Leitsatz (amtlich)

1. SGG § 87 regelt die Dauer der Klagefrist, sagt aber nichts darüber aus, auf welche Weise Bescheide - oder andere Verwaltungsakte - den Beteiligten übermittelt werden müssen, damit die Klagefrist in Lauf gesetzt wird; insbesondere enthält er nichts darüber, ob es hierzu einer Zustellung bedarf oder ob Bekanntgabe genügt. Vorschriften hierüber setzt er vielmehr voraus. Auf welche Weise Bescheide über Leistungen aus der Arbeiterrentenversicherung zu übermitteln sind, schreibt RVO § 1631 vor.

2. Wenn nach RVO § 1631 ein schriftlicher Bescheid "zu erteilen" ist, so bedeutet dies, daß der Bescheid zuzustellen ist.

 

Normenkette

SGG § 87 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1631 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. April 1960 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger begehrt die Gewährung des Altersruhegeldes aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Seinen dahingehenden Antrag, den er von seinem damaligen Wohnort Z... in Holland aus gestellt hatte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Oktober 1957 ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei, und ersuchte die Sociale Verzekeringsbank in A..., den Bescheid dem Kläger zuzustellen. Dieses Institut sandte den Bescheid am 21. November 1957 als gewöhnlichen Brief an den Kläger ab.

Am 4. März 1958 ging bei der Beklagten ein Schreiben des Klägers vom 26. Februar 1958 ein, in dem er ua ausführte: "Hiermit komme ich auf unsere Korrespondenz von vor einiger Zeit zurück. Ich war damals in der Zeit noch in Holland - Z... - bis zum 16. Januar d.J. An diesem Tage bin ich übergesiedelt nach H..., H.... Durch die Vorbereitungen hierzu und die ersten Tage hier in einer neuen Umgebung, wo eine Gaststätte aufzubauen war, blieb keine Zeit übrig, früher Einspruch zu erheben. Dies tue ich jetzt."

Das Sozialgericht (SG) und das Landessozialgericht (LSG) haben dieses Schreiben als Klage angesehen. Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Bescheid sei dem Kläger am 21. November 1957, als er seinen Wohnsitz noch in den Niederlanden, also im Ausland, gehabt habe, zugegangen; die in einem solchen Falle geltende Dreimonatsfrist zur Erhebung der Klage sei danach versäumt. Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil hat das LSG durch Urteil vom 29. April 1960 zurückgewiesen. Es hat dabei insbesondere ausgeführt, nach § 87 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) werde die Klagefrist durch Zustellung oder Bekanntgabe des Verwaltungsakts in Gang gesetzt. Sie betrage bei Zustellung oder Bekanntgabe außerhalb des Geltungsbereichs des SGG drei Monate. Es habe daher nicht einer Zustellung des Bescheides vom 19. Oktober 1957 bedurft, um die Dreimonatsfrist in Gang zu setzen, sofern nur die Bekanntgabe erfolgt sei. Die Bekanntgabe des Bescheides sei nicht streitig. Gegenstand des Rechtsstreits bilde vielmehr die Frage, ob der Kläger die mit der Bekanntgabe des Bescheides beginnende Klagefrist von drei Monaten eingehalten habe, mithin der Zeitpunkt der Bekanntgabe. In dieser Hinsicht sei erwiesen, daß der Kläger den Bescheid spätestens am 25. November 1957 erhalten habe. Diesen Schluß hat das LSG insbesondere aus dem in dem Schreiben vom 26. Februar 1958 zu Tage getretenen Bedürfnis des Klägers gezogen, seine Säumnis zu entschuldigen, ferner aus der Auskunft der Socialen Verzekeringsbank über die Absendung des Bescheides sowie aus dem nach seiner Meinung unklaren und widerspruchsvollen Vorbringen des Klägers, unter anderem bei seiner Anhörung in der letzten mündlichen Verhandlung. Daher sei die Klagefrist zur Zeit des Eingangs der Klage bei der Beklagten bereits abgelaufen gewesen. Das Urteil des SG sei mithin zu Recht ergangen. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht geltend gemacht und lägen auch nicht vor.

Mit der Revision gegen dieses Urteil hat der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG in Hamburg zurückzuverweisen.

Er rügt die Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und trägt dazu ua vor, der Übersendung des ablehnenden Bescheides durch die Sociale Verzekeringsbank in A... an ihn komme keine rechtliche Wirkung zu; es stehe fest, daß "der Bescheid niemals formell zugestellt worden" sei. Den Brief der Socialen Verzekeringsbank habe er auch nicht spätestens am 25. November 1957 erhalten, wovon das LSG irrtümlich ausgehe, sondern erst im Februar 1958. Dafür trete er durch Zeugen, die er jetzt benenne, Beweis an. Das LSG habe es unterlassen, durch Aufklärung und Belehrung bei ihm darauf hinzuwirken, daß der Zeitpunkt des Zugangs des Briefes aufgeklärt werde. Schließlich habe das LSG auf seine Schwerhörigkeit und seine "jedem sofort auffallende sprachliche Unbeholfenheit keine Rücksicht genommen."

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die behaupteten Verfahrensmängel lägen nicht vor; die Urteile des SG und des LSG seien zutreffend.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164 und 166 SGG). Sie ist auch nicht dadurch unzulässig geworden, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers die Vertretung niedergelegt hat und der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht durch einen anderen Prozeßbevollmächtigten vertreten war. Sie ist jedoch nicht statthaft.

Statthaft wäre sie - da das LSG sie nicht zugelassen hat und die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG schon der Sache nach nicht in Betracht kommen - nur dann, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt würde und vorläge (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150; 1, 254). Hieran fehlt es.

Mit dem Vorbringen, der Bescheid der Beklagten vom 19. Oktober 1957 sei ihm niemals förmlich zugestellt worden und er habe ihn auch nicht spätestens am 25. November 1957, sondern erst im Februar 1958 erhalten, macht der Kläger geltend, er habe die Klage rechtzeitig erhoben, und es sei deshalb unrichtig, wenn die Vorinstanzen ihn wegen verspäteter Klageerhebung abgewiesen und damit eine Prozeßabweisung vorgenommen hätten, statt eine sachlich-rechtliche Prüfung des von ihm erhobenen Anspruchs auf Altersruhegeld vorzunehmen. Damit rügt der Kläger einen wesentlichen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts. Ein solcher läge in der Tat vor, wenn das LSG eine vom SG zu Unrecht ausgesprochene Prozeßabweisung der Klage bestätigt und es deshalb unterlassen hätte, entweder selbst in der Sache zu entscheiden oder den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen (BSG 4, 200, 201).

Zu Recht hat jedoch das SG die Klage als verspätet betrachtet und deshalb abgewiesen, und zu Recht hat das LSG diese Entscheidung bestätigt.

Zwar kann dem LSG insofern nicht beigetreten werden, als es § 87 Abs. 1 SGG dahin ausgelegt hat, einer Zustellung des Bescheides vom 19. Oktober 1957 habe es nicht bedurft, um die Klagefrist in Lauf zu setzen; hierzu habe vielmehr die Bekanntgabe des Bescheides genügt. Das ist dem § 87 SGG nicht zu entnehmen. Diese Vorschrift regelt die Dauer der Klagefrist, sagt aber nichts darüber aus, auf welche Weise Bescheide - oder andere Verwaltungsakte - den Beteiligten übermittelt werden müssen, damit die Klagefrist in Lauf gesetzt wird; Vorschriften hierüber setzt sie vielmehr voraus. Dies zeigt bereits deutlich der zweite Absatz des § 87. Hier ist bestimmt, daß dann, wenn ein Vorverfahren stattgefunden hat, die Klagefrist mit der Zustellung des Widerspruchsbescheides beginnt. Nicht aus dieser Bestimmung folgt jedoch, daß Widerspruchsbescheide zuzustellen sind; das ist vielmehr in § 85 Abs. 3 Satz 1 SGG vorgeschrieben. Vorschriften über die Art der Übermittlung von Bescheiden wären in § 87 SGG auch nicht am rechten Platze, da das SGG grundsätzlich - eine Ausnahme bilden die Vorschriften der §§ 77 bis 86 über das Vorverfahren - allein die Verfassung und das Verfahren der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelt. Der Bescheid eines Versicherungsträgers hingegen ist nebst seiner Übermittlung Bestandteil des Verfahrens des Versicherungsträgers. In der Tat ist an anderer Stelle gesagt, auf welche Weise Bescheide der Versicherungsträger den Beteiligten zu übermitteln sind, und zwar für Bescheide über Leistungen aus der Arbeiterrentenversicherung - systematisch richtig - in § 1631 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Wenn hier bestimmt ist, es sei, wenn der Anspruch anerkannt oder abgelehnt wird, ein schriftlicher Bescheid "zu erteilen", so bedeutet dies, daß der Bescheid zuzustellen ist. Dies ergibt sich schon aus Abs. 4 des § 1631 RVO, der - in der Zwischenzeit inhaltlich zum Teil überholten - Vorschrift über die in den Bescheid aufzunehmende Rechtsbehelfsbelehrung; denn hier wird ausdrücklich von der "Zustellung" des Bescheides gesprochen, eine solche also als notwendig vorausgesetzt.

War hiernach für einen Bescheid wie den der Beklagten vom 19. Oktober 1957 grundsätzlich eine Zustellung vorgeschrieben, so bedurfte es doch im vorliegenden Falle einer Prüfung der Frage, ob die Zustellung in der rechten Weise durchgeführt worden ist, nicht. Es kommt nämlich, wenn nicht gesetzliche Vorschriften - wie jetzt § 9 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952, BGBl I 379 - entgegenstehen, der Grundsatz zur Anwendung, daß eine den Vorschriften nicht entsprechende Zustellung notfalls als an dem Tage erfolgt gilt, an dem - oder an dem spätestens - der Beteiligte das zuzustellende Schriftstück nachweislich empfangen hat (Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil 1, 16. Aufl. S. 258 Anm. 3 zu § 135 RVO mit weiteren Zitaten; RVO-Gesamtkomm. Anm. 1 zu § 135 RVO; vgl. auch § 9 Abs. 1 VwZG). Der Anwendung dieses Grundsatzes entgegenstehende gesetzliche Vorschriften galten in der hier in Rede stehenden Zeit, den Monaten Oktober und November 1957, für einen Bescheid wie den der Beklagten vom 19. Oktober 1957 nicht. Insbesondere das VwZG und damit sein § 9 Abs. 2 kommen für die Zustellung von Bescheiden der Beklagten unmittelbar deswegen nicht in Betracht, weil die Beklagte keine bundesunmittelbare, sondern eine landesunmittelbare Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ist (§ 1 Abs. 1 VwZG). Zwar gelten die Vorschriften dieses Gesetzes ferner, wenn Gesetze des Bundes oder eines Landes sie für anwendbar erklären (§ 1 Abs. 2 aaO). Für das Land Nordrhein-Westfalen, in dem die Beklagte ihren Sitz hat, ist dies jedoch erst durch § 1 des Landeszustellungsgesetzes vom 23. Juli 1957 (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen S. 213) angeordnet und dieses Gesetz ist nach seinem § 6 erst am 1. Januar 1958 in Kraft getreten.

Im vorliegenden Falle hat das LSG in einer für das Bundessozialgericht (BSG) bindenden Weise (§ 163 SGG) festgestellt, daß der Kläger den Bescheid vom 19. Oktober 1957 spätestens am 25. November 1957 erhalten hat. Spätestens an diesem Tage hat daher die dreimonatige Klagefrist des § 87 Abs. 1 Satz 2 SGG zu laufen begonnen, woraus folgt, daß die Klage verspätet war. Hat aber das LSG demnach mit Recht die Berufung zurückgewiesen und eine Entscheidung in der Sache selbst nicht getroffen, so liegt ein wesentlicher Mangel im Verfahren vor dem LSG nicht vor. Es ist auch nicht festzustellen, daß das LSG insoweit bei seiner Überzeugungsbildung etwa § 128 Abs. 1 SGG verletzt hätte. Das wäre nur dann der Fall, wenn es gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen Denkgesetze verstoßen hätte. Ein solcher Vorwurf kann dem LSG nicht gemacht werden. Das LSG hat auch nicht durch unzureichende Sachaufklärung § 103 SGG oder die Vorschrift des § 106 SGG verletzt. Der Streit ging immer nur um den Zeitpunkt des Zugangs des Bescheides vom 19. Oktober 1957. Es bestand deshalb für das LSG keine Veranlassung, den Kläger noch besonders in dieser Hinsicht aufzuklären und ihn in dieser Hinsicht zu belehren. Wenn der Kläger darüber hinaus in der Revisionsbegründung beantragt, erst jetzt angeblich ermittelte Zeugen zu vernehmen, so ist die Erhebung dieser Beweise im Revisionsverfahren nicht möglich. Schließlich ist auch nicht festzustellen, daß dem Kläger das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) nicht genügend gewährt worden wäre. Er hat sich nicht nur zu den streitigen Fragen schriftsätzlich geäußert; darüber hinaus ergibt die Sitzungsniederschrift des LSG vom 29. April 1960, daß er sehr eingehend befragt worden ist und sich ausführlich zu allen Fragen erklärt hat.

Da somit die Revision des Klägers nicht statthaft ist, mußte sie nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1962, 127

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