Leitsatz (amtlich)
Ein schon leistungsbehinderter Versicherter wird nicht dadurch berufsunfähig, daß es an seinem Wohnort keine für ihn geeigneten Arbeitsgelegenheiten gibt und sich ein Wohnortwechsel - etwa wegen erhöhten Mietaufwands - für ihn nicht lohnt. Ob ein Wohnortwechsel nicht erwartet werden kann, ist allein nach den Tatbestandsmerkmalen des RVO § 1246 Abs 2 zu beurteilen; der darin verwendete Begriff der Zumutbarkeit ist im Zusammenhang mit den beruflichen Tätigkeiten, auf die verwiesen werden kann, bedeutsam und erlaubt nicht allgemein eine Berücksichtigung von Härtefällen.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Februar 1962 und des Sozialgerichts Stade vom 20. Oktober 1960 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beklagte lehnt es ab, der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren; sie erachtet die Klägerin nicht für berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Um diese Frage wird der Rechtsstreit geführt.
Die - im Jahre 1907 geborene - Klägerin stammt aus Schlesien. Sie hat vor 1945 als Hausgehilfin, Kindermädchen, Pflegerin und Arbeiterin der Rentenversicherung unterliegende Tätigkeiten ausgeübt. Eine besondere Berufsausbildung hat sie nicht erfahren. - Ihr Leistungsvermögen ist im wesentlichen infolge einer Verbiegung der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule eingeschränkt. Die Funktion der Wirbelsäule wird aber trotz einer starken Fehlstellung, die sich in früher Jugend entwickelte, als relativ gut bezeichnet. Da im übrigen der Gesundheitszustand der Klägerin, vor allem der Befund der inneren Organe, nicht als besonders beeinträchtigend angesehen wird, halten die ärztlichen Sachverständigen die Klägerin für fähig, ganztägig und regelmäßig - überwiegend sitzenden - Beschäftigungen in Gewerbe und Hauswirtschaft nachzugehen; der Weg zu und von der Arbeitsstätte soll nicht zu lang sein.
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben der gegen den ablehnenden Bescheid erhobenen Klage stattgegeben (Urteil des SG Stade vom 20. Oktober 1960; Urteil des LSG Niedersachsen vom 13. Februar 1962), das Berufungsgericht vornehmlich aus folgenden Gründen: Die Klägerin vermöge zwar noch einem Lohnerwerb als Packerin, Sortiererin, Küchenhilfe nachzugehen; gemessen an den Beschäftigungen, die die Grundlage ihres Versicherungsverhältnisses gewesen seien, könne sie auf jegliche Art von Tätigkeit verwiesen werden. Trotzdem müsse sie als berufsunfähig angesehen werden. Dafür sei bestimmend, daß sie in einem kleinen Ort von rd. 1300 Einwohnern in ländlicher Gegend wohne, in der es für sie keine ihren Körperkräften entsprechende Arbeitsgelegenheit gebe. "Pendeln" könne sie nicht. Die Verkehrsverbindungen seien ungünstig. Die Klägerin wohne 5 km von der nächsten Eisenbahnstation entfernt und habe dann noch, um die nächsten größeren Orte - wie Stade oder Cuxhaven - zu erreichen, Fahrzeiten von 35 bis 45 Minuten. Ohne längeren Anmarschweg vermöge sie keine öffentlichen Verkehrsmittel zu erreichen. Zu Fuß schaffe sie die Wege nicht; radfahren könne sie nicht und ein Bus zur Eisenbahnstation verkehre nur zweimal wöchentlich. - Einen Umzug in einen Ort mit geeigneten Arbeitsmöglichkeiten glaubt das LSG der Klägerin nicht zumuten zu können. Es sei zwar an einen Umzug nach Cuxhaven zu denken, zumal ihr Ehemann dorthin täglich zur Arbeit fahre. Es müsse aber berücksichtigt werden, daß die Eheleute für ihre jetzige Zwei-Zimmer-Wohnung eine Miete von nur 15,- DM monatlich zahlten. In Cuxhaven müßten die Eheleute ein Mehrfaches an Miete aufwenden. Hinzu komme die Ungewissheit des Arbeitsschicksals, dem sowohl die Klägerin als auch ihr Mann ausgesetzt seien. Es werde der Klägerin wegen ihres verbrauchten Aussehens und wegen ihrer "redseligen Klagsamkeit" ohnehin schwerfallen, einen Arbeitgeber zu finden und zu behalten. Ähnlich lägen die Verhältnisse bei ihrem Mann, der wegen der Folgen eines überstandenen Tuberkuloseleidens befürchten müsse, bei einer Konjunkturschwankung als einer der ersten seinen Arbeitsplatz zu verlieren.
Die Beklagte hat das Berufungsurteil mit der - vom LSG nicht zugelassenen - Revision angefochten. Sie bekämpft diese Entscheidung aus verfahrensrechtlichen und sachlich-rechtlichen Gründen.
Sie beantragt,
das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Stade vom 20. Oktober 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen oder das Rechtsmittel zurückzuweisen;
hilfsweise,
das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Revision ist statthaft, weil das Verfahren des LSG an einem von der Beklagten zu Recht geltend gemachten wesentlichen Verfahrensmangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Beklagte sieht eine Aufklärungslücke (Verletzung des § 103 SGG) darin, daß das Berufungsgericht die Arbeitsmarktlage lediglich - und dazu noch unvollständig - für den Wohnort der Klägerin und außerdem für die entfernteren Orte Cuxhaven und Stade geprüft habe, daß es aber nicht untersucht habe, ob in der näheren Umgebung des Wohnortes geeignete Arbeitsplätze vorhanden seien.
Der Beklagten ist zuzugeben, daß sich vom Rechtsstandpunkt des Berufungsrichters aus Aufklärungspflichten in dieser Richtung aufdrängten. Über die Autobuslinien am Wohnort der Klägerin ist bloß mitgeteilt, daß zwischen der Ortsmitte und der Bahnstation ein Bus zweimal wöchentlich verkehre. Dagegen verlautet nichts über das Bestehen oder Nichtbestehen von Verkehrsverbindungen zu benachbarten Ortschaften. Unzureichend ist auch das Bild, das der Berufungsrichter von der Arbeitsmarktsituation am Wohnort selbst vermittelt. Er stützt sich auf eine Auskunft der Gemeindeverwaltung, nach der es in der Gemeinde keine Gelegenheiten zu leichter Berufsarbeit für Frauen gebe.
Dieser summarischen Auskunft mißt die Beklagte einen geringen Beweiswert bei. Zu Recht, denn man vermißt ein Eingehen auf die Einzelheiten. Entspricht es doch der Erfahrung, daß auch in kleinen Gemeinden Arbeiten für körperbehinderte Frauen in Haus und Hof, in Gastwirtschaften, Küchen- und Kantinenbetrieben, Geflügelzüchtereien und landwirtschaftlichen Unternehmungen anfallen. Die Auskunft der Gemeindeverwaltung läßt zudem den Zweifel aufkommen, ob sie sich über das Vorkommen passender Arbeitsgelegenheiten überhaupt oder nur über das augenblicksbedingte Angebot offener Stellen verhielt. Auf letzteres kam es aber auch nach Ansicht des Berufungsgerichts nicht an. Infolgedessen wäre der Sinn der Auskunft genauer zu ermitteln gewesen. Der Berufungsrichter hätte konkretere Untersuchungen über die Verhältnisse des örtlichen Arbeitsmarktes anstellen und dabei erwägen müssen, ob nicht eine vollständige und anschaulichere Unverrichtung von dem zuständigen Arbeitsamt, Versicherungsamt, von den ortsnahen Krankenkassen, der Industrie- und Handelskammer und der Landwirtschaftskammer zu erwarten gewesen wären.
Es ist nicht auszuschließen, daß eine weitere Sacherforschung zusätzliche, für die Beklagte günstigere Ergebnisse gebracht hätte. Die Rüge des Aufklärungsmangels greift mithin durch.
Die Revision ist infolgedessen statthaft und auch zulässig. Sie ist auch begründet; dies aber nicht allein aus den angeführten verfahrensrechtlichen Gründen. Der Senat vermag vielmehr auch der sachlich-rechtlichen Auffassung des Berufungsgerichts nicht beizupflichten, Er kann nach Aufhebung des Berufungsurteils in der spruchreifen Sache selbst entscheiden.
Bei der Frage, ob die Klägerin berufsunfähig sei, geht der Berufungsrichter auf Lebensumstände ein, die rechtlich unerheblich sind. Die Rente wegen Berufsunfähigkeit darf einem Versicherten nicht deshalb gewährt werden, weil sich ein Wohnortwechsel wirtschaftlich für ihn nicht lohnt und er deshalb einen Umzug an einen Ort mit günstigeren Arbeitsgelegenheiten ablehnt.
Die Überlegung, ob sich ein Versicherter am Ort möglicher Beschäftigungen Wohnraum zu annehmbaren Bedingungen beschaffen kann, gehört nicht in die Prüfung des Tatbestandes der Berufsunfähigkeit. Unter diese Vorschrift ist auch nicht die Erwägung zu bringen, ob es wirtschaftlich angebracht ist, zu den sich bietenden Gegebenheiten zu arbeiten. Deshalb war es von dem LSG verfehlt, Berechnungen darüber anzustellen, ob das Mehr an Familieneinkommen infolge einer Erwerbsarbeit der Klägerin zu einem größeren Teil durch eine höhere Mietlast wieder aufgezehrt werden würde. Das sind Umstände, die zur Lebensplanung des einzelnen gehören, wohl auch die Aufgabenbereiche der Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe berühren, aber keine Ungewißheiten, für die die Rentenversicherung einzustehen hat. Das LSG führt denn auch kein einziges Merkmal des Tatbestandes der Berufsunfähigkeit an, aus dem sich seine Auffassung rechtfertigen ließe. Es hat im besonderen nicht dargetan, daß die Klägerin wegen ihres Gebrechens oder infolge Krankheit außerstande sei, an einen anderen Ort zu ziehen (vgl. BSG SozR RVO § 1246 Bl. Aa 12 Nr. 21). Mit solchen Gründen, wie sie das Berufungsgericht erörtert, würde der geschlossene Kreis von Ursachen, auf denen die Berufsunfähigkeit eines Versicherten beruhen kann, gesprengt. Das ist unzulässig. Das Gesetz bezeichnet als Ursachen der Berufsunfähigkeit nur Krankheiten, Gebrechen oder Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte; wirtschaftliche Umstände gehören nicht dazu.
Solche Umstände können auch nicht bei der Prüfung der Zumutbarkeit (§ 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO) beachtet werden. Dieser Begriff hat zwar einen gewissen Eigengehalt (BSG 9, 254; 17, 191, 195); er ist aber nicht absolut und losgelöst von dem Zusammenhang, in dem er in § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO benutzt wird. Ihm kommt bei der Rechtsanwendung nicht schlechthin die Funktion einer Klausel zum Ausgleich unbillig empfundener Härten zu. Durch eine allzu starke Verselbständigung dieses Begriffs müßte der Tatbestand der Berufsunfähigkeit seine notwendige Bestimmtheit verlieren. Die Beurteilung von Berufsfähigkeit und Berufsunfähigkeit wäre weitgehend subjektiven Wertungen ausgesetzt und der Rechtskontrolle entzogen. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale dienten nur noch als Anhalt. In der Verbindung, in der das Gesetz von der Zumutbarkeit spricht, betrifft dieser Begriff die soziale Einstufung des Versicherten und verlangt die Qualifizierung einer angesonnenen Tätigkeit nach einer bestimmten, im Gesetz festgelegten oder doch umschriebenen Richtschnur. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es jedoch nicht um die Bewertung einer bestimmten Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt des "sozialen Abstiegs", sondern darum, ob von einer Versicherten eine Erwerbsarbeit überhaupt erwartet werden kann. Es mag Fälle geben, in denen ein Berufszweig örtlich eng beschränkt ist oder in denen sich der Ort der Beschäftigung auf die Eigenart der Tätigkeit auswirkt. Von derartigen Besonderheiten mag der Bereich zumutbarer Tätigkeiten mitbestimmt werden. Der vorliegende Sachverhalt läßt aber solche Sonderumstände nicht erkennen.
Die Klägerin hat nach dem vorher Gesagten keinen Rentenanspruch gegen die Beklagte. Die Revision muß daher Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen