Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Sachaufklärungspflicht. Gebot eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens. Überraschungsentscheidung

 

Orientierungssatz

Hat sich der Kläger ausdrücklich mit einer neurologischen Untersuchung einverstanden erklärt und lediglich mitgeteilt, er könne aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend nicht die Klinik aufsuchen, so darf das LSG ohne diese notwendige Beweiserhebung nicht prozeßerledigend entscheiden, denn der Kläger war bereit in gebotenem Umfang an der erforderlichen Untersuchung mitzuwirken (§ 103 S 1 Halbs 2 SGG). Es hat das Gebot eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens, das in vielerlei Hinsicht eine einseitige Benachteiligung eines Prozeßbeteiligten verbietet (vgl BVerfG 1979-11-13 1 BVR 1022/78 = BVerfGE 52, 380, 389 f), durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung verletzt (vgl BVerwG 1977-07-29 IV C 21/77 = Buchholz 310 § 108 VwGO Nr 98). Bei Zweifeln an der Mitwirkungsbereitschaft des Klägers hätte es sich aufdrängen müssen, dem Kläger dies bekanntzugeben und ihn zur Klarstellung nach § 106 Abs 1 SGG oder in der mündlichen Verhandlung, die vor allem zur Erörterung bestimmt war, nach § 112 Abs 2 S 2 SGG zu befragen.

 

Normenkette

SGG § 103 S 1 Halbs 2 Fassung: 1974-07-30, § 106 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 112 Abs 2 S 2 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 04.06.1980; Aktenzeichen L 11 V 157/77)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 13.10.1977; Aktenzeichen S 30 V 109/72)

 

Tatbestand

Der Kläger bezieht Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH; ua sind Schädigungsfolgen im Brust- und Armbereich anerkannt (Bescheid vom 28. März 1955). Seinen Antrag auf Neufeststellung des Versorgungsanspruches lehnte die Verwaltung ab (Bescheid vom 22. Juni 1971, Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 1972). Im Gerichtsverfahren begehrte der Kläger eine Erwerbsunfähigkeits-Rente ua wegen einer Sensibilitätsstörung im Bereich der Außenseite des linken Beines, wegen Verkrümmungen der Wirbelsäule und wegen Verlustes des Deltamuskels. In einem für das Sozialgericht (SG) erstatteten Gutachten vom 11. Dezember 1975 äußerte Professor Dr S, B, den Verdacht auf eine verwundungsbedingte Wurzelreizschädigung mit Auswirkungen am linken Bein und erklärte eine Röntgenkontrolle der unteren Wirbelsäulenabschnitte für erforderlich. Das SG wies die Klage ab (Urteil vom 13. Oktober 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat ohne weitere Beweiserhebung die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 4. Juni 1980): Eine wesentliche Verschlimmerung, die eine neue Entscheidung über den Versorgungsanspruch nach § 62 Bundesversorgungsgesetz (BVG) gebiete, lasse sich nicht feststellen. Zwar sei insbesondere noch aufzuklären, ob die schädigungsbedingten Schmerzen im Narbenbereich des Oberkörpers und der Hüfte sowie die Atembeschwerden sich verstärkt hätten und ob die zusätzlich geltend gemachten Schädigungsfolgen beständen. Die dafür erforderlichen Untersuchungen seien aber nicht möglich. Der Kläger habe sich den angeordneten Untersuchungen in der Neurologischen Universitäts-Klinik in H, die für den 18. Oktober, 1., 8. und 29. November 1979 vorgesehen gewesen seien, ohne ausreichende Entschuldigung nicht unterzogen. Die vorhandenen Beweisunterlagen reichten nicht aus, um über den Anspruch des Klägers positiv entscheiden zu können.

Der Kläger hat die - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene - Revision eingelegt. Er rügt als wesentliche Verfahrensmängel eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht in mehrfacher Hinsicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und der Pflicht zur Aufklärung darüber, ob der Kläger ernsthaft an der angeordneten Untersuchung habe teilnehmen wollen (§ 106 Abs 1 SGG). Ferner sieht er das Gebot eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens als verletzt an und macht ein Überschreiten der Grenzen der Überzeugungsbildung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) geltend.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache

zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung

an das LSG zurückzuverweisen.

Nach Ablauf der Begründungsfrist hat er beantragt, die Sache an einen anderen Senat des LSG als den 11. zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das angefochtene Berufungsurteil ist aufzuheben; der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das Berufungsurteil beruht auf verschiedenen vom Kläger gerügten Verfahrensmängeln. Für eine Sachentscheidung fehlt es infolgedessen an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen.

Der Kläger begehrt die Neufeststellung eines Versorgungsanspruchs nach einer höheren MdE als 70 vH wegen einer nachträglichen Änderung der Verhältnisse, die für den Bescheid vom 28. März 1955 maßgebend waren (§ 62 Abs 1 BVG) verschlimmert haben; zum anderen sollen weitere hinzugekommen sein. Um die gesundheitlichen Voraussetzungen eines solchen Anspruches prüfen zu können, hätte, auch nach der Auffassung des LSG, aufgrund einer Untersuchung des Klägers ein neurologisches Gutachten eingeholt werden müssen. Diese Sachaufklärung von Amts wegen war nach dem medizinischen Erkenntnisstand geboten (§ 103 SGG). Wie Prof Dr S dargelegt hat, kommt eine verwundungsbedingte Wurzelreizschädigung mit Auswirkungen im Beinbereich in Betracht. Darauf beruht auch die entsprechende Beweisanordnung vom 3. August 1979, die auf einen Beschluß des Berufungsgerichts vom 2. Mai 1979 zurückging. Sie wurde aber nicht ausgeführt.

Bei diesem Verfahrensstand hätte das LSG ohne diese notwendige Beweiserhebung nicht prozeßerledigend entscheiden dürfen. Der Kläger war in Wirklichkeit bereit, im gebotenen Umfang an der erforderlichen Untersuchung mitzuwirken (§ 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG). Das Berufungsgericht durfte nicht, ohne ihn erneut zu befragen, das Gegenteil annehmen. Es hat das Gebot eines fairen rechtsstaatlichen Verfahrens, das in vielerlei Hinsicht eine einseitige Benachteiligung eines Prozeßbeteiligten verbietet (BVerfGE 49, 220, 225; 52, 131, 143 ff; 52, 380, 389 f), durch eine unzulässige Überraschungsentscheidung verletzt (ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats; BVerfGE 34, 1, 8; RGZ 103, 95, 96; 169, 353, 356; BAG AP § 4 TVG Ausschlußfristen Nr 51; BVerwGE 36, 264, 266 f; BVerwG Buchholz 310 § 108 VwGO Nr 98). Der Kläger hatte sich ausdrücklich mit der neurologischen Untersuchung einverstanden erklärt und lediglich mitgeteilt, er könne aus gesundheitlichen Gründen vorübergehend im Winter 1979/80 nicht in die H-Klinik reisen. Die Vorladung zu Terminen in dieser Zeit hat das LSG als nicht befolgt gewertet. Darauf kam es aber allein nicht an. Nachdem sich der Kläger im Frühjahr 1980 von seiner Reise zurückgemeldet hatte, hat das Berufungsgericht ohne erkennbar triftigen Grund, möglicherweise zu seinem Nachteil, endgültig von der Sachaufklärung abgesehen. Falls es Zweifel an der Mitwirkungsbereitschaft des Klägers gehabt hätte, wofür es in den Urteilsgründen keinerlei konkrete Anhaltspunkte mitgeteilt hat, hätte es sich aufdrängen müssen, dem Kläger dies bekanntzugeben und ihn zur Klarstellung nach § 106 Abs 1 SGG oder in der mündlichen Verhandlung, die vor allem zur Erörterung bestimmt war, nach § 112 Abs 2 Satz 2 SGG zu befragen. Da dies unterblieb, konnte der Kläger bis zum Ende der Verhandlung vor dem Senat darauf vertrauen, das Gericht gehe von seiner wiederholt erklärten Bereitschaft, an der Sachaufklärung mitzuwirken, weiterhin aus. Der Kläger durfte demnach erwarten, das Gericht werde nun endlich das neurologische Gutachten entsprechend der bereits ergangenen Beweisanordnung einholen.

Das LSG hat nunmehr die unterlassene Beweiserhebung nachzuholen. Es sollte auch seine Beweisanordnung überprüfen und sie entsprechend den Anregungen des Klägers ergänzen, damit der gesamte Beschwerdekomplex, der in die Anerkennung der Schädigungsfolgen einbezogen werden soll, in einem einzigen Aufklärungsvorgang erhellt wird. Außerdem sind für die noch erforderliche Begutachtung alle vorhandenen Röntgenaufnahmen über den Wirbelsäulen- und den Beinbereich beizuziehen, damit sie vom Sachverständigen verwertet werden können.

Durch die nunmehr nachzuholende neurologische Begutachtung könnte sich die vom Kläger beantragte Ladung der Sachverständigen Prof Dr S und Dr R zur Erläuterung ihrer gegenteiligen Standpunkte erübrigen (§ 118 Abs 1 SGG, § 411 Abs 3 Zivilprozeßordnung -ZPO-; BSG SozR Nr 160 zu § 162 SGG); das LSG hatte diese Maßnahme unterlassen.

Das Berufungsgericht hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

Der Rechtsstreit könnte ausnahmsweise an einen anderen als den bisher zuständig gewesenen Senat des LSG zurückverwiesen werden (§ 202 SGG iVm § 565 Abs 1 Satz 2 ZPO; Urteil des erkennenden Senats vom 24. März 1976 - 9 RV 92/74 - = Breithaupt 1976, 803). Der Senat hat indes eine solche Art der Zurückverweisung nicht für geboten gehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652054

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