Leitsatz (amtlich)
Die Zeit, die ein nach dem WehrG vom 1935-05-21 Wehrpflichtiger über die Normalzeit einer aktiven Dienstpflicht hinaus freiwillig länger gedient hat, ist keine Ersatzzeit iS von AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) - Weiterentwicklung von BSG 1976-08-19 11 RA 144/75 = SozR 2200 § 1251 Nr 25 -.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; WehrG Fassung: 1935-05-21
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. September 1978 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der 1916 geborene Kläger leistete vom 29. Oktober 1935 bis 1. November 1937 Wehrdienst als Soldat und diente aufgrund einer freiwilligen Verpflichtung - als Unteroffizier - noch länger bis zum 1. Juni 1938.
Die Beklagte lehnte es ab, auch die Dienstzeit vom 2. November 1937 an als Ersatzzeit aufgrund von § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorzumerken, weil die aktive Dienstpflicht für Wehrpflichtige des Jahrgangs 1916 nur zwei Jahre gedauert habe. Der Kläger hält die streitige Zeit für eine Zeit "freiwillig vorzeitig geleisteten Wehrdienstes". Wäre er nicht bis Juni 1938 bei der Wehrmacht geblieben, dann wäre er später zu Reserveübungen einberufen worden.
Widerspruch, Klage und Berufung waren erfolglos. Nach Ansicht des Landessozialgerichts -LSG- (Urteil vom 29. September 1978) hat der Kläger ab November 1937 den Wehrdienst nicht (mehr) aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht im Sinne von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG geleistet. Die Zeit der vorgeschriebenen zweijährigen Dienstpflicht bilde für den als Ersatzzeit anzuerkennenden Dienst die Obergrenze. Nach Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung sei ein Ausgleich der versicherungsrechtlichen Nachteile nur hierfür und nicht für eine freiwillig darüber hinaus geleistete Wehrdienstzeit gerechtfertigt. Auch unter dem Gesichtspunkt, daß der Kläger mit dem freiwilligen weiteren Dienst "vorzeitig" eine Wehrübung geleistet habe, sei der Anspruch nicht zu begründen. Er hätte nach Entlassung aus dem Zweijährigen aktiven Wehrdienst als Angehöriger der Reserve zwar zu dem - abstrakten - Kreis der Wehrübungspflichtigen gehört; es lasse sich aber nicht feststellen, daß ihm das Längerdienen einen anderenfalls wahrscheinlich zu leistenden Wehrübungsdienst erspart habe.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),
die angefochtenen Urteile und Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 2. November 1937 bis 1. Juni 1938 als Ersatzzeit vorzumerken,
hilfsweise,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. September 1978 aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.
§ 28 Abs 1 Nr 1 AVG setze nur voraus, daß der nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden sei. Das treffe auch für die Zeit ab 2. November 1937 zu. Insoweit genüge es, daß die gesetzliche Wehrpflicht eine wesentliche Mitursache für den längeren Wehrdienst sei, um Einberufungen zu Wehrdienstübungen zu ungelegener Zeit zu entgehen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Zu Recht hat das LSG verneint, daß für den vom 2. November 1937 bis 1. Juni 1938 geleisteten Wehrdienst die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG vorliegen. Danach sind Ersatzzeiten "Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 Bundesversorgungsgesetz (BVG), die aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden sind". Der in der betreffenden Zeit vom Kläger geleistete Dienst war militärischer Dienst im Sinne des § 2 des BVG; nach dessen Absatz 1 Buchst a fällt hierunter jeder nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat. Da insoweit Wehrdienst im Frieden vorlag, ist allein entscheidend, ob der Dienst auch aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht abgeleistet wurde. In diesem Punkt weicht § 28 Abs 1 Nr 1 AVG idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes von der Fassung früherer Vorschriften ab; § 1263 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF ging von Zeiten aus, "in denen der Versicherte zur Erfüllung der Wehrpflicht eingezogen gewesen ist" (so schon SozR 2200 § 1251 Nr 24). Hieraus kann der Kläger indessen für sein Begehren nichts herleiten. Mit der Umformulierung in die jetzige Gesetzesfassung ist nicht etwa zum Ausdruck gebracht, daß ein jeglicher von Wehrpflichtigen geleisteter militärischer Dienst versicherungsrechtlich als Ersatzzeit zu qualifizieren sei; dies ginge am Sinn und Zweck der Ersatzzeitenregelung vorbei (s hierzu SozR Nr 7 zu § 1251 RVO mit weiten Nachweisen).
Mit der Frage, wann militärischer Dienst "aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht" geleistet worden ist, hat sich das Bundessozialgericht (BSG) schon öfter befaßt. Für Berufssoldaten hat es einen Dienst auf solcher Grundlage verneint (SozR Nrn 7 und 65 zu § 1251 RVO, davon die erstere Entscheidung zum Reichsmilitärgesetz von 1874), bei anderen Soldaten hat es ihn für Zeiten ab 21. Mai 1935 (Inkrafttreten des Wehrgesetzes -WG-) bejaht, auch wenn er freiwillig geleistet wurde; insofern hat das BSG genügen lassen, daß der Versicherte den Wehrdienst als Wehrpflichtiger geleistet hat (SozR Nr 54 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nrn 8, 15, 24 und 25). Leitgedanke war hierbei, daß nach dem WG jeder deutsche Mann vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zu dem auf die Vollendung des 45. Lebensjahres folgenden 31. März wehrpflichtig war und daß die Wehrpflicht durch Wehrdienst erfüllt worden ist (§§ 1, 4 und 7 WG). Ein solcher Dienst, durch den die Wehrpflicht erfüllt wurde, muß daher grundsätzlich als "aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet" gelten.
Allerdings gebieten Sinn und Zweck des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG bei der Anerkennung des von Wehrpflichtigen geleisteten Wehrdienstes als Ersatzzeit auch Einschränkungen. Für den Kreis der Berufssoldaten hat das BSG insofern entschieden, daß ihren Friedensdienstzeiten nicht der Charakter von Ersatzzeiten zugebilligt werden könne (SozR Nrn 7 und 65 zu § 1251 RVO); gleiches muß für die Wehrdienstzeiten gelten, die freiwillig über die Zeit einer aktiven Dienstzeit hinaus geleistet worden sind. In diesem Sinne hat sich der erkennende Senat bereits im Urteil vom 19. August 1976 (SozR 2200 § 1251 Nr 25) für einen Fall geäußert, in dem der Betreffende eine Verpflichtung zur zwölfjährigen Dienstzeit rückgängig gemacht hat und nach zweieinhalb Jahren aus der Wehrmacht ausgeschieden ist. Hier sind die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG für den Wehrdienst (nur) bis zur normalen Zeit der aktiven Dienstpflicht von damals zwei Jahren bejaht worden. Dem lag die Erwägung zugrunde, daß der mit der Ersatzzeitregelung bezweckte Ausgleich von versicherungsrechtlichen Nachteilen in dem zeitlichen Umfang stattfinden soll, in dem der Versicherte wegen eines - auf Gesetz beruhenden - obrigkeitlichen Eingriffs eine versicherungspflichtige Tätigkeit nicht ausüben und keine Versicherungsbeiträge entrichten konnte. Das trifft für eine die Normalzeit der aktiven Dienstpflicht umfassende Dienstzeit auch eines Soldaten zu, der sich zur Ableistung eines längeren Wehrdienstes verpflichtet hatte, vorausgesetzt, der Wehrdienst ist während der Zeit noch nicht berufsmäßig geleistet worden. Einen entsprechenden Gedankengang hat der Senat schon in SozR 2200 § 1251 Nr 24, dort auf Seite 66, anklingen lassen; er findet sich überdies in vorausgegangenen Entscheidung des 12 (aaO Nrn 8 und 15) für Angehörige des Beurlaubtenstandes, die Wehrübungen bzw freiwilligen aktiven Wehrdienst leisteten. In diesen Fällen hat der 12. Senat für die (übliche) Dauer der Übungen und bis zur vorgeschriebenen Dauer des Wehrdienstes von damals einem Jahr Ersatzzeiten angenommen.
Der vorliegende Fall gibt keinen Anlaß, von den vom BSG bisher zum Ausdruck gebrachten Gedanken abzugehen. Die Erwägung, daß ein "Ersatz" für versäumte Beitragszeiten grundsätzlich nur solche Zeiten umfaßt, die der versicherungsrechtlichen Disposition des Versicherten entzogen sind, wobei die ihm an die Hand gegebene Möglichkeit einer zeitlichen Verschiebung des Beginns insofern ohne Bedeutung ist, trifft auf die Dienstzeit eines im Sinne von § 7 Abs 1 Satz 3 Nr 2 WG freiwillig Längerdienenden erst recht zu. Diese Zeit kann über die gesetzliche Wehrdienstzeit hinaus nicht eine (weitere) Ersatzzeit sein, mag der Betreffende mit ihr auch gemäß § 7 Abs 1 Satz 1 WG seine Wehrpflicht erfüllt haben.
Die über die gesetzliche Wehrdienstzeit hinausgehende Dienstzeit des Klägers ist auch unter dem Gesichtspunkt einer "vorzeitigen Wehrübung" keine Ersatzzeit. Zum einen hat das LSG keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, aus denen entnommen werden könnte, der Kläger wäre - überhaupt bzw ohne den längeren Dienst - zu Wehrübungen herangezogen worden; hiergegen hat er sich weder gewandt noch sind aus dem Vorbringen oder dem Akteninhalt entsprechende Tatsachen erkennbar. Zum anderen fehlt es an einer rechtlichen Grundlage für die Annahme, daß er als Angehöriger des Jahrgangs 1916 und der Reserve I Wehrübungen hätte leisten müssen. Ob die gesetzliche Wehrpflicht die alleinige Ursache oder eine wesentliche Mitursache dafür war, daß der Kläger freiwillig länger gedient hat, ist im Hinblick auf § 28 Abs 1 Nr 1 AVG nicht von Bedeutung.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen