Leitsatz (amtlich)
1. Für einen militärischen Dienst auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht iS des AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1) reicht es nicht aus, daß die gesetzliche Wehrpflicht als solche eine rechtliche Grundlage des Dienstes gebildet hat und durch ihn die Wehrpflicht erfüllt worden ist; die gesetzliche Wehrpflicht muß zugleich ein wesentlicher Grund für die Dienstleistung gewesen sein (teilweises Abgehen von BSG 1976-08-19 11 RA 130/75 = BSGE 42, 159 = SozR 2200 § 1251 Nr 24).
2. Die gesetzliche Wehrpflicht war für die Wehrdienstzeit eines auf Grund des Gesetzes über die Überführung von Angehörigen der Landespolizei in die Wehrmacht vom 3.7.1935 in die Wehrmacht überführten Landespolizeianwärters ein wesentlicher Grund, wenn die Wehrdienstzeit auf die Dauer der aktiven Dienstpflicht begrenzt war und letztere durch die Ableistung des Wehrdienstes als erfüllt galt (Abgrenzung zu BSG 1976-09-29 5/12 RJ 160/75 = SozR 2200 § 1251 Nr 26).
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; LPolÜberfG Fassung: 1935-07-03
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 11.11.1981; Aktenzeichen L 3 An 2035/80) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 14.08.1980; Aktenzeichen S 9 An 2693/79) |
Tatbestand
Streitig ist die Berücksichtigung einer Dienstzeit bei der Wehrmacht als Ersatzzeit gemäß § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG).
Der am 15. Januar 1916 geborene Kläger trat am 10. Mai 1935 freiwillig als Anwärter für den Landespolizeidienst (Unterwachtmeister) in eine Landespolizeiabteilung ein. Im Oktober 1935 wurde er aufgrund des Gesetzes über die Überführung der Angehörigen der Landespolizei in die Wehrmacht vom 3. Juli 1935 (RGBl I, 351) in ein Infanterieregiment überführt; am 30. September 1936 schied er aus dem Wehrdienst als Gefreiter aus. Während der gesamten Dienstzeit erhielt er ein gleichbleibendes Grundgehalt von 65,-- RM monatlich.
In dem Bescheid über die Gewährung des flexiblen Altersruhegeldes vom 18. Juni 1979 rechnete die Beklagte die Monate Mai bis September 1935 als aufgrund von § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes nachversichert an; die anschließende Zeit bis September 1936 berücksichtigte sie hingegen - als Ersatzzeit - nicht. Dagegen wandte der Kläger ein, er habe ab Oktober 1935 seinen freiwillig vorverlegten aktiven Wehrdienst aufgrund der gesetzlichen Wehrpflicht geleistet.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben, das Landessozialgericht (LSG) hat sie abgewiesen. Nach seiner Ansicht ist die strittige Zeit zwar militärischer Dienst iS von § 28 Abs 1 Nr 1 AVG iVm § 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), denn der Kläger habe Dienst nach Wehrrecht als Soldat geleistet; die Dienstleistung sei jedoch nicht aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht erfolgt. Laut den Auskünften der Zentralnachweisstelle des Bundesarchivs sei der Kläger unter dem Sammelbegriff "Wachtmeister mit einer Dienstzeit von weniger als sechs Jahren" kraft des Überführungsgesetzes, das kein Wehrgesetz gewesen sei, Soldat geworden und damit als Berufssoldat anzusehen gewesen. Die kurze Dauer der Dienstleistung von nur einem Jahr, die der damaligen wehrrechtlichen Regelung entsprochen habe, stehe dem nicht entgegen. Zum einen habe sich der Kläger 1935 für die Landespolizei nicht auf länger als bis zum Herbst 1936 verpflichten können, zum anderen sei er auch nach dem 30. September 1935 weiterhin gemäß den Durchführungsbestimmungen zum Überführungsgesetz besoldet worden. Wäre er 1935 aus der Landespolizei ausgeschieden und bei der Wehrmacht als Wehrpflichtiger vorzeitig eingetreten, hätte er anstelle der für die Berufssoldaten vorgesehenen Gebührnisse nur den geringeren Wehrsold erhalten. Da sich die Interessenlage des Klägers nicht grundlegend unterscheide von der des Versicherten im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. August 1976 (SozR 2200 § 1251 Nr 25), werde die Revision zugelassen.
Der Kläger beantragt mit der Revision, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Seine Interessenlage stimme mit der angeführten völlig überein. Ihm sei die Zeit von Oktober 1935 offensichtlich als gesetzliche Wehrpflichtzeit angerechnet worden, denn man habe ihn im Frieden nur noch zu Wehrübungen einberufen. Es müsse der Satz gelten, daß ein Versicherter, dessen Dienst nicht über die normale Zeit einer aktiven Dienstpflicht hinausgegangen sei, in den Genuß der Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 AVG komme.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Die Zeit vom 1. Oktober 1935 bis zum 30. September 1936 ist ihm bei der Berechnung des Altersruhegeldes rentensteigernd anzurechnen; sie stellt eine Ersatzzeit gemäß § 28 Abs 1 Nr 1 AVG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 dar.
Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten "Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2 und 3 BVG, die aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden sind "(zur Auslegung des Wortlauts des Gesetzes vor und nach der Rentenreform von 1957 vgl SozR 2200 § 1251 Nrn 24, 68, 79). Der vom Kläger geleistete Dienst war militärischer Dienst iS des § 2 BVG; nach dessen Abs 1 Buchst a fällt hierunter, wie das LSG zutreffend festgestellt hat, jeder nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat. Da es sich um Wehrdienst im Frieden handelte, kommt es darüber hinaus jedoch noch darauf an, ob er "auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht" geleistet wurde. Auch dies ist, entgegen dem LSG, vorliegend zu bejahen.
Das BSG hat sich in einer ganzen Reihe von Entscheidungen bereits mit der Frage beschäftigt, wann ein militärischer Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden sei. Für den von Berufssoldaten oder freiwillig Längerdienenden geleisteten Dienst hat es das allgemein verneint (SozR Nrn 7 und 65 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nrn 24, 26, 57, 76, 79 und 86); bei den anderen Soldaten ist dagegen ein militärischer Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht vom Inkrafttreten des Wehrgesetzes -WehrG(21. Mai 1935) an auch bei einem freiwilligen Dienst in der Regel bejaht worden (SozR Nr 54 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nrn 8, 15, 24, 57, 68 und 79). Der 12. Senat des BSG hat insoweit genügen lassen (SozR Nr 54 zu § 1251 RVO; SozR 2200 § 1251 Nrn 8 und 15), daß der Soldat den Dienst als Wehrpflichtiger geleistet hat; dabei ist er davon ausgegangen, daß nach § 4 WehrG die Wehrpflicht vom vollendeten 18. bis zum vollendeten 45. Lebensjahr dauerte und durch den Wehrdienst erfüllt wurde. Dem hat sich der erkennende Senat angeschlossen (SozR 2200 § 1251 Nr 24 = BSGE 42, 159 und Nr 25). Auch er hielt es grundsätzlich für ausreichend, daß gem § 7 Abs 1 Satz 1 WehrG durch einen aktiven Wehrdienst innerhalb der genannten Altersspanne die Wehrpflicht erfüllt worden ist.
Andere Senate sind dieser Gedankenführung nicht ohne Einschränkung gefolgt. So hat der 1. Senat für sein Urteil vom 14. Dezember 1978 (SozR aaO Nr 57) zwar ebenfalls an die bestehende Wehrpflicht angeknüpft; daraus allein ergebe sich aber noch nicht, daß der militärische Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht iS des § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO (= § 28 Abs 1 Nr 1 AVG) geleistet sei. Nach der Ansicht des 1. Senats fehlt es an dem für den Ersatzzeittatbestand zu fordernden Eingriff von hoher Hand, wenn der Versicherte nur durch seiner Einflußsphäre zuzurechnende Umstände an der Beitragsentrichtung zur Rentenversicherung gehindert gewesen ist. Bei der Argumentation hat der 1. Senat auf das Urteil des 5. Senats vom 29. September 1976 in SozR 2200 § 1251 Nr 26 hingewiesen; dort hat der 5. Senat - worin der 4. Senat am 15. Dezember 1976, 4 RJ 33/76, sich ihm angeschlossen hat - für den Fall eines im Jahre 1909 geborenen, 1930 in den Polizeidienst eingetretenen, im Oktober 1935 von der Landespolizei in die Wehrmacht überführten und zum 1. Oktober 1936 zur Schutzpolizei zurückversetzten Versicherten entsprechende Gesichtspunkte dargelegt: Weder sei hier der Grund für die Ableistung des militärischen Dienstes die gesetzliche Dienst- oder Wehrpflicht gewesen noch sei mindestens durch die Ableistung des militärischen Dienstes eine sonst später eintretende Dienstpflicht erloschen.
Diese Entscheidungen geben dem erkennenden Senat - auch im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung - Veranlassung, an seinem früher vertretenen Standpunkt nicht mehr uneingeschränkt festzuhalten. Der Grundsatz, daß jeder aktive Wehrdienst im Alter von 18 bis 45 Jahren "auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht" geleistet worden sei, besitzt zwar den Vorzug der größtmöglichen Gleichbehandlung der Versicherten im Hinblick auf den Ersatzzeittatbestand; er trägt jedoch dem Grundgedanken sowie dem Wortlaut des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG nicht ausreichend Rechnung, weil dort durch die Forderung, daß der militärische Dienst "auf Grund" gesetzlicher (Dienst- oder) Wehrpflicht geleistet worden sei, eine besondere Beziehung des militärischen Dienstes zur gesetzlichen Wehrpflicht verlangt wird. Diese wird aber noch nicht dadurch hergestellt, daß die gesetzliche Wehrpflicht als solche eine rechtliche Grundlage des Dienstes gebildet hat und daß durch ihn außerdem - für die Dauer des Dienstes - iS des § 7 Abs 1 Nr 1 WehrG die Wehrpflicht "erfüllt" worden ist; vielmehr muß die gesetzliche (Dienst- oder) Wehrpflicht bei objektiver Betrachtungsweise zugleich ein wesentlicher Grund für die Dienstleistung des Versicherten gewesen sein. Ein solches Verständnis des Gesetzes bewirkt nicht, daß damit die Vergünstigung des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG allein den Jahrgang für Jahrgang eingezogenen Wehrpflichtigen zukommen würde; denn auch bei einer freiwilligen Dienstleistung ist nicht selten die gesetzliche Wehrpflicht ebenfalls ein wesentlicher Grund für die Ableistung des Wehrdienstes gewesen (vgl hierzu im übrigen die Rechtsprechung zur verlängerten Bezugsdauer von Waisenrente und Kinderzuschuß bei einem bis zu dreijährigem freiwilligen Dienst in der Bundeswehr, SozR 2200 § 1262 Nr 3, § 1267 Nr 3).
Bei einer Gesamtwürdigung aller hier festgestellten Umstände ergibt sich, daß im vorliegenden Fall die gesetzliche Wehrpflicht als ein wesentlicher Grund für die Wehrdienstleistung des Klägers von Oktober 1935 bis September 1936 anzusehen ist. Der Kläger ist zwar am 10. Mai 1935 freiwillig in die Landespolizei eingetreten und von dort im September 1935 kraft Gesetzes in die Wehrmacht überführt worden; ferner hat er im Wehrdienst das bisherige Grundgehalt aus Besitzstandsgründen weiterbezogen. In SozR 2200 § 1251 Nr 8 hat der 12. Senat des BSG jedoch darauf hingewiesen, daß bereits vor der Einführung der gesetzlichen Wehrpflicht durch das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 die Wehrmacht in mannigfacher Weise unter Tarnung im Geheimen aufgebaut worden ist. Zu den hierzu getroffenen Maßnahmen muß man wohl auch die Einstellung von "Rekruten" im Frühjahr 1935 in die Landespolizei mit einer von vornherein nur auf die Zeit bis September 1936 möglichen Verpflichtung rechnen, zumal nach den im Rechtsstreit eingeholten Auskünften damals die spätere Überführung in die Wehrmacht bereits geplant war. In den Auskünften heißt es sogar im weiteren, daß diese in die Landespolizei eingetretenen Freiwilligen nach ihrer Überführung in die Wehrmacht dort nicht als "Berufssoldaten" galten. Auf jeden Fall unterschied sich ihr beruflicher Status dadurch erheblich von dem sonstiger Berufssoldaten, daß die Dauer ihrer Dienstzeit in der Wehrmacht auf die damalige Dauer der aktiven Dienstpflicht begrenzt war. Hinzu kommt, daß durch die Ableistung des Dienstes beim Kläger die aktive Dienstpflicht nach § 8 WehrG als erfüllt galt. Der Kläger wäre sonst nach der Anordnung über die Aushebung für den aktiven Wehrdienst vom 29. Mai 1937 (RGBl I, 606) im Jahre 1937 einberufen worden und hätte dann wegen der zwischenzeitlichen Verlängerung der aktiven Dienstpflicht sogar zwei Jahre aktiven Wehrdienst leisten müssen. Für diesen Fall - daß mindestens durch die Ableistung des Dienstes eine sonst später eintretende Dienstpflicht erloschen ist - hat auch der 5. Senat in SozR 2200 § 1251 Nr 26 eine Ausnahme bei der sonstigen Versagung von Ersatzzeiten für die von der Landespolizei in die Wehrmacht Überführten in Betracht gezogen.
Da somit beim Kläger alles in allem die gesetzliche Wehrpflicht einen wesentlichen Grund für den streitigen Wehrdienst von Oktober 1935 bis September 1936 dargestellt hat, ist dieser militärische Dienst entgegen der Auffassung des LSG iS des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG "auf Grund gesetzlicher Wehrpflicht" geleistet. Infolgedessen steht dem Kläger die begehre Ersatzzeit zu.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen