Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Berechnung des Lebensalters ist auch in der Sozialversicherung die Auslegungsvorschrift des BGB § 187 Abs 2 S 2 anzuwenden.
2. Das Altersruhegeld (RVO § 1248 Abs 1) eines am ersten Tage eines Monats geborenen Versicherten, der das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit erfüllt hat, ist nach RVO § 1290 Abs 1 S 1 vom Beginn des Kalendermonats an zu gewähren, in den sein Geburtstag fällt.
Normenkette
RVO § 1248 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1290 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; BGB § 187 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1896-08-18
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 29. Januar 1959 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der am 1. September 1893 geborene Kläger bezieht von der Beklagten gemäß dem Bescheid vom 22. August 1958 seit dem 1. September 1958 Altersruhegeld nach § 1248 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Er begehrt die Zahlung dieser Rente bereits mit Wirkung vom 1. August 1958 an. Er meint, da er am 31. August 1958 das 65. Lebensjahr vollendet habe, stehe ihm die Rente nach § 1290 RVO mit dem Beginn dieses Monats zu.
Das Sozialgericht (SG.) Oldenburg hat seine dahingehende Klage abgewiesen. Bei natürlicher Betrachtungsweise werde das 65. Lebensjahr an dem 65. Geburtstag zu der Stunde vollendet, zu der der Versicherte 65 Jahre vorher geboren worden war. § 187 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verschiebe diesen Zeitpunkt innerhalb des Geburtstages zurück auf den Beginn des Tages. Deshalb erscheine es gerechtfertigt, den Zeitpunkt der Vollendung des 65. Lebensjahres dem Geburtstage, also dem 1. September 1958, und nicht dem Vortage, dem 31. August 1958, zuzurechnen. Damit beginne die Rente nach § 1290 RVO mit dem 1. September 1958, so daß der Kläger keine Nachzahlung der Rente für den Monat August 1958 verlangen könne. In der Rechtsmittelbelehrung des Urteils ist die Berufung zugelassen worden.
Gegen das ihm am 16. März 1959 zugestellte Urteil hat der Kläger am 7. April 1959 unter Beifügung einer entsprechenden Einverständniserklärung der Beklagten Sprungrevision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Nach der Grundsätzlichen Entscheidung (Gr.E.) Nr. 4866 des früheren Reichsversicherungsamts (RVA.) Amtliche Nachrichten (AN.) 1935 S. 174 könne der Auffassung des SG. nicht gefolgt werden.
Der Kläger beantragt:
unter Aufhebung der Entscheidung des SG. Oldenburg vom 29. Januar 1959 und des Bescheides der Beklagten vom 22. August 1958 diese zu verurteilen, ihm die Rente bereits ab 1. August 1958 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt:
die Revision zurückzuweisen,
da das angefochtene Urteil richtig sei.
Entscheidungsgründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Sprungrevision ist nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft. Die nur den Beginn der Rente betreffende und somit nach § 146 SGG nicht zulässige Berufung ist vom SG. auf Grund des § 150 Nr. 1 SGG im Urteil zugelassen worden und daher ungeachtet des § 146 SGG zulässig. Die schriftliche Erklärung der Einwilligung der Revisionsbeklagten ist der Revisionsschrift beigefügt worden.
Die Revision ist jedoch sachlich nicht begründet.
Altersruhegeld erhält nach § 1248 Abs. 1 RVO der Versicherte, der das 65. Lebensjahr vollendet hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Die Rente ist nach § 1290 Abs. 1 RVO vom Beginn des Monats an zu gewähren, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Für einen Versicherten, der, wie der Kläger, am ersten eines Monats geboren ist, stellt sich damit die Frage, ob er die Voraussetzung für die Rentengewährung erst in seinem Geburtsmonat oder schon im Vormonat erfüllt hat.
Bei natürlicher Berechnung des Lebensalters nach dem tatsächlichen Zeitpunkt der Geburt (Naturalkomputation) könnte es nicht zweifelhaft sein, daß ein bestimmtes Lebensjahr an demselben Tage vollendet wird, an dem das darauffolgende beginnt. Zweifel entstehen erst dadurch, daß nach den Regeln der Zivilkomputation, die auch im Sozialversicherungsrecht gelten, nur volle Tage gerechnet werden und daß nach § 187 Abs. 2 Satz 2 BGB der Tag der Geburt bei der Berechnung des Lebensalters mitzurechnen ist. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine Auslegungsregel (vgl. Staudinger-Coing Anm. 2 zu § 186 und Anm. 4 zu § 187 BGB), die nicht nur im bürgerlichen, sondern auch im öffentlichen Recht angewendet wird (vgl. u.a. RGSt. 35 S. 37 sowie Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 7. Aufl., S. 159). Der erkennende Senat hatte keine Bedenken, der ständigen Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA.) zu folgen und die Auslegungsregel des § 187 Abs. 2 Satz 2 BGB auch auf dem Gebiete der Sozialversicherung anzuwenden. Daraus, daß die §§ 124 ff. RVO auf die §§ 186 ff. BGB nicht Bezug nehmen und sie nicht einmal erwähnen, ist nicht zu folgern, daß die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften für die Berechnung von Fristen für das Sozialversicherungsrecht keine Anwendung finden dürften. Die §§ 124 ff. RVO behandeln nur prozessuale und materiell-rechtliche Fristen wie Meldefristen, Verjährungsfristen, Ausschlußfristen usw., lehnen sich insoweit an die entsprechenden Vorschriften des BGB an und schließen die von ihnen nicht wiedergegebenen Vorschriften des BGB von einer Anwendung in der Sozialversicherung nicht aus.
Die sich aus § 187 Abs. 2 Satz 2 BGB ergebende Mitrechnung des Geburtstages als eines vollen Tages bedeutet die Verlegung des Zeitpunkts der Geburt auf den Beginn des Geburtstages, so daß ein Lebensjahr mit dem Beginn des folgenden Geburtstages bereits vollendet ist.
Zu den sich hieraus ergebenden Auswirkungen auf Rentenansprüche, deren Beginn oder Wegfall an die Erreichung eines bestimmten Lebensalters geknüpft ist, hat das RVA. in mehreren Entscheidungen Stellung genommen. Auch im Schrifttum ist die Frage erörtert worden.
Entsch. 2979 in AN 1926 S. 381,
Entsch. 4642 in AN 1933 S. 336,
Entsch. vom 11.5.1934 in "Deutsche Invalidenversicherung" (DJV) 1934 S. 182,
Entsch. 4866 in AN 1935 S. 174,
Schubert in DJV 1934 S. 77,
Fix in DJV 1934 S. 182 und 1937 S. 124,
Reinbach in DJV 1935 S. 29 und 1937 S. 55 -
In der o.a. Entsch. 4866 hatte das RVA. ausgesprochen, daß die Altersinvalidenrente eines am Monatsersten geborenen Versicherten mit dem ersten Tage des Geburtsmonats und nicht erst mit dem Beginn des nächsten Monats beginne, weil die 65jährige Frist, von deren Ablauf der Erwerb des Anspruchs auf Altersinvalidenrente abhänge, mit dem Ablauf des dem 65jährigen Geburtstage vorhergehenden Tages ende. Maßgebend war damals § 1286 Abs. 1 Halbsatz 1 RVO in der Fassung der Verordnung vom 17. Mai 1934 (RGBl. I S. 419), wonach die Rente mit dem ersten Tage des Kalendermonats begann, der auf den Monat folgte, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt waren. Damit war das RVA. von seiner bisherigen entgegenstehenden Ansicht über den Beginn der Altersinvalidenrente abgewichen (vgl. die o.a. Entsch. 4642 und die ebenfalls o.a. Entsch. vom 11.5.1934). Diese neue Rechtsauffassung muß jedoch bereits für die damalige Rechtslage bedenklich erscheinen. Zur Begründung hatte sich das RVA. u.a. auf die o.a. Entsch. 2979 berufen, wonach eine am 1.1.1909 geborene Waise das 15. Lebensjahr mit Ablauf des 31.12.1923 vollende, so daß der Anspruch auf Waisenrente mit dem Ende des Jahres 1923 entfallen sei. Hierbei hatte indes das RVA. der Verschiedenheit der Sachverhalte keine Rechnung getragen, die darin lag, daß es sich einmal um die Entstehung, das andere Mal aber um den Wegfall eines Rentenanspruchs handelte, so daß mindestens nicht ohne weiteres eine rechtliche Gleichbehandlung gerechtfertigt war. Abgesehen von diesem Bedenken war die Entsch. 4866 auch insofern in sich widerspruchsvoll, als sie am Schlusse von dem am 1. Februar 1869 geborenen Versicherten sagte, daß dieser das 65. Lebensjahr am 1. Februar 1934 - statt, wie nach dem Vorhergehenden zu erwarten, am 31. Januar 1934 - vollendet hätte.
Wie die historische Entwicklung der Altersrente zeigt, hat der Gesetzgeber sowohl bei der ursprünglichen Rente vom vollendeten 70. Lebensjahre an als auch bei der späteren Altersinvalidenrente nach Vollendung des 65. Lebensjahres zur Voraussetzung des Rentenanspruchs gemacht, daß der Versicherte ein bestimmtes Lebensjahr vollendet hatte. Dabei wurde dem Versicherten, der im Laufe eines Monats die Altersgrenze erreichte, die Rente für diesen Monat auf den Tag genau nach Monatsbruchteilen berechnet, und es war niemals zweifelhaft, daß der erste anzurechnende Tag der Geburtstag war. Erst durch das Gesetz vom 13. Juli 1923 (RGBl. I S. 636) wurde die Rentenzahlung auf volle Kalendermonate umgestellt. Dabei wurde der Rentenbeginn zunächst auf den Anfang des Monats, 1932 jedoch auf das Ende des Monats verlegt, in dem die Anspruchsvoraussetzungen gegeben waren (4. NotVO vom 8.12.1931, 5. Teil Kap. IV § 7 - RGBl. I S. 699). Hierbei ist es bis zum Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) im wesentlichen geblieben. Während aller Änderungen hinsichtlich des Rentenbeginns ist aber die Grundvorschrift, wonach die Altersinvalidenrente (das Altersruhegeld) nur erhält, wer das 65. Lebensjahr vollendet hat, niemals geändert worden.
Die entstandenen Zweifel beruhen wesentlich darauf, daß derselbe Zeitpunkt als Beginn eines Tages mit 0,00 Uhr und als Ende des vorhergehenden Tages mit 24,00 Uhr bezeichnet zu werden pflegt. Soweit von der Vollendung eines bestimmten Lebensalters das Ende eines Zustandes (z.B. der Minderjährigkeit) oder das Ende einer Leistung (z.B. einer Waisenrente) abhängig ist, wird dieses Auslaufen durchaus sinnvoll mit dem Ende einer Frist, hier der Vollendung eines bestimmten Lebensalters, verknüpft; Schwierigkeiten können dabei nicht auftreten. Handelt es sich dagegen darum, den Beginn eines Zustandes oder einer Leistung festzulegen, so kann die Abhängigkeit von dem Ende einer Frist unmißverständlich nur so zum Ausdruck gebracht werden, daß der neue Zustand oder die zu gewährende Leistung anschließend an die Frist, d.h. nicht mit, sondern unmittelbar nach dem Ablauf der Frist beginnt. Die entstandenen Mißverständnisse wären vermeidbar gewesen, wenn die Gewährung des Altersruhegeldes an den Eintritt in ein bestimmtes Lebensalter geknüpft worden wäre statt an die Vollendung eines bestimmten Lebensalters. Wenn der Gesetzgeber sich trotzdem entsprechend dem seit jeher üblichen gesetzlichen Sprachgebrauch der letztgenannten Ausdrucksweise bedient und vorgeschrieben hat, daß Altersruhegeld der Versicherte erhält, der das 65. Lebensjahr vollendet hat, so kann doch auch bei dieser mißverständlichen Ausdrucksweise ein Rentenanspruch nur für die Zeit nach der Vollendung des 65. Lebensjahres entstehen. Das Fehlen einer klaren Unterscheidung zwischen Fristende und Fristbeginn hat zu den Schwierigkeiten geführt, die lange Zeit Rechtsprechung und Schrifttum (vgl. die o.a. Nachweise) beschäftigt haben.
Da es sich bei dem streitigen Anspruch um den Beginn einer Leistung handelt, kann dieser Beginn sinnvoll nur auf einen Zeitpunkt fallen, der entsprechend den für den Fristbeginn anzuwendenden Regeln festgelegt ist. Auch wenn deshalb das Gesetz die Rentengewährung von der Vollendung des 65. Lebensjahres abhängig macht, ist daraus nur der gesetzgeberische Wille zu entnehmen, daß der Rentenanspruch nach der Vollendung des 65. Lebensjahres, d.h. mit dem Eintritt in das 66. Lebensjahr, entstehen soll. Dann sind jedoch die Voraussetzungen zur Rentengewährung auch bei einem am ersten eines Monats geborenen Versicherten erst in diesem Monat (0,00 Uhr des Geburtstages) erfüllt, so daß das Altersruhegeld erst von diesem Tage an zu gewähren ist.
Die Beklagte hat somit zu Recht die Rente für den dem Geburtsmonat des Klägers vorhergehenden Monat versagt, so daß die Revision des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG. Oldenburg zurückzuweisen war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 1961, 699 |
MDR 1961, 357 |