inne hätte. Für den vorliegenden Fall ergibt sich daraus, daß der Kläger in dem Zeitraum vom 1. Januar 1964 an durch "die Schädigungsfolgen" einen Einkommensverlust erlitten haben muß, wobei sich das zur Ermittlung des Einkommensverlustes dem derzeitigen Bruttoeinkommen (zuzüglich der Ausgleichsrente) gegenüberzustellende höhere Durchschnittseinkommen (Vergleichseinkommen) nach derjenigen Berufsstellung bemißt, die er seit dem 1. Januar 1964 "ohne die Schädigung" nach seinen Lebensverhältnissen ... einnehmen würde. Wenn sich der Kläger bei seiner anderweitigen Auffassung auf das Urteil des 9. Senats des BSG vom 17. März 1970 (BSG 31, 74) beruft, so ist er darauf zu verweisen, daß dieser Senat die von ihm in jenem Urteil vertretene Rechtsauffassung nunmehr in seinem Urteil vom 6. Juli 1972 (9 RV 668/71) aufgegeben und sich der oben zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 32, 1) angeschlossen hat. Es kommt also für den Anspruch auf Berufsschadensausgleich nicht etwa nur darauf an, ob der Schwerbeschädigte "einmal in der Vergangenheit", also vor derjenigen Zeit, für die er den Berufsschadensausgleich begehrt, durch die Schädigungsfolgen einen wirtschaftlichen Schaden erlitten hat ohne Rücksicht darauf, ob dieser Schaden später - also in der Zeit des Leistungsbegehrens - auch durch andere (schädigungsunabhängige) Umstände eingetreten ist; vielmehr ist das Lebensschicksal des Schwerbeschädigten bis zu der Zeit, für die der Berufsschadensausgleich verlangt wird, "historisch nachzuzeichnen", um festzustellen, ob die Berufsstellung, aus der sich das für die Ermittlung des Einkommensverlustes maßgebende höhere Durchschnittseinkommen (Vergleichseinkommen) errechnet, "ohne die Schädigung" erreicht worden wäre. Hierzu hat das LSG - vom Kläger unangegriffen und für den Senat daher gemäß § 163 SGG bindend - festgestellt, daß der Kläger zwar wegen seiner Schädigungsfolgen den Beruf eines Flugzeugführers nicht mehr ausüben kann, daß er jedoch diesen Beruf für die Zeit vom 1. Januar 1964 an, für die er den Berufsschadensausgleich verlangt, wegen seiner strafrechtlichen Verurteilung (auch ohne die Schädigungsfolgen) nicht mehr hätte ausüben können. Daraus folgt aber, wie das LSG zutreffend erkannt hat, daß im Falle des Klägers ein Einkommensverlust i.S. des § 30 Abs. 4 Satz 1 BVG nicht ermittelt werden kann. Da nach den weiteren, für den Senat ebenfalls bindenden Feststellungen des LSG von einer günstigeren beruflichen Stellung, als sie der Kläger in der Zeit seit dem 1. Januar 1964 tatsächlich innehat, nicht ausgegangen werden kann und er in seinem derzeitigen Beruf durch die Schädigungsfolgen keinen Einkommensverlust erleidet, steht dem Kläger ein Berufsschadensausgleich nicht zu.

Die Revision des Klägers war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650638

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