Leitsatz (amtlich)
Eine nach altem Recht (RVO § 593 aF) gewährte Elternrente kann nach Inkrafttreten des UVNG nicht entzogen werden, wenn ihre Anspruchsvoraussetzungen nach neuem Recht (RVO § 596 nF) noch gegeben sind.
Normenkette
RVO § 593 Fassung: 1924-12-15, § 596 Fassung: 1963-04-30, § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Juni 1966 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der von der beklagten Berufsgenossenschaft mit Ablauf des Monats Dezember 1963 ausgesprochenen Entziehung einer Elternrente.
Die Klägerin ist die Mutter des im Untertagebetrieb einer Zeche am 27. Januar 1950 tödlich verunglückten Gedingeschleppers Bernhard K (geboren am 5. März 1930). Die Ehe der Klägerin ist durch rechtskräftiges Urteil des Landgerichts Essen vom 17. Februar 1948 - 13 R 661/47 - aus Verschulden des Ehemannes geschieden worden. Die Klägerin hat noch zwei Kinder, den Sohn Rolf, geboren am 6. März 1931, und die Tochter Lore, geboren am 27. Juli 1936. Der geschiedene Ehemann leistet der Klägerin monatlich DM 40,- Unterhalt.
Gemäß Bescheid der Beklagten vom 12. Mai 1950 gewährte diese der Klägerin vom Todestage des Sohnes Bernhard an die Rente für Verwandte der aufsteigenden Linie. Diese Rente entzog die Beklagte der Klägerin durch Bescheid vom 10. Juli 1954 mit Ablauf des Monats August 1954, weil der Sohn Rolf einen Verdienst von monatlich über 400,- DM habe und zum Unterhalt seiner Mutter wesentlich beitragen müsse, so daß Bedürftigkeit i. S. des § 593 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF nicht mehr angenommen werden könne, zumal die Klägerin noch einen Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen Ehemann habe. Durch Bescheid vom 8. Mai 1961 gewährte die Beklagte der Klägerin mit Wirkung vom 1. Dezember 1960 an wieder die Elternrente, weil der Sohn Rolf nach Kanada ausgewandert war und angeblich keinen Unterhalt mehr an seine Mutter leistete. Mit Bescheid vom 28. November 1963 entzog die Beklagte wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse (§ 622 RVO nF) mit Ablauf des Monats Dezember 1963 die Elternrente mit der Begründung, der Sohn Rolf sei wieder in die Bundesrepublik zurückgekehrt, habe ein monatliches Brutto-Einkommen von mehr als 800,- DM und beziehe ferner von der See-Berufsgenossenschaft eine Rente in Höhe von 66,80 DM monatlich. Er habe danach zum Unterhalt der Mutter wesentlich beizutragen. Außerdem erhalte der zum Unterhalt verpflichtete geschiedene Ehemann von der Ruhrknappschaft ein Knappschaftsruhegeld von monatlich rund 425,- DM, so daß auch gegen ihn Unterhaltsansprüche mit Erfolg erhoben werden könnten. Es bestehe deshalb kein Anspruch auf Gewährung von Elternrente i. S. des § 596 RVO nF mehr.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) abgewiesen hat. Das Landessozialgericht (LSG) hat die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Nach der hier anzuwendenden Vorschrift des § 593 RVO aF werde Elternrente nur für die Dauer der Bedürftigkeit gewährt. Die Bedürftigkeit der Klägerin sei bei einem monatlichen Netto-Einkommen ihres Sohnes Rolf von ca. 660,- DM und ihrem Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen Ehemann, dessen Knappschaftsruhegeld wenigstens 500,- DM monatlich ausmache, spätestens seit Herbst 1963 fortgefallen. Deshalb habe die Beklagte die Elternrente zu Recht mit Ablauf des Monats Dezember 1963 entzogen. § 596 RVO nF finde keine Anwendung, weil der Sohn Bernhard vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - (1. Juli 1963) gestorben sei. Diese Vorschrift komme aber auch deshalb nicht in Betracht, weil dieser Sohn als der ältere wahrscheinlich wegen Verheiratung aus der Unterhaltspflicht ausgeschieden wäre und wahrscheinlich der jüngere unverheiratete Sohn Rolf allein unterhaltspflichtig geworden wäre.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Klägerin,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 22. April 1965 sowie des Bescheides der Beklagten vom 28. November 1963 die Beklagte zu verurteilen, ihr Elternrente über den Entziehungszeitpunkt hinaus zu gewähren.
Sie trägt vor: Das Urteil des LSG werde von ihr insoweit nicht angegriffen, als es davon ausgehe, daß bei ihr Bedürftigkeit im Herbst 1963 - also nach Inkrafttreten des UVNG fortgefallen sei. Wenn dies der Fall sei, könne § 593 RVO aF keine Anwendung finden; denn diese Vorschrift sei mit dem 30. Juni 1963 gegenstandslos geworden. Nach neuem Recht sei die Frage der Bedürftigkeit bei der Elternrente ohne Bedeutung. Infolgedessen komme es entgegen der Auffassung des LSG auf den Fortfall der "Bedürftigkeit" rechtserheblich gar nicht mehr an. Nach der jetzt maßgebenden Vorschrift des § 596 RVO nF sei allein entscheidend, ob der Verstorbene seine Mutter "ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würde". Als Unterhaltsverpflichtete kämen der geschiedene Ehemann, der Sohn Rolf und fiktiv der verstorbene Sohn Bernhard in Betracht. Der Sohn Bernhard hätte nach allgemeiner Lebenserfahrung eine gutbezahlte Stellung im Bergbau erreicht, die es ihm ermöglicht hätte, mindestens 100,- DM monatlich für seine Mutter als Unterhalt zu zahlen. Wenn das LSG davon ausgehe, daß der Sohn Rolf monatlich 200,- DM aufbringen könne, dann würde, wenn man den Sohn Bernhard berücksichtige, jeder von ihnen etwa 100,- DM monatlich als Unterhalt für die Klägerin aufzubringen haben. Ein solcher Beitrag aber sei "wesentlich" i. S. des § 596 RVO nF.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß Rechtsgrundlage für die Entziehung der Rente die §§ 622, 623 RVO nF i. V. m. Art. 4 § 2 UVNG vom 30. April 1963 (BGBl I 241) sind. Es hat aber zu Unrecht angenommen, daß § 596 RVO nF auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Nach dieser durch das UVNG mit Wirkung vom 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) in die RVO eingefügten Vorschrift, die an die Stelle des bisherigen § 593 RVO getreten ist, haben die Eltern eines durch Arbeitsunfall Verstorbenen Anspruch auf Rente, wenn er sie aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterhalten hat oder ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würde, solange sie ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt hätten geltend machen können. Allerdings gilt nach Art. 4 § 1 UVNG das neue Recht nur für Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten, also seit dem 1. Juli 1963, ereignet haben. Dies entspricht einem allgemein geltenden Rechtsgrundsatz, wonach Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber schon vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, von der Rechtsänderung nicht erfaßt werden, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach seinen Geltungsbereich auf diese Sachverhalte erstreckt. Der Gesetzgeber kann nach seinem sachgemäßen Ermessen das neue Recht auf bereits vorliegende Sachverhalte ausdehnen; dies ist in der Übergangsregelung des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG geschehen. Nach dieser Vorschrift, die den Art. 4 § 1 UVNG ergänzt, gelten die in ihr aufgeführten Vorschriften (darunter auch § 596 RVO) auch für Arbeitsunfälle, die vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten sind. Als Übergangsvorschrift soll Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG im Rahmen der von ihm erfaßten Vorschriften die bisher auf altem Recht beruhende rechtliche Beurteilung der Folgen früherer Arbeitsunfälle in das durch das UVNG geschaffene neue Recht überleiten. Für diesen Übergang ist erforderlich, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt (BSG 23, 139, 142; 24, 88, 90; 25, 249, 250). Das trifft aber hier zu, weil der Klägerin beim Inkrafttreten des neuen Rechts die Rente bereits auf Grund alten Rechts zustand und ihr auch tatsächlich gewährt wurde. In einem solchen Fall steht der Umstand, daß nicht nur der Arbeitsunfall, sondern auch der dadurch bedingte Tod des Versicherten vor Inkrafttreten des UVNG eingetreten ist, der Anwendung des neuen Rechts nicht entgegen.
Die Anwendung neuen Rechts ist im vorliegenden Fall aber auch sachlich geboten. Es handelt sich bei der Gesetzesänderung eindeutig um eine Besserstellung der Eltern eines Versicherten, der infolge eines Arbeitsunfalls gestorben ist. Wenn der Gesetzgeber diese erleichterte Rentengewährung auch nicht unbeschränkt rückwirkend für alle Eltern früher gestorbener Unfallopfer gelten lassen wollte, so entspricht es doch wohl seinem Willen, daß denjenigen, die bereits auf Grund des strengeren alten Rechts eine Rente bezogen, diese Rente nicht entzogen werden soll, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung nach neuem Recht noch gegeben sind. Denn die Entziehung einer Leistung aus der Sozialversicherung ist ein wesentlich härterer sozialer Eingriff als ihre Nichtgewährung. Es liegt daher näher, diejenigen, die bisher schon nach altem Recht eine Elternrente bezogen, denjenigen gleichzustellen, die auf Grund eines nach Inkrafttreten des UVNG eingetretenen Todesfalles einen Rentenanspruch geltend machen, als denjenigen, denen nach altem Recht ein solcher Anspruch nicht zustand. Hierfür sprechen zudem Gründe praktischer Natur. Wollte man die Fortdauer einer nach altem Recht bewilligten Rente auch nach dem Inkrafttreten des UVNG noch nach den Vorschriften des alten Rechts (hier § 593 RVO) beurteilen, so wären die Versicherungsträger gezwungen, noch lange Zeit nebeneinander auf laufende Leistungen teils altes, teils neues Recht anzuwenden. Das wäre aber mit dem Gedanken einer praktikablen Rechtsanwendung kaum vereinbar. Deshalb kann, wenn es sich, wie hier, um die Entziehung einer laufenden Rente handelt, bei Prüfung des Tatbestandsmerkmals der "wesentlichen Änderung" i. S. des § 622 RVO nF die Frage der Bedürftigkeit des bisherigen § 593 RVO, die nach neuem Recht (§ 596 RVO) bei einer Elternrente nicht vorausgesetzt wird, nicht mehr herangezogen werden. Für die von der Beklagten nach § 622, § 623 RVO zu treffende Entscheidung kam es daher auf die Frage nach dem Fortfall der Bedürftigkeit rechtserheblich überhaupt nicht mehr an.
Die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits hängt mithin davon ab, einmal ob der an den Folgen des Unfalls gestorbene Sohn Bernhard die Klägerin "ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würde", und zum anderen, wie lange die Klägerin "ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt hätte geltend machen können" (§ 596 RVO nF). Hinsichtlich dieser Umstände fehlen bisher die dazu im einzelnen erforderlichen tatsächlichen Feststellungen. Das LSG hat zwar als Hilfsbegründung in den Entscheidungsgründen ausgeführt, die Rentenentziehung sei auch nach neuem Recht zutreffend gewesen, weil der Sohn Bernhard "wahrscheinlich" wegen Verheiratung aus der Unterhaltspflicht ausgeschieden wäre und der jüngere unverheiratete Bruder Rudolf "wahrscheinlich" hätte an seine Stelle treten müssen. Die Revision wendet sich schon im Hinblick auf den geringen Altersunterschied der beiden Söhne (ein Jahr) mit Recht gegen diese Ausführungen. Es handelt sich jedoch dabei, zumal das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus keine ins einzelne gehenden tatsächlichen Feststellungen zu treffen brauchte, nur um allgemein gehaltene Ausführungen und nicht um tatsächliche Feststellungen, die für den Ausgang des Rechtsstreits erheblich wären. Hinzukommt, daß als Unterhaltsverpflichteter weiter neben den beiden Söhnen - und zwar grundsätzlich vor ihnen (§ 63 des Ehegesetzes) - der geschiedene Ehemann der Klägerin in Betracht kommt und daß die Klägerin selbst auch noch Grundbesitz hat, wie den Gründen des angefochtenen Urteils zu entnehmen ist. Das LSG wird danach für die zu treffende Entscheidung insbesondere ermitteln müssen, ob auch der verstorbene Sohn Bernhard - möglicherweise neben anderen Unterhaltspflichtigen - noch zum Unterhalt der Klägerin in wesentlichem Umfang hätte beitragen müssen. Damit die gebotenen weiteren Ermittlungen angestellt werden können, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen