Leitsatz (amtlich)
Eine in Mexiko erworbene Bazillenruhr ist als eine Tropenkrankheit iS des RVO § 551 Abs 1 iVm 6. BKVO Anl Nr 44 anzusehen.
Leitsatz (redaktionell)
Für die Annahme einer Tropenkrankheit ist ausreichend, daß es sich um eine den Tropen bzw Subtropen vorwiegend eigentümliche Krankheit handelt, die infolge der besonderen klimatischen und anderen Verhältnisse in den genannten Gebieten bevorzugt bzw besonders häufig auftritt.
Erforderlich und genügend für die Anerkennung als Tropenkrankheit ist lediglich, daß die vom Gesetz, der Rechtsprechung und dem Schrifttum aufgestellten Voraussetzungen - wie hier - in dem Sinn erfüllt sind, daß nach dem gesetzgeberischen Zweck des RVO § 551 Abs 1 und der 3. BKVO Anl 1 Nr 44 Fassung: 1961-04-28 unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen eine "Tropenkrankheit" anzunehmen ist.
Normenkette
RVO § 551 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; BKVO 6 Anl 1 Nr. 44 Fassung: 1961-04-28
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 14. November 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit wird darum geführt, ob die Bazillenruhr, die sich der Kläger auf einem Montageeinsatz in Mexiko im Jahre 1964 zugezogen hat, eine Tropenkrankheit i. S. der Nr. 44 der Anlage zur Sechsten Berufskrankheitenverordnung (6. BKVO) ist.
Der am 11. Juli 1932 geborene Kläger ist Elektromaschinenbauer. Seit August 1954 ist er bei der Firma S - S - Werke AG Montage-Abteilurg, Außenstelle B, beschäftigt. Am 10. Mai 1964 wurde er von seiner Firma auf Montage in die Dieselzentrale D in Mexiko geschickt. Dort erkrankte der Kläger im Juni - wie schon bei früheren Montageeinsätzen in Mexiko in den Jahren 1958 bis 1960 - an Durchfällen. Im Juli 1964 trat eine Bläschenbildung im Mund auf. Nachdem diese Beschwerden durch Medikamente zurückgegangen waren, bekam der Kläger Ende Oktober 1964 sehr starken Durchfall, verbunden mit Juckreiz und Eiterabsonderung aus der Harnröhre. Anfang November traten an den Gelenken der Hände, Finger, Füße sowie der Knien Schmerzen und Schwellungen auf. Wegen dieser Beschwerden wurde der Kläger, der seit dem 30. November 1964 arbeitsunfähig war, nach seiner Rückkehr nach Deutschland am 10. Dezember 1964 in das R-Krankenhaus in B stationär aufgenommen. Der ihn behandelnde Arzt, Prof. Dr. H. Chefarzt der II. Medizinischen (Infektions-)Abteilung dieses Krankenhauses, erstattete am 1. März 1965 eine ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit. Als solche wurde gemäß § 551 Abs. 2 RVO eine beim Kläger aufgetretene Reiter'sche Erkrankung bezeichnet.
Auf Veranlassung der Beklagten erstellte der Durchgangsarzt für Berufskrankheiten, B, Berlin, ein Gutachten, in dem er zu dem Ergebnis kam, der Kläger leide an einer Reiter'schen Erkrankung, die sich nach einer in Mexiko zugezogenen Bazillenruhr entwickelt habe. Die Bazillenruhr sei keine Berufskrankheit i. S. der 6. BKVO. Zur Klärung der Frage, ob eine Entschädigung nach § 551 (Abs. 2) RVO in Betracht komme, empfahl der Arzt wegen der letztlich noch ungeklärten Entstehung der Reiter'schen Krankheit, ein Gutachten eines Rheumaspezialisten einzuholen. Daraufhin schaltete die Beklagte Prof. Dr. H ein, der im Gutachten vom 20. November 1965 zu dem Ergebnis kam, daß der Kläger an einer Reiter'schen Erkrankung als Folge einer sich in Mexiko zugezogenen Ruhr leide. Zwar sei der Erreger der Ruhr nicht festgestellt worden; jedoch sprächen der Verlauf der Krankheit, die rasche therapeutische Beeinflußbarkeit der Durchfälle sowie der zeitliche Zusammenhang mit der Reiter'schen Erkrankung dafür, daß der Kläger eine Bazillenruhr und nicht eine Amöbenruhr durchgemacht habe. Die Bazillenruhr falle als kosmopolitische Erkrankung "an sich" nicht unter die nach der Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO entschädigungspflichtigen Tropenkrankheiten. Beim Kläger lägen jedoch die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO vor, da er ohne seinen Einsatz in den Tropen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht an der in Mexiko ungleich häufiger auftretenden Bazillenruhr und an deren typischer Komplikation, nämlich der Reiter'schen Krankheit, erkrankt wäre. Die gleiche Ansicht vertrat der Chefarzt der Rheumaklinik W, Dr. H, im Gutachten vom 2. August 1966, der insbesondere auf den nicht vorhersehbaren Verlauf der Reiter'schen Erkrankung hinwies, die bis zur völligen Invalidität führen könne. Eine sichere Beurteilung der beim Kläger vorliegenden Schwere der Krankheit sei derzeit wegen des Einflusses antirheumatischer Mittel nicht möglich.
Nachdem sich der Landesgewerbearzt in Berlin diesem Gutachten bezüglich der Anwendbarkeit des § 551 Abs. 2 RVO nicht angeschlossen hatte, weil es sich bei der Reiter'schen Erkrankung nicht um eine "neue" Erkrankung handele, lehnte die Beklagte, obwohl sich auch noch Prof. Dr. Sch am 1. Juni 1967 für die Anerkennung einer Berufskrankheit ausgesprochen hatte, mit Bescheid vom 18. Juli 1967 die Entschädigung einer Berufskrankheit nach § 551 Abs. 1 RVO in Verbindung mit Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO mit der Begründung ab, die Reiter'sche Erkrankung sei keine Tropenkrankheit. Auch lägen die Voraussetzungen des § 551 Abs. 2 RVO nicht vor, weil es sich bei dieser Krankheit um keine neue Erkrankung handele, sondern um ein schon seit Jahrzehnten bekanntes Leiden, das am häufigsten als Folge der Bazillenruhr auftrete.
Gegen den vorgenannten Bescheid hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung hat er u. a. auf die für einen Europäer ungewohnten klimatischen und unhygienischen Verhältnisse seines Aufenthalts- und Arbeitsortes in Mexiko hingewiesen.
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat Akten des SG Duisburg sowie des SG Düsseldorf beigezogen, in denen aufgrund von Gutachten des Chefarztes der Klinischen Abteilung des B N-Instituts für Schiffs- und Tropenmedizin Hamburg, Prof. Dr. H, vom 2. Februar 1962 und 14. Mai 1964, und des Facharztes für innere Medizin und Tropenkrankheiten, Prof. Dr. O. F, D, vom 28. April 1965 festgestellt worden war, eine in den tropischen bzw. warmen Ländern erworbene Bazillenruhr müsse zu den (fakultativen) Tropenkrankheiten nach Nr. 44 der 6. BKVO gezählt werden.
Durch Urteil vom 12. Dezember 1968 hat das SG den Bescheid vom 18. Juli 1967 aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, den Kläger aus Folgen der im Jahre 1964 in Mexiko zugezogenen Berufskrankheit nach Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO zu entschädigen, weil die im subtropischen Gebiet von Mexiko erworbene Bazillenruhr eine Tropenkrankheit sei. Da die Beklagte die beim Kläger vorliegende Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht festgestellt habe, sei nur eine Verurteilung zur Leistung dem Grunde nach möglich.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. In einem auf Veranlassung des Landessozialgerichts (LSG) eingeholten Gutachten vom 28. August 1970 hat der Direktor beim Bundesgesundheitsamt und Leiter des Laboratoriums für Enterobacteriaceen im R-Institut, B, Prof. Dr. H, ausgeführt, daß eine bakterielle Ruhr nur dann als Tropenkrankheit angesehen werden könne, wenn sie z. B. durch die Bakterien Shigella dysenteriae Typ 1, hervorgerufen worden sei, weil nur diese fast ausschließlich in den Tropen auftrete. Ob die Ruhr des Klägers durch diese Bakterienart oder durch die Serotypen Shigella flexneri oder Shigella sonnei , die auf der ganzen Welt verbreitet seien und "nur bei besonderen Begleitumständen" als Tropenkrankheiten anerkannt werden könnten, verursacht worden sei, lasse sich jetzt nicht mehr klären, weil seinerzeit kein kultureller Nachweis der Erreger erfolgt sei. Hinsichtlich der Bazillenruhr lägen neue Erkenntnisse i. S. von § 551 RVO nicht vor.
In einem weiteren, von Prof. Dr. H am 4. Februar 1971 erstatteten tropenmedizinischen Gutachten hat dieser die Bazillenruhr unabhängig von der Art ihres Erregers als Berufskrankheit angesehen, wenn sie während eines Tropeneinsatzes erworben worden sei. Daneben hat der Sachverständige nochmals eine Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO empfohlen, da sich bei der Reiter'schen Erkrankung insofern neue ärztliche Erkenntnisse durchgesetzt hätten, als der ursächliche Zusammenhang mit der Bazillenruhr zu bejahen sei.
Nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 14. November 1972 neben seinem Antrag auf Zurückweisung der Berufung hilfsweise einen Feststellungsantrag gestellt hatte, hat das LSG mit Urteil vom gleichen Tage das Grundurteil des SG geändert und festgestellt, daß die Reiter'sche Erkrankung des Klägers Folge einer 1964 zugezogenen Berufskrankheit Ruhr sei. Im übrigen hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Zur Begründung hat es ausgeführt, das SG habe kein Grundurteil nach § 130 SGG erlassen dürfen, da nicht feststehe, ob und in welchem Grad der Kläger durch die Reiter'sche Krankheit in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei. Eine Beweiserhebung über diese Frage habe in der Berufungsinstanz nicht durchgeführt zu werden brauchen, da der Kläger zulässigerweise seinen ursprünglichen Leistungsantrag in einen Feststellungsantrag geändert habe.
Dieser Feststellungsantrag sei begründet, weil die Reiter'sche Erkrankung, die mittelbare Folge einer vom Kläger in Mexiko bei Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit erlittenen Berufskrankheit sei. Aufgrund der Beweisaufnahme sei es - das LSG - zu der Auffassung gelangt, daß die Bazillenruhr ohne Rücksicht auf ihren Erregertyp - dieser sei beim Kläger auch nicht mehr festzustellen - zu den Tropenkrankheiten nach Nr. 44 der Anlage der zur Zeit der Erkrankung geltenden 6. BKVO zähle. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. M sowie Prof. Dr. F trete diese Ruhrart in den Tropen zwar nicht ausschließlich, jedoch ungleich häufiger als in allen anderen Ländern der Erde auf. Die in den Tropen herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen schafften besonders günstige Voraussetzungen für die Übertragung der Ruhrbazillen. Durch die sehr hohen Außentemperaturen bei großer Feuchtigkeit werde ein längeres Überleben der mit dem Stuhl ausgeschiedenen Keime ermöglicht. Der wegen der hohen Temperatur vorhandene Flüssigkeitsbedarf ziehe eine Verminderung des eine Ansteckung hemmenden Salzsäuregehaltes im Magensaft nach sich. Daneben würde durch die den Tropen eigentümliche Fliegenplage und die mangelhafte Hygiene eine rasche Verbreitung der Krankheitserreger begünstigt.
Der Annahme als Tropenkrankheit stehe nicht entgegen, daß die Bazillenruhr auch in anderen Ländern - selbst in Deutschland - vorkomme. Zwar seien nach den Merkblättern über Berufskrankheiten zu Nr. 44 der 6. BKVO als Tropenkrankheiten vorwiegend den Tropen und Subtropen eigentümliche Erkrankungen anzusehen. Die nach dieser Definition in den Merkblättern aufgezählten Krankheiten seien jedoch nur Beispiele, so daß eine Ergänzung möglich sei. Außerdem komme den Merkblättern keine Gesetzeskraft zu, so daß sie für das Gericht nicht bindend seien. Nach Wortlaut und Sinn der gesetzlichen Regelung sei der Begriff "Tropenkrankheiten" nicht auf solche Erkrankungen zu beschränken, deren Erreger in den tropischen Gebieten heimisch seien. Es komme vielmehr nur darauf an, daß sie dort vorwiegend aufträten, was für die Bazillenruhr zutreffe, die in tropischen Gebieten sehr viel häufiger vorkomme als in den gemäßigten Zonen. Das Argument, die Bazillenruhr zähle wegen ihres kosmopolitischen Vorkommens nicht zu den Tropenkrankheiten, sei nicht überzeugend, weil zu den Tropenkrankheiten zählende Krankheiten wie Malaria und Pocken ebenfalls in Europa aufträten. Die Annahme einer sogenannten "fakultativen" Tropenkrankheit sei hingegen nicht gerechtfertigt.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung vorgetragen, der Auffassung des LSG sei nicht zu folgen. Die Tatsache allein, daß die Bazillenruhr in den Tropen häufiger auftrete als in anderen Ländern, rechtfertige noch nicht ihre Anerkennung als Tropenkrankheit. Vielmehr liege der wesentliche Unterschied zwischen den Tropenkrankheiten und den kosmopolitischen oder ubiquitär auftretenden Krankheiten - zu denen auch die Bazillenruhr gehöre - darin, daß letztere nicht wie die Tropenkrankheiten an bestimmte Klimazonen gebunden seien. Zwar trete die Bazillenruhr in den gemäßigten Klimazonen seltener auf als in den Tropen. Das liege aber nicht an einer in den Tropen bestehenden größeren Verbreitung der Krankheitserreger, sondern an den dort herrschenden mangelhaften hygienischen Zuständen und schlechten Lebensverhältnissen. Der Hinweis des LSG auf das Auftreten von Pocken und Malaria in Europa gehe fehl, weil diese Krankheiten nicht originär in Europa aufträten, sondern durch Kontaktpersonen eingeschleppt würden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin sowie das Urteil des SG Berlin vom 12. Dezember 1968 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, man dürfe nicht aus dem kosmopolitischen Vorkommen der Bazillenruhr folgern, sie falle nicht unter den Begriff "Tropenkrankheiten". Vielmehr sei auf die objektive Gefährdung der Personen abzustellen, die in die Tropen geschickt und dort von Krankheiten befallen würden, die in diesen Gegenden vorwiegend anzutreffen, also dort typisch seien, ohne daß - wie hier - eine rechtzeitige Feststellung des Erregertyps erfolge.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist unbegründet.
Es kann dahingestellt bleiben, ob das Berufungsgericht zu Recht von einer zulässigen Klagänderung des Klägers in der Berufungsinstanz ausgegangen ist. Denn Revision hat nur die in der Vorinstanz unterlegene Beklagte eingelegt. Das hat aber zur Folge, daß eine etwaige Verurteilung der Beklagten zur Leistung mit dem Schlechterstellungsverbot nicht zu vereinbaren wäre (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Auflage, Stand: Januar 1974, § 123 SGG Anm. 4 mwN). Nachdem die Ruhr selbst längst abgeklungen ist, war im übrigen nur streitig, ob die Reiter'sche Erkrankung eine (mittelbare) Folge einer Berufskrankheit ist (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Zutreffend hat das LSG festgestellt, daß die vom Kläger in Mexiko 1964 erworbene Bazillenruhr eine Berufskrankheit nach § 551 Abs. 1 RVO i. V. m. Nr. 44 der Anlage zu der z. Zt. der Erkrankung des Klägers geltenden 6. BKVO vom 28. April 1961 (BGBl I 505) ist.
Zwischen den Beteiligten ist in der Revision unstreitig, daß sich der Kläger während seiner Tätigkeit in Mexiko eine Bazillenruhr zugezogen hat, deren mittelbare Folge eine Reiter'sche Erkrankung war. Streit herrscht allein darüber, ob die Bazillenruhr unter dem Begriff "Tropenkrankheiten" nach Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO fällt. Dies hat das LSG zu Recht bejaht.
Der Begriff "Tropenkrankheiten" ist im Gesetz selbst nicht genannt oder erläutert. In Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO sind als entschädigungspflichtige Berufskrankheiten lediglich "Tropenkrankheiten, Fleckfieber, Skorbut" genannt. Dagegen enthalten die zu Nr. 44 vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblätter eine Definition, wonach Tropenkrankheiten vorwiegend den Tropen und Subtropen eigentümliche Erkrankungen sind, die infolge der besonderen klimatischen und anderen Verhältnisse dort bevorzugt auftreten (vgl. auch Lauterbach, Kommentar zur Unfallversicherung, 3. Band, 3. Auflage, Anhang Nr. 3 b S. 80; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band II, Stand August 1973, S. 492 n; Koetzing-Linthe, Die Berufskrankheiten, 1969, S. 234, und 1962, S. 151; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Auflage, 16. Lieferung, Kennziffer 240, 13). Eine fast gleichlautende Begriffsbestimmung wurde zur Zweiten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 11. Februar 1929, die unter Nr. 21 zum erstenmal die Tropenkrankheiten für Betriebe der Seeschiffahrt als entschädigungspflichtige Berufskrankheit anerkannte, gegeben (Bauer-Engel- Koelsch -Krohn in Arbeit und Gesundheit, Heft 12, 1929, S. 247) sowie ferner in einer Entscheidung des Reichsversicherungsamtes vom 3. Februar 1931 (EuM 29, 232, 233, wo statt der Worte "bevorzugt auftreten" der Ausdruck "besonders häufig vorkommen" verwendet wurde). Der Versicherungsschutz sollte den Seeleuten bei ihren Fahrten außerhalb der Zonen, in denen die übrigen Versicherten leben und arbeiten, gewährt werden, und zwar für die gesundheitlichen Gefahren, die ein anderes wesentlich von dem unseren verschiedenes Klima mit sich bringt. Der Begriff "Tropenkrankheiten" ist daher weit zu fassen (vgl. Bauer-Engel-Koelsch-Krohn-Lauterbach in Arbeit und Gesundheit, Heft 29, S. 406). Daß eine sonst den Tropen vorwiegend eigentümliche und dort besonders häufig vorkommende Erkrankung "sporadisch" bzw. "ab und zu auch außerhalb der Tropen und Subtropen beobachtet" wird, rechtfertigt es nicht, eine Entschädigung mit der Begründung abzulehnen, daß nur Krankheiten, die den Tropen und Subtropen ausschließlich eigentümlich sind, als Tropenkrankheiten in Betracht kommen (RVA aaO S. 233; Bauer-Engel-Koelsch-Krohn, aaO S. 247; Bauer-Engel-Koelsch-Krohn-Lauterbach aaO S. 406; Podzun, Fortbildung und Praxis (WzS) Heft 32, 2. Aufl. 1968 S. 102). Dagegen sollen Erkrankungen, die wie z. B. Tuberkulose und Typhus überall heimisch sind und deshalb als kosmopolitische oder ubiquitäre Krankheiten bezeichnet werden, nicht unter diese Regelung fallen (RVA aaO S. 233; Bauer-Engel-Koelsch-Krohn aaO S. 247; RVO, Gesamt-Kommentar aaO, Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Auflage, Kennziffer 240, S. 14).
Im Gegensatz zur Amoebenruhr (Amöbiasis), die unbestritten als Tropenkrankheit anzusehen und auch in den vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblättern zu Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO als beispielhafte Tropenkrankheit genannt wird, wird die Bazillenruhr wegen ihres Auftretens auch in anderen Ländern von einem Teil des Schrifttums als ubiquitäre bzw. kosmopolitische und somit nicht unter die entschädigungspflichtigen Tropenkrankheiten fallende Krankheit bezeichnet (vgl. Bauer-Engel-Koelsch-Krohn, in Arbeit und Gesundheit, Heft 12 S. 264; diese zusammen mit Lauterbach aaO Heft 29, 422, 423; Koelsch, Handbuch der Berufskrankheiten, 3. Aufl. 1962 S. 421; so wohl auch Wagner-Wolff in BG 1968, 349, 350). Demgegenüber sind u. a. auch die in diesem Verfahren gehörten, zur Zeit in Deutschland bekanntesten und "dienstältesten" (vgl. Gutachten vom 4. Februar 1971, Bl. 2) drei Tropenmediziner, Professor Dr. M (vgl. auch Hefte zur Unfallheilkunde, Heft 99, 1969 S. 324, 325, wo als weitere Sachverständige mit gleicher Ansicht die Tropenmediziner bzw. infektionsklinisch orientierten Ärzte L. F, H und R genannt sind), Professor Dr. O. F und Professor Dr. H der Auffassung, eine in den Tropen erworbene Bazillenruhr müsse wenigstens als "fakultative" Tropenkrankheit anerkannt und entsprechend entschädigt werden (Holstein, Melde- und Entschädigungspflicht bei Berufskrankheiten, 3. Aufl. 1970, S. 91; Miesbach-Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung 1974, § 551 RVO Nr. 44 S. 150; so auch Baader, Berufskrankheiten, 5. Aufl. 1960 S. 47, der die strittige Frage im Sinne einer Ausdehnung der "Tropenkrankheiten" auf die Bazillenruhr gelöst sehen möchte). Schließlich vertreten auch Koetzing-Linthe in ihrer Ausgabe 1962, aaO S. 152 die Auffassung, daß "Ruhr (Amöben- und Bazillenruhr)" zu den wichtigsten Tropenkrankheiten gehöre.
Unter eingehender Würdigung der von den namhaftesten Tropenmedizinern Deutschlands gemachten Ausführungen ist der Senat zu dem Ergebnis gelangt, daß das LSG für die in Mexiko erworbene Bazillenruhr zutreffend das Vorliegen einer Tropenkrankheit bejaht hat.
Da die vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblätter zur BKVO insoweit ausdrücklich nur Beispiele angeben ("z. B."), sie außerdem nicht Bestandteil der Berufskrankheitenverordnung sind (Lauterbach aaO, Band 1, § 551 RVO Anm. 5 S. 290/2), ihnen also keine Gesetzeskraft zukommt, ist für die Entscheidung, ob eine Tropenkrankheit nach Nr. 44 vorliegt, allein auf die anerkannte Definition dieses Begriffs abzustellen. Danach ist es aber, wie oben bereits angedeutet worden ist, für die Annahme einer Tropenkrankheit ausreichend, daß es sich um eine den Tropen bzw. Subtropen vorwiegend eigentümliche Krankheit handelt, die infolge der besonderen klimatischen und anderen Verhältnisse in den genannten Gebieten bevorzugt bzw. besonders häufig auftritt (RVA in EuM 29, 232, 233; Podzun, Fortbildung und Praxis aaO Heft 32, 102). Das heißt also, daß diese Krankheiten nicht ausschließlich nur in diesen Gegenden vorzukommen brauchen (Bauer-Engel-Koelsch-Krohn, Arbeit und Gesundheit, Heft 12 S. 247; Bauer-Engel-Koelsch-Krohn-Lauterbach in Arbeit und Gesundheit, Heft 29, 406; Podzun aaO Heft 32, 102; so wohl auch RVO-Gesamtkommentar, Band II Anhang III, 27, die der Ansicht sind, daß man nach Wortlaut und Sinn der gesetzlichen Regelung den Begriff "Tropenkrankheiten" nicht auf die obengenannte allgemeine Begriffsbestimmung zu beschränken brauche). Dies bedeutet indes, daß aus der Tatsache, daß die Bazillenruhr eine auf der ganzen Welt anzutreffende Erkrankung ist, allein noch nicht gefolgert werden darf, sie könne deshalb unter keinen Umständen zu den Tropenkrankheiten gezählt werden (so auch Baader aaO S. 471). Vielmehr ist - ausgehend von der o. g. Begriffsbestimmung - zu prüfen, ob die Bazillenruhr zu den den Tropen vorwiegend eigentümlichen Krankheiten zählt, die dort infolge der spezifischen Verhältnisse "besonders häufig" vorkommen. Das ist zu bejahen. Wie das LSG unter Verwertung der Erkenntnisse von H, F und auch H ausführte, sind unter den Gegebenheiten der tropischen und subtropischen Länder, insbesondere den dort herrschenden allgemeinen Lebensbedingungen und den schlechten hygienischen Verhältnissen besonders günstige Voraussetzungen für eine Ansteckung durch Ruhrbazillen gegeben. Die Bazillenruhr tritt in den warmen Gebieten sehr viel häufiger auf als in unseren Breiten und eine Infektion ist wegen der mangelhaften hygienischen Einrichtungen und des nahen Kontakts des dort eingesetzten (deutschen) Arbeitnehmers mit der stark verseuchten Bevölkerung viel eher möglich (vgl. Mohr, Hefte zur Unfallheilkunde, Heft 99, 1969 S. 324, 325). Prof. Dr. M hat im Gutachten vom 2. Februar 1962 u. a. ausgeführt, die Bazillenruhr trete in tropischen und subtropischen Gebieten das ganze Jahr hindurch in Gruppenerkrankungen auf, so daß man sie dort als endemisch bezeichnen müsse. Je niedriger der Lebensstandard der Bevölkerung liege und je weniger hygienisch die Bereitung der Nahrungsmittel und die Versorgung der Bewohner mit Trinkwasser sei, um so größer werde die Gefahr einer Verbreitung der Bazillenruhr. Daraus ist zu entnehmen, daß die Bazillenruhr in den warmen Gebieten eine andere und weit gefährlichere Bedrohung der Gesundheit - gerade auch eines aus Deutschland dorthin entsandten Berufstätigen - darstellt als es bei der Ruhr der Fall ist, die in gemäßigten Breiten gelegentlich aufzutreten pflegt, zumal die Bazillenruhr heute in Deutschland "z. T. sehr selten geworden" ist (vgl. Mohr aaO Heft 99 S. 324). Insoweit kommt es auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik an, nicht etwa auf die in der DDR angeblich aufgetretenen Erkrankungsfälle, über die Angaben nach dem Gutachten des Professors H, Bl. 111, 112 LSG-Akten, "aus naheliegenden Gründen meist nicht veröffentlicht" worden sein sollen. Wollte man vor diesen - für den Gesundheitszustand der nach § 551 RVO versicherten Personen - wesentlichen Unterschieden die Augen verschließen, so würde man dem Sinn der gesetzlichen Regelung, die Personengruppen gegen Krankheiten schützen will, denen sie "durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung" ausgesetzt sind, sowie insbesondere dem Zweck der in der Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO erstrebten Regelung nicht gerecht werden. Die in den warmen Gebieten herrschenden besonderen Einwirkungen gefährden somit gerade hinsichtlich der Bazillenruhr die dort im Auslandseinsatz stehenden Berufstätigen in erheblichem Maße und bedeuten für diese eine "durch deren Arbeit bedingte erheblich größere Erkrankungsgefahr ... als sie jedem anderen Menschen im täglichen Leben (in unseren Breiten) droht" (vgl. dazu Brackmann aaO S. 490 h III). Diese Umstände reichen aus, um das Vorliegen einer "Tropenkrankheit" i. S. der Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO im vorliegenden Fall zu bejahen.
Ist sonach eine in den Tropen oder Subtropen erworbene Bazillenruhr als Tropenkrankheit anzusehen, so werden zudem Unbilligkeiten vermieden, die - wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt - mit dem der Entschädigung von Berufskrankheiten zugrunde liegenden Rechtsgedanken nicht in Einklang stünden. Vielfach werden die besonderen Verhältnisse des Aufenthaltsortes - in den Tropen - eine ätiologische Differenzierung der Ruhr - eine solche ist nur durch eine rasche Stuhluntersuchung möglich, weil die Ruhrbakterien schnell von Phagen vernichtet oder von anderen Bakterien überwuchert werden (Denning, Lehrbuch der Inneren Medizin, 1. Band 4. Aufl. S. 97) - schlechthin unmöglich machen, so daß später nicht mehr festgestellt werden kann, durch welche Serotypen die Bazillenruhr hervorgerufen wurde, d. h. ob die Ansteckung etwa durch den Bazillus " Shigella dysenteriae Typ 1", die auch Prof. Dr. H als Tropenkrankheit werten will, erfolgte. Diesem - auch hier gegebenen - Beweisnotstand wird der Erkrankte durch seinen beruflichen Einsatz in den Tropen ausgesetzt. Es liegt auch deshalb - entsprechend der Anregung von Baader aaO 1960 S. 471 - nahe, nach ähnlichen Grundsätzen zu verfahren wie bei der Malaria, deren Erregertypen ebenfalls in verschiedenen Klimazonen, u. a. auch in Europa - Mittelmeergebiet - verbreitet sind ( Koelsch aaO S. 420). Nach alledem erscheint es - insbesondere auch unter gebührender Würdigung des mit § 551 Abs. 1 RVO erstrebten Zieles und Zweckes - aus den obengenannten Gründen geboten, generell eine in den Tropen oder Subtropen erworbene Ruhr als Tropenkrankheit i. S. der Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO anzuerkennen (so auch Baader aaO S. 471). Damit sieht der Senat nicht jede Bazillenruhr als Tropenkrankheit an, weshalb das Gutachten des Professors Dr. H vom 28. August 1970 der getroffenen Entscheidung nicht eigentlich entgegensteht, zumal auch dieser betonte, er würde auch eine Bazillenruhr "bei besonderen Begleitumständen" als Berufskrankheit anerkennen.
Die Tatsache, daß in der Amtlichen Begründung zum Entwurf einer Zweiten Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten (AN 1929, IV 10, 14) ausdrücklich nur die "Amöbenruhr" genannt ist und daraus geschlossen worden ist, die Bazillenruhr komme für den in der Verordnung als entschädigungspflichtig bezeichneten Kreis der Tropenkrankheiten nicht in Frage (vgl. Bauer-Engel- Koelsch -Krohn, Arbeit und Gesundheit, Heft 12 S. 264), vermochte ein anderes Ergebnis nicht zu rechtfertigen. Dieser Auffassung kann der Senat aus den obigen Gründen und auch deshalb nicht - jedenfalls nicht in der damals gewählten allgemeinen Formulierung - zustimmen, weil seinerzeit nur Betriebe in der Seeschiffahrt in den Versicherungsschutz einbezogen waren, weshalb zu jener Zeit eine andere Betrachtungsweise gerechtfertigt sein konnte. Dabei kann dahinstehen, ob damals, d. h. vor mehr als 40 Jahren, andere Erfahrungssätze gelten konnten. Prof. Dr. M hat aaO Heft 99, 1969 S. 324 einerseits festgestellt, daß die von ihm genannten "fakultativen Tropenkrankheiten", zu denen er auch die Bazillenruhr zählt, "heute in Deutschland z. T. sehr selten geworden sind". Er hat andererseits (S. 322) auf den vermehrten Einsatz deutscher Firmen in Übersee hingewiesen mit der Folge, daß in sehr viel stärkerem Maße "als je zuvor deutsche Arbeitsgruppen in tropischen und subtropischen Gebieten tätig wurden" (zeitweilig über 200000 Deutsche). Unter diesen Umständen können die 1929 angestellten Erwägungen in Einklang mit den Beurteilungen der drei "ältesten", im Gutachtenwesen noch aktiv tätigen (vgl. Gutachten vom 4. Februar 1971, Bl 2) Tropenmediziner Deutschlands Prof. Dr. M, Prof. Dr. F und Prof. Dr. H für eine - wie hier - in den Tropen bzw. Subtropen erworbene Bazillenruhr nach Maßgabe der 6. BKVO keine Geltung beanspruchen.
Der Senat sah schließlich keine Veranlassung, auf die Frage, ob die in den Tropen erworbene Bazillenruhr - wie M, F und auch H meinen - als sog. "fakultative Tropenkrankheit" zu bezeichnen und einzuordnen sei, näher einzugehen. Abgesehen davon, daß dieser Begriff im Gesetz nicht erwähnt wird und anscheinend auch international nicht gebräuchlich ist (vgl. Wagner-Wolff, BG 1968, 350), besteht nach Auffassung des Senats keine Notwendigkeit, die Tropenkrankheiten in zwei derartig verschiedenen Gruppen zu differenzieren (vgl. dazu auch Wagner in Hefte zur Unfallheilkunde, Heft 99 S. 315, 317 und 321). Erforderlich und genügend für die Anerkennung als Tropenkrankheit ist lediglich, daß die vom Gesetz der Rechtsprechung und dem Schrifttum aufgestellten Voraussetzungen - wie hier - in dem Sinne erfüllt sind, daß nach dem gesetzgeberischen Zweck des § 551 Abs. 1 RVO und der Nr. 44 der Anlage zur 6. BKVO unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen eine "Tropenkrankheit" anzunehmen ist.
Da auch die übrigen Voraussetzungen für die Anerkennung der vom Kläger in Mexiko erworbenen Bazillenruhr als Tropenkrankheit - unstreitig - vorliegen, hat das LSG zu Recht dem Feststellungsantrag des Klägers stattgegeben.
Die Revision mußte daher zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen