Entscheidungsstichwort (Thema)
Zustellung von Rentenbescheiden durch Bundesbahnbedienstete. Bedienstetenbegriff des § 5 Abs 1 VwZG. Zustellungsberechtigung nach § 5 Abs 1 VwZG. fehlerhafter Datumsvermerk
Orientierungssatz
1. Bescheide in Angelegenheiten der gesetzlichen Rentenversicherung der Arbeiter sind gemäß § 1631 Abs 1 S 1 RVO zuzustellen.
2. Zustellungen, die Bedienstete der Deutschen Bundesbahn im Auftrage der Bundesbahn-Versicherungsanstalt in den Diensträumen der Deutschen Bundesbahn vornehmen, entsprechen den Zustellungserfordernissen des § 5 Abs 1 S 1 VwZG.
3. Der Bedienstetenbegriff in § 5 VwZG ist nicht dienstrechtlich, sondern funktional zu verstehen, dh es genügt, wenn ein Bediensteter aufgrund der Behördenorganisation bestimmte Aufgaben - hier die Zustellung - wahrnehmen muß und im allgemeinen auch wahrnimmt.
4. Die Bundesbahn-Versicherungsanstalt ist berechtigt, Zustellungen nach § 5 Abs 1 VwZG vorzunehmen.
5. Die irrtümliche Angabe einer falschen Jahreszahl im Datumsvermerk gemäß § 5 Abs 1 S 3 VwZG, führt nicht dazu, daß die Rechtsmittelfrist gemäß § 9 Abs 2 VwZG nicht in Lauf gesetzt wird.
Normenkette
RVO § 1631 Abs 1 S 1; VwZG § 5 Abs 1 S 1, § 5 Abs 1 S 3, § 9 Abs 2, § 10
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin nimmt die Beklagte auf Gewährung von Erwerbsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. Juni 1965 bis zum 31. Oktober 1976 in Anspruch.
Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 17. Dezember 1965 ab 1. Juni 1965 Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Die Zustellung dieses Bescheides an die Klägerin erfolgte aufgrund eines entsprechenden Zustellungsersuchens der Bezirksleitung M der Beklagten an die Betreuungsstelle Bahnhof W. Am 29. Dezember 1965 händigte Betriebshauptsekretär J in den Diensträumen des Bahnhofs W das Schriftstück der Klägerin aus; die Klägerin unterschrieb eine mit dem Empfangsdatum "1965-12-29" versehene Empfangsbescheinigung.
Am 29. Oktober 1976 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, ihre Rente rückwirkend ab 1965 in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umzuwandeln. Sie machte ua geltend, die Beklagte hätte sie darauf aufmerksam machen müssen, daß die Rente nur auf Antrag umgewandelt werde.
Mit Bescheid vom 4. Januar 1977 bewilligte die Beklagte der Klägerin nach einem im Oktober 1976 eingetretenen Versicherungsfall ab 1. November 1976 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 1977).
Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Begehren auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bereits ab dem 1. Juni 1965 weiter verfolgt. Das Sozialgericht (SG) hat dem Klagebegehren mit Urteil vom 16. Januar 1980 entsprochen.
Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 8. Mai 1980 zurückgewiesen. Zur Begründung wird ausgeführt: Der Bescheid vom 17. Dezember 1965 sei für die Beteiligten noch nicht bindend geworden, die Klägerin habe ihr Klagerecht auch noch nicht verwirkt. Die Klagefrist des § 87 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sei nach § 9 Abs 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) nicht in Lauf gesetzt worden. Die Zustellungsart, die die Beklagte für den nach den §§ 3 ff VwZG zuzustellenden Bescheid gewählt habe, entspreche nicht den Anforderungen dieser Vorschriften. Dabei dürfe offen bleiben, ob die Beklagte überhaupt berechtigt sei, Zustellungen nach § 5 VwZG vorzunehmen. Entscheidend sei, daß die Zustellung durch einen Beamten der Deutschen Bundesbahn erfolgt sei. Deren Bedienstete könnten in Angelegenheiten der Rentenversicherung der Arbeiter keine wirksamen Zustellungen nach §§ 3 und 5 VwZG vornehmen. Ebensowenig könne § 66 Abs 2 SGG entsprechend angewendet werden. Unter Beachtung der Grundsätze, die der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Beschluß vom 10. Dezember 1976 aufgestellt habe, sei die Klage nach dem Ergebnis der im Jahre 1965 durchgeführten Ermittlungen der Beklagten auch begründet. Die Klägerin hätte nur dann auf Teilzeitarbeiten verwiesen werden dürfen, wenn ihr entweder die Beklagte oder aber das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages einen für sie in Betracht kommenden Arbeitsplatz hätten anbieten können. Das sei aber nicht der Fall gewesen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision trägt die Beklagte vor: Gemäß § 1360 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 30 ihrer Satzung stelle die Deutsche Bundesbahn ua die erforderlichen geeigneten Arbeitskräfte; ihre Aufgaben würden also von Bundesbahnbediensteten durchgeführt. Die gewählte Zustellungsart entspreche § 5 VwZG. Damit sei der Bescheid vom 17. Dezember 1965 ordnungsgemäß zugestellt und bindend geworden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom
16. Januar 1980 sowie das Urteil des
Landessozialgerichts Niedersachsen vom 8. Mai 1980
aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im wesentlichen begründet.
Entgegen der von den Vorinstanzen vertretenen Auffassung ist der Bescheid der Beklagten vom 17. Dezember 1965 mit dem Rechtsmittel der Klage nicht mehr anfechtbar (§ 87 Abs 1 Satz 1 SGG).
Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 17. Dezember 1965 über die Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit aufgrund der in § 1631 Abs 1 und Abs 4 Satz 1 RVO aF getroffenen Regelung förmlich zugestellt werden mußte. Nicht gefolgt werden kann dem Berufungsgericht jedoch insofern, als es die von der Beklagten gewählte (vgl § 2 Abs 2 VwZG) Zustellungsart der "Zustellung durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis" nach § 5 Abs 1 VwZG als nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechend erachtet hat.
Satz 1 der in § 5 Abs 1 VwZG zwingend vorgeschriebenen Zustellungserfordernisse verlangt, daß der zustellende Bedienstete dem Empfänger das Schriftstück aushändigt. Daß es sich dabei um eigene Bedienstete der Behörde handeln müsse, läßt sich dem Gesetzeswortlaut jedenfalls nicht unbedingt entnehmen. Dieser Auffassung läßt sich zumindest entgegenhalten, daß in diesem in § 5 Abs 1 Satz 1 VwZG aufgeführten Merkmal nicht der wesentliche Unterschied zu der Zustellungsart nach § 3 VwZG durch die Post mit Zustellungsurkunde liegt. Dieser besteht vielmehr darin, daß die Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks nicht vom Überbringer, dem Postbediensteten, beurkundet (§ 3 Abs 2 Satz 1 VwZG), sondern vom Empfänger selbst bescheinigt und vom Bediensteten vermerkt wird (§ 5 Abs 1 Satz 2 und 3 VwZG).
Aber selbst wenn für die in § 5 Abs 1 VwZG festgelegte Zustellungsart das Tätigwerden eines eigenen Behördenbediensteten zu fordern ist, so fehlt es nicht an dieser Voraussetzung. Denn nach § 30 Abs 1 der Satzung der Beklagten stellt die Deutsche Bundesbahn die für die Geschäftsführung notwendigen, geeigneten Arbeitskräfte und Arbeitsräume zur Verfügung und bestreitet den sonstigen Personal- und Sachaufwand für die laufende Geschäftsführung. In dieser Funktion sind die Beschäftigten der Deutschen Bundesbahn dann Bedienstete der Beklagten.
Ein Widerspruch dieses in der Satzung vorgesehenen Zustellungsverfahrens zu der Vorschrift des § 5 Abs 1 VwZG besteht nicht. "Bedienstete" iS dieser Vorschrift ist zumindest jeder in einer Betreuungsstelle tätige Angehörige der Deutschen Bundesbahn, der von der Beklagten mit der Zustellung eines Bescheides beauftragt wird. Insoweit ist dieser Bedienstete von der Deutschen Bundesbahn der Beklagten zur Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung gestellt. Der Bedienstetenbegriff in § 5 VwZG ist hier nicht dienstrechtlich, sondern funktional zu verstehen, dh es genügt, wenn ein Bediensteter aufgrund der Behördenorganisation bestimmte Aufgaben - hier die Zustellung - wahrnehmen muß und im allgemeinen auch wahrnimmt. Gegenteiliges ergibt sich nicht aus der vom LSG herangezogenen Entscheidung des BSG vom 19. Oktober 1961 (12/3 RJ 184/60 = SozR Nr 6 zu § 87 SGG), weil dort keine Aussage über die Art der Zustellung, insbesondere im Bereich der Beklagten getroffen ist. Zu den Aufgaben der Betreuungsstelle gehörte hier im Rahmen der Betreuung von Bundesbahnbediensteten auch die Zustellung von Rentenbescheiden. An sie war das Zustellungsersuchen gerichtet; sie hat die Zustellung zusammen mit dem Bescheid über die Zusatzrente (§ 70 der Satzung der Beklagten) bewirkt. Insoweit wurden die Bediensteten der Betreuungsstelle wie in anderen vergleichbaren Fällen im Rahmen des § 30 der Satzung der Beklagten für diese tätig.
Die vom LSG offengelassene - vom SG im verneinenden Sinne beantwortete - Frage, ob die Beklagte überhaupt berechtigt sei, Zustellungen nach § 5 Abs 1 VwZG vorzunehmen, ist zu bejahen. Die Beklagte ist eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts (vgl § 1360 Abs 1 Nr 1, Abs 2 RVO, § 1 Satz 2 der Satzung).
Damit ist sie selbst keine Behörde, und zwar auch nicht im materiellen Sinne, wie das SG meint, das heißt, keine Stelle, die selbst Aufgaben öffentlicher Verwaltung tatsächlich wahrnehmen kann (vgl § 1 Abs 2 des 10. Buches des Sozialgesetzbuches -SGB 10-; § 1 Abs 4 Verwaltungsverfahrensgesetz -VwVfG-). Die Beklagte verfügt aber als Träger öffentlicher Verwaltung der Behörden, zB die Bezirksleitungen (vgl § 29 der Satzung), die mit Außenzuständigkeit für die Vornahme konkreter Rechtshandlungen gegenüber dritten Rechtssubjekten zuständig sind (vgl Forsthoff, Verwaltungsrecht, 10. Aufl, S 443; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl, § 76 I d).
Die Auffassung, einer bundesunmittelbaren Körperschaft des öffentlichen Rechts die in § 5 Abs 1 VwZG vorgesehene Zustellungsmöglichkeit zu versagen, läßt sich durch eine bloße Gegenüberstellung der Absätze 1 und 2 des § 5 VwZG nicht rechtfertigen (so Peters/Sautter/Wolff, SGG, 4. Aufl, § 63 Erläuterung zu § 5 VwZG). Vielmehr waren die unterschiedlichen Formulierungen in den beiden Absätzen vom Begriffsinhalt her gesehen zwangsläufig so vorzunehmen. Denn eine Körperschaft ist selbst nicht in der Lage zuzustellen, dh nach außen handelnd tätig zu werden; daraus erklärt sich die Verwendung des Begriffs "Behörde" als für die Körperschaft handelndes Organ in § 5 Abs 1 VwZG. Die Körperschaft als juristische Person des öffentlichen Rechts kann aber sehr wohl Zustellungsempfänger sein ebenso wie die anderen in § 5 Abs 2 VwZG aufgeführten Zustellungsadressaten.
Hinzu kommt, daß diese Auffassung sich auch im Widerspruch zu der in § 5 Abs 1 VwZG getroffenen Regelung befindet. Danach gelten für das Zustellungsverfahren der bundesunmittelbaren Körperschaften die Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes, ohne daß bestimmte Ausnahmen normiert sind.
Die von der Beklagten vorgenommene Zustellung entspricht auch den sonstigen in § 5 Abs 1 VwZG vorgeschriebenen Zustellungserfordernissen.
Ausweislich der Rentenakten hatte die Klägerin eine mit dem Aushändigungsdatum "1965-12-29" versehene Empfangsbescheinigung unterschrieben; damit ist den in § 5 Abs 1 Nr 2 VwZG vorgeschriebenen Anforderungen genügt. Es fehlt auch nicht an dem - zusätzlich - nach § 5 Abs 1 Satz 3 VwZG auf dem Schriftstück selbst vorzunehmenden Aktenvermerk über das Datum der Zustellung. Das ergibt sich aus der von der Klägerin im Berufungsverfahren eingereichten Ablichtung des Bescheides vom 17. Dezember 1965. Allerdings hat Betriebshauptsekretär J in dem Vermerk eine falsche Jahreszahl angegeben, nämlich das Jahr 1966. Anders als in dem Falle, in dem der zwingend vorgeschriebene Datumsvermerk gänzlich unterblieben ist (vgl den Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfen des Bundes vom 9. November 1976 - GmS - OGB 2/75 in NjW 1977, 621), kann dieser Sachverhalt aber nicht dazu führen, daß die Rechtsmittelfrist gem § 9 Abs 2 VwZG nicht in Lauf gesetzt wird. Denn zwingend vorgeschrieben ist nur der Vermerk als solcher. Dieses zwingende Handlungsgebot ist aber nicht verletzt worden.
Die irrtümliche Angabe einer falschen Jahreszahl kann auch dem gänzlichen Fehlen der Datumsangabe nicht gleichgesetzt werden. Die "doppelte Sicherung", Angabe des Zustelldatums im Empfangsbekenntnis und auf dem zuzustellenden Schriftstück, um das Zustelldatum nachträglich feststellen zu können, wird zumindest dann nicht hinfällig, wenn sich - wie hier - aus dem Bescheiddatum ergibt, daß es sich bei der Jahresangabe um ein offensichtliches Versehen handelt.
Schließlich ist auch nicht zu beanstanden, daß der Bescheid der Klägerin in den Diensträumen des Bahnhofs W ausgehändigt worden ist. Nach § 10 VwZG kann bei der Zustellung durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis die Zustellung an jedem Ort bewirkt werden, an dem der Empfänger angetroffen wird.
Das Klagebegehren läßt sich auch nicht unter dem Blickwinkel fehlender Aufklärung und Beratung seitens der Beklagten aufgrund eines - insoweit in Betracht zu ziehenden - sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs rechtfertigen. Eine für den Versicherungsträger aus dem Versicherungsverhältnis erwachsende (Neben-)Pflicht zur Aufklärung und Beratung des Versicherten besteht regelmäßig nur bei einem konkreten Anlaß, dh insbesondere dann, wenn sich der Versicherte mit einem entsprechenden Ersuchen an ihn wendet.
Soweit die Klägerin die Beklagte auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für den Monat Oktober 1976 in Anspruch nimmt, war der Revision hingegen der Erfolg zu versagen. In Anwendung des § 1290 Abs 2 RVO war die Rente bereits zu Beginn des Antragsmonats zu gewähren. Das Berufungsgericht ist - in Übereinstimmung mit dem SG - von einer bereits im Juni 1965 bestehenden Erwerbsunfähigkeit der Klägerin ausgegangen. An die dieser Beurteilung zugrunde liegenden, von der Revision nicht angegriffenen Tatsachenfeststellungen ist der Senat gebunden (§ 163 SGG). Damit liegt der am 29. Oktober 1976 von der Klägerin gestellte Antrag zeitlich später als drei Monate nach Eintritt der Erwerbsunfähigkeit, die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit steht ihr mithin bereits ab 1. Oktober 1976 zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen