Leitsatz (amtlich)

Eine Elternrente kann mehr als 20 Jahre nach der mutmaßlichen Eheschließung des durch Arbeitsunfall tödlich verletzten ledigen Versicherten nicht wegen mutmaßlichen Wegfalls der Unterhaltsfähigkeit des Verstorbenen entzogen werden, wenn kein Anhalt dafür besteht, daß der Verstorbene in diesem Zeitpunkt zur Unterhaltsleistung außerstande wäre.

 

Normenkette

RVO § 596 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten, durch den die der Klägerin im Jahre 1948 gewährte Elternrente vom 1. August 1971 an entzogen worden ist.

Die 1894 geborene Klägerin ist die Mutter des am 14. Februar 1919 geborenen und am 20. März 1947 an den Folgen eines Arbeitsunfalls gestorbenen unverheirateten Monteurs Johannes D. Durch Bescheid vom 11. Februar 1948 gewährte ihr die Beklagte für die Zeit vom 20. März 1947 an eine Elternrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Die Klägerin war ohne eigenes Einkommen und hauptsächlich von ihrem verstorbenen Sohn unterstützt worden. An ihrem Unterhalt beteiligte sich außerdem ihr 1917 geborener damals noch lediger Sohn Reinhold, von Beruf Schneidermeister. Der 1922 geborene Sohn Sieghard (Bäcker) war bereits verheiratet, 1947 war er arbeitsunfähig erkrankt. Die Klägerin ist seit 1931 von ihrem Ehemann geschieden, der aus zweiter Ehe vier Kinder hat und zur Unterhaltsleistung nicht in der Lage war.

Die Klägerin verdiente zeitweilig als Hausschneiderin DM 50,- bis 60,- monatlich und bezieht seit 1959 ein Altersruhegeld aus der Angestelltenversicherung. Das Altersruhegeld betrug im Jahre 1963 DM 41,80 und im Jahre 1968 DM 159,50. Eine Kriegsschadensrente, die im Jahre 1963 DM 43,- betrug, ruht seit 1968.

Durch Bescheid vom 16. Mai 1968 entzog die Beklagte der Klägerin die Elternrente mit der Begründung, es sei anzunehmen, daß der verstorbene Sohn erfahrungsgemäß ohne den Unfall eine Familie gegründet und wegen der damit verbundenen Unterhaltspflicht gegenüber Ehefrau und Kindern aller Erfahrung nach nicht mehr in der Lage gewesen sein würde, zum Unterhalt seiner Mutter beizutragen. Dieser Bescheid wurde durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Lübeck vom 13. Januar 1970 rechtskräftig aufgehoben, da die Entziehung der Rente auf einer unbewiesenen Hypothese beruhe.

Im Jahre 1971 betrug das Ruhegeld der Klägerin DM 198,- monatlich. Der Sohn Reinhold ist nach Scheidung seiner ersten Ehe seit dem 14. März 1971 verwitwet.

Durch Bescheid vom 25. Juni 1971 entzog die Beklagte die Elternrente mit Ablauf des Monats Juli 1971. In den Gründen ist ausgeführt, Reinhold D sei in der Lage, seine Mutter zu unterhalten, denn er sei verwitwet, selbständiger Schneidermeister, habe keine Kinder zu unterhalten und bewohne ein eigenes Reihenhaus mit mindestens drei Zimmern und einer Küche. Damit sei in den für die Gewährung der Elternrente maßgebenden Verhältnissen eine wesentliche Änderung im Sinne von § 622 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eingetreten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage. Nach Vernehmung von Reinhold und Sieghard D hat das SG Lübeck durch Urteil vom 1. August 1972 den Bescheid der Beklagten aufgehoben: Die im Klageverfahren von der Beklagten vertretene Ansicht, der verstorbene Sohn der Klägerin wäre inzwischen verheiratet und deshalb zur Bestreitung des Unterhalts der Klägerin außerstande, sei ein Hypothese und bedeute keine Änderung der Verhältnisse. Eine Änderung sei auch nicht dadurch eingetreten, daß der Sohn Reinhold seit dem 14. März 1971 verwitwet sei; er sei zwar Miterbe eines Reihenhauses, dieses sei jedoch mit Hypotheken belastet; seit März 1972 müsse er Steuerrückstände in Höhe von mehr als DM 3.700,- mit monatlichen Raten von DM 50,- abtragen. Der Sohn Sieghard - kinderlos verheiratet - verdiene zwar monatlich DM 1.050,- netto, habe aber im April 1972 im Begriff gestanden, einen eigenen Hausstand zu gründen. Auch er könne deshalb zum Unterhalt der Klägerin nicht beitragen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 6. Dezember 1973 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Eine wesentliche Änderung der für die Feststellung der Elternrente maßgebend gewesenen Verhältnisse sei nicht eingetreten. Nach § 593 RVO aF sei es für die Feststellung der Leistung darauf angekommen, daß der Verstorbene den Antragsteller aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterhalten habe. Bei Erfüllung dieser Voraussetzung, die ihrer Natur nach keiner Veränderung unterliege, habe der Anspruch auf Hinterbliebenenrente "für die Dauer der Bedürftigkeit" bestanden. In bezug auf diese Anspruchsvoraussetzung sei keine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten. Die Klägerin sei nach wie vor nicht in der Lage, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie habe gegen ihre noch lebenden Söhne auch keine Unterhaltsansprüche, deren Realisierung ihre Bedürftigkeit beheben würde. Der älteste Sohn - Reinhold - habe als selbständiger Schneidermeister in den Jahren 1970 und 1971 Einkünfte aus Gewerbebetrieb von jährlich etwa DM 9.000,- gehabt, seine Steuerrückstände hätten rd. DM 3.700,- betragen und seien von März 1972 an mit monatlich DM 50,- zu tilgen; er sei nur Miteigentümer des von ihm bewohnten und mit DM 80.000,- belasteten Reiheneigenheims und besitze kein verwertbares Vermögen. Er lebe somit in Einkommens- und Vermögensverhältnissen, die den angemessenen Unterhalt eines Schneidermeisters nicht deckten. Eine Unterhaltspflicht gegenüber der Klägerin entfalle somit nach § 1603 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Der jüngste Sohn - Sieghard - habe zwar im April 1972 einen monatlichen Nettoverdienst von rd. DM 1.050,- gehabt und über ein Sparguthaben von DM 9.000,- verfügt. Diese Einkünfte seien jedoch nicht so hoch, daß sie die für den angemessenen Unterhalt eines Konditormeisters erforderlichen Mittel überstiegen. Davon unabhängig benötige der jüngste Sohn diese Mittel auch, um einen Nachholbedarf in der Anschaffung von Möbeln zu decken. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei auch insoweit nicht eingetreten. Nach § 593 RVO aF komme es auf die hypothetische Leistungsfähigkeit des durch den Arbeitsunfall Verstorbene nicht an. Deshalb sei es unerheblich, ob der Sohn ohne den Unfall eine Familie gegründet hätte und seine Fähigkeit zur Leistung von Unterhalt an die Klägerin dadurch aufgehoben wäre. Eine die Rentenentziehung rechtfertigende wesentliche Änderung im Sinne des § 622 Abs. 1 RVO liege auch nicht darin, daß § 593 RVO aF durch § 596 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) ersetzt worden sei. Neufeststellungen zum Nachteil des Leistungsempfängers ließen sich auf eine Gesetzesänderung nur stützen, wenn das neue Recht die Anspruchsvoraussetzungen einenge. Das sei hinsichtlich der Neuregelung des Anspruchs auf Elternrente in § 596 RVO nicht der Fall. § 596 RVO habe vielmehr die Rechtsposition der Betroffener verbessert, soweit es abweichend von § 593 RVO aF genüge, daß der Verstorbene in einer Zeit nach dem Unfall Unterhalt geleistet hätte. In dieser Hinsicht erlange die hypothetische Entwicklung der Einkommensverhältnisse des Verstorbenen zwar eine alternative Bedeutung.

Aus dieser Verbesserung der Rechtsposition der hinterbliebenen Eltern könne hingegen nicht gefolgert werden, daß der Anspruch auf die Dauer der hypothetischen Leistungsfähigkeit habe beschränkt werden sollen. Nach seinem Wortlaut lasse § 596 RVO sich dahin verstehen, daß es - wie nach altem Recht - nur darauf ankomme, ob die Voraussetzungen für die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen in der Person der Eltern vorlägen, d.h. ob die Eltern noch bedürftig seien. Die Entstehungsgeschichte gebe Anlaß zu der Annahme, daß der Gesetzgeber die Neufassung der Vorschrift über die Elternrente nur in dem Bemühen vorgenommen habe, ein Synonym für das Wort "Bedürftigkeit" zu finden. Eine Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen sei nicht beabsichtigt gewesen. Auch nach der Auffassung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR Nr. 3 zu § 622 RVO) handele es sich bei der Neuregelung des Rechts auf Elternrente eindeutig um eine Besserstellung der Eltern. Das Ergebnis der Auslegung des § 596 RVO stehe im Einklang mit den Grundgedanken, die der Regelung von Hinterbliebenenrenten in den §§ 590, 592, 595, 1264, 1265, 1266, 1267 RVO zugrundelägen, nach denen es hinsichtlich der für den Grund sowie die Höhe und Dauer der Leistung maßgebenden Umstände auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Todes des Versicherten ankomme.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und wie folgt begründet: Das LSG habe verkannt, daß zwar die beiden Söhne der Klägerin nicht jeweils allein, wohl aber zusammen in der Lage seien, zum Unterhalt der Klägerin beizusteuern, so daß diese mit ihrem - wenn auch geringen - Altersruhegeld über die Grenze der Bedürftigkeit im Sinne des § 593 RVO aF hinausgehoben werde. Selbst wenn aber die Klägerin noch als bedürftig anzusehen sei, liege eine zur Entziehung berechtigende wesentliche Änderung in dem Inkrafttreten der hier anwendbaren Vorschrift des § 596 RVO. Der verunglückte Sohn der Klägerin, der im Zeitpunkt des Entziehungsbescheides 52 Jahre alt gewesen wäre, hätte nach aller Wahrscheinlichkeit inzwischen geheiratet und deshalb für seine Frau, vermutlich auch für Kinder zu sorgen gehabt. Zumindest von diesem Zeitpunkt an sei deshalb der Elternrentenanspruch aus § 596 RVO fortgefallen.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da die Beteiligten ihr Einverständnis hierzu erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Bescheid vom 25. Juni 1971, durch den die Beklagte die im Jahre 1948 gewährte Elternrente entzogen hat, rechtswidrig ist. Die gesetzlichen Voraussetzungen einer Neufeststellung der Rente (§ 622 der RVO) liegen nicht vor.

Im Zeitpunkt der Rentengewährung im Jahre 1948 war nach § 593 RVO in der Fassung vor dem Inkrafttreten des UVNG vom 30. April 1963 - BGBl I 241 - (RVO aF) Verwandten der aufsteigenden Linie, die der Verstorbene wesentlich aus seinem Arbeitsverdienst unterhalten hatte, für die Dauer der Bedürftigkeit eine Rente zu gewähren. Der Anspruch auf Gewährung einer sog. Elternrente hing danach von der Bedürftigkeit des begünstigten Personenkreises ab. Dementsprechend lag nur in dem Wegfall der Bedürftigkeit der Rentenbezieher eine wesentliche Änderung der bei der Feststellung der Rente maßgebend gewesenen Verhältnisse, die den Versicherungsträger zur Entziehung der Rente berechtigte (§ 608 RVO aF, § 622 RVO). Die rechtlichen Grundlagen für die Gewährung einer Elternrente haben sich mit dem Inkrafttreten des UVNG geändert.

Nach § 596 RVO, der mit Wirkung vom 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG) anstelle des bis dahin geltenden § 593 RVO aF in das Dritte Buch der RVO aufgenommen worden ist, haben Verwandte der aufsteigenden Linie, Stief- und Pflegeeltern einen Rentenanspruch, wenn der durch einen Arbeitsunfall Verstorbene sie aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterhalten hat oder ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würde, und zwar solange sie ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt hätten geltend machen können. Der anspruchsberechtigte Personenkreis ist somit gegenüber der bisherigen Rechtslage um die Stief- und Pflegeeltern erweitert und ein Anspruch außerdem auch für den Fall eingeräumt worden, daß der tödlich Verunglückte den begünstigten Personenkreis zwar noch nicht im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterhalten hat, dies jedoch von einem nach dem Arbeitsunfall liegenden Zeitpunkt an getan haben würde. Die Bezugsberechtigung hängt nicht mehr von der "Bedürftigkeit" der Eltern (§ 593 RVO aF), sondern davon ab, wie lange die Berechtigten "ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt hätten geltend machen können."

§ 596 iVm § 622 RVO ist auch im vorliegenden Fall anzuwenden. Nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG gilt § 596 RVO auch für Arbeitsunfälle, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes eingetreten sind. Art. 4 § 2 UVNG soll als Übergangsvorschrift im Rahmen der von ihr erfaßten Vorschriften die bisher nach altem Recht durchgeführte rechtliche Beurteilung der Folgen früherer Arbeitsunfälle in das durch das UVNG geschaffene Recht überleiten. Für den Übergang in das neue Recht ist erforderlich, daß der vor dem 1. Juli 1963 eingetretene Arbeitsunfall in den zeitlichen Geltungsbereich des neuen Rechts hineinwirkt. Dies trifft ohne weiteres für eine bereits vor dem 1. Juli 1963 festgestellte und - wie hier - über diesen Zeitpunkt hinaus gewährte Rente zu, zB wenn über deren Fortdauer gestritten wird (vgl. Urteil des erkennenden Senats in BSG 25, 249, 250 mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung und dem Schrifttum, insbesondere BSG 23, 139 und 24, 88; s. auch BSG in SozR Nr. 3 zu § 622 RVO). Die Anwendung des seit dem Inkrafttreten des UVNG geltenden Rechts auch auf die Fälle, in denen eine bereits vorher - nach § 593 RVO aF - bewilligte Elternrente über diesen Zeitpunkt hinaus gewährt worden ist, vermeidet das mit einer praktikablen Rechtsanwendung kaum zu vereinbarende Ergebnis, daß die Versicherungsträger auf laufende Leistungen teils das bisherige, teils das neue Recht anzuwenden haben (vgl. BSG in SozR Nr. 3 zu § 622 RVO). Das LSG geht - insoweit zutreffend - ebenfalls davon aus, daß eine wesentliche Änderung der für die Feststellung der Rente maßgebend gewesenen Verhältnisse (§ 622 RVO) auch in einer Änderung der Rechtsgrundlage über die Voraussetzungen der Rentengewährung begründet sein kann (BSG 28, 227, 228; BSG in SozR Nr. 40 zu § 215 SGG; SozR Nr. 3 zu § 622 RVO; zu § 62 BVG: BSG 10, 202; 15, 208; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 584; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 2 c, hh zu § 622). Eine Änderung der Anspruchsvoraussetzungen gegenüber § 593 RVO aF enthält § 596 RVO jedoch - abgesehen von der höheren Rente für ein Elternpaar - entgegen der Ansicht des LSG nicht nur in der Erweiterung des begünstigten Personenkreises und in der Begründung eines Anspruchs auch für den Fall, daß der tödlich Verunglückte erst von einem nach dem Arbeitsunfall liegenden Zeitpunkt Unterhalt geleistet haben würde. Vielmehr ist im Unterschied zu der früheren Regelung des § 593 RVO aF auch die voraussichtliche Entwicklung der die Unterhaltsverpflichtung des tödlich Verunglückten bestimmenden Umstände zu berücksichtigen. Abweichend vom Gesetzesentwurf, in dem die Anspruchsberechtigung "für die Dauer der Bedürftigkeit" der Berechtigten vorgesehen war (s. BT-Drucks. IV/120 S. 14), hat § 596 RVO auf Anregung des Sozialpolitischen Ausschusses des Bundestages die Fassung erhalten, nach der den begünstigten Personen die Rente - nur - zugebilligt wird, "solange sie ohne den Arbeitsunfall gegen den Verstorbenen einen Anspruch auf Unterhalt hätten geltend machen können." Mit dieser Fassung sollte nicht nur klargestellt werden, daß die Unterhaltsberechtigung nicht am fürsorgerechtlichen Begriff der "Bedürftigkeit" gemessen wird, sondern auch verdeutlicht werden, daß der "Rentenanspruch ein Ersatz für den Unterhaltsanspruch nach bürgerlichem Recht ist" und deshalb "auch die Voraussetzungen des Unterhaltsanspruchs nach den §§ 1601 ff. BGB vorliegen" müssen (BT-Drucks. IV/938 - neu - S. 15, 63). Die Anspruchsberechtigung nach § 596 RVO hängt daher von der Unterhaltsberechtigung der begünstigten Personen und dem Fortbestehen der Unterhaltsverpflichtung des tödlich Verunglückten (§§ 1601, ff BGB) ab, mithin ua von einer künftigen mutmaßlichen Entwicklung der Verhältnisse des Verunglückten (BSG SozR 2200 § 596 Nr. 3; SozR Nr. 3 zu § 622 RVO; Brackmann, aaO S. 589, 590; Lauterbach, aaO Anm. 10 zu § 596; Bereiter-Hahn/Schieke, Unfallversicherung 4. Aufl., Anm. 6 zu § 596; Zehe in SGb 1975, 134).

Es bedarf aus Anlaß des vorliegenden Falles nicht der Entscheidung, ob eine nach dem Inkrafttreten des UVNG nach § 596 RVO gewährte Rente wegen des mutmaßlichen Fortfalls der Unterhaltsverpflichtung des tödlich Verunglückten nach § 622 RVO entzogen werden kann (so der 8. Senat des BSG in SozR 2200 § 596 Nr. 3), oder ob dies, da und soweit die voraussichtliche Entwicklung der Verhältnisse des Verunglückten schon bei der Rentengewährung erkennbar war, mangels nachträglich eingetretener wesentlicher Änderung nicht zulässig ist (so Zehe in SGb 1975, 134). Denn hier handelt es sich um die streitige Entziehung einer vor dem 1. Juli 1963 bewilligten und über diesen Zeitpunkt hinaus gewährten Rente, bei deren Bewilligung die erst seit dem Inkrafttreten des UVNG nach § 596 RVO erheblichen Umstände von der Beklagten noch nicht berücksichtigt werden konnten.

Eine die Entziehung der Rente rechtfertigende wesentliche Änderung der Verhältnisse ist nicht eingetreten.

Die Beklagte geht in Übereinstimmung mit dem LSG zutreffend davon aus, daß die vermögenslose Klägerin aus ihrer einzigen Einkommensquelle, dem Altersruhegeld aus der Rentenversicherung, auch nach dem 31. Juli 1971 ihren Lebensbedarf nicht decken kann. Die Feststellung des LSG, daß die zur Zeit der Erteilung des Entziehungsbescheides bereits 77 Jahre alte Klägerin außerstande ist, sich den Lebensunterhalt - durch Verwertung ihrer Arbeitskraft - selbst zu verdienen, hat die Beklagte mit der Revision nicht angegriffen (§ 163 SGG). Anders als in der Begründung des angefochtenen Bescheides macht die Beklagte nicht mehr geltend, der selbständige Schneidermeister Reinhold D. könne allein den Unterhalt seiner Mutter - der Klägerin - sicherstellen. Aus den von der Beklagten ebenfalls nicht angegriffenen und deshalb für das BSG bindenden Feststellungen des LSG ergibt sich darüber hinaus, daß auch der andere noch lebende Sohn der Klägerin, der Bäckermeister Sieghard D., unter Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen nicht ohne Gefährdung seines eigenen angemessenen Unterhalts imstande ist, der Klägerin den Unterhalt zu gewähren (vgl. § 1603 Abs. 1 BGB). Selbst wenn zugunsten der Beklagten unterstellt wird, daß die beiden noch lebenden Söhne der Klägerin je einen Teil zum Unterhalt der Klägerin beitragen könnten, ohne dadurch ihren eigenen angemessenen Unterhalt zu gefährden, läßt sich darauf allein eine Entziehung der Rente nicht stützen. Unabhängig davon, ob die Söhne Reinhold und Sieghard nicht auch schon zur Zeit des Arbeitsunfalls ihres Bruders Johannes teilweise zum Unterhalt der Klägerin beigetragen haben, würde eine wesentliche Änderung im Sinne des § 622 RVO nur vorliegen, wenn die Fähigkeit des tödlich verunglückten Sohnes, wesentlich zum Unterhalt der Klägerin beizutragen, seit dem Entziehungszeitpunkt voraussichtlich nicht mehr bestanden hätte. Der Klägerin steht die Rente nach § 596 RVO zu, solange sie gegen den tödlich Verunglückten einen Anspruch auf Unterhalt hätte geltend machen können. Bei eigener Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin aber entfiele die Unterhaltspflicht des verunglückten Sohnes nicht schon dadurch, daß auch die anderen Söhne einen Teil zum Unterhalt der Klägerin beitragen können (§§ 1603 Abs. 1, 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB).

Es besteht kein Anhalt dafür, daß der tödlich verunglückte Sohn Johannes D. seit dem 1. August 1971, dem Zeitpunkt, in dem die Rentenentziehung wirksam werden soll, außerstande gewesen wäre, zum Unterhalt der Klägerin wesentlich beizutragen.

Konkrete Umstände, aus denen auf eine über den 31. Juli 1971 hinaus sich auswirkende ungünstige berufliche Entwicklung mit der Folge eines unzureichenden Einkommens des verunglückten Sohnes geschlossen werden könnten, sind nicht ersichtlich. Die Beklagte beruft sich, der Lage des Falles entsprechend, allein darauf, daß der Verunglückte nach der Lebenserfahrung wahrscheinlich eine Familie gegründet haben würde, und meint, deshalb wäre er im Zeitpunkt der Rentenentziehung nicht mehr unterhaltsfähig gewesen. Diese Schlußfolgerung ist aber nicht gerechtfertigt.

Der 8. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 27. Juni 1974 (SozR 2200 § 596 Nr. 3) die Auffassung vertreten, in der Regel könne davon ausgegangen werden, daß ein durch einen Arbeitsunfall tödlich verletzter lediger junger Mann, der in diesem Zeitpunkt seine Berufsausbildung bereits abgeschlossen und Arbeitsentgelt bezogen hatte, später einmal geheiratet haben würde (vgl. auch - zu § 50 BVG aF - BSG 9, 13 und 15, 236). Als Zeitpunkt der Eheschließung sei, so hat der 8. Senat (aaO) ausgeführt, im allgemeinen das vollendete 26. Lebensjahr anzusehen; ein solcher mutmaßlicher Geschehensablauf schließe jedoch nicht aus, daß bei der gebotenen Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls auch für spätere Jahre ein Unterhaltsanspruch der Eltern anzunehmen sei, und zwar dann, wenn im konkreten Fall hinreichende Anhaltspunkte dafür beständen, daß der Verunglückte erst beträchtlich später oder gar nicht geheiratet hätte. Außerdem hat der 8. Senat des BSG ausgeführt, es bestehe kein Erfahrungssatz des täglichen Lebens dahin, daß jeder Sohn mit dem Zeitpunkt der Eheschließung seine - verwitwete - Mutter auch dann sich selbst überlasse, wenn sie sich in einer wirtschaftlichen Notlage befinde.

Der erkennende 2. Senat des BSG läßt es dahingestellt, ob das vollendete 26. Lebensjahr im allgemeinen als der Zeitpunkt angesehen werden kann, in dem ledige Männer eine Ehe eingehen. Darauf kommt es hier schon deshalb nicht an, weil der Sohn der Klägerin bereits 28 Jahre alt war, als er am 20. März 1947 tödlich verletzt wurde. In einem solchen Fall hält auch der 8. Senat (aaO) die Würdigung aller Umstände des Einzelfalls - ua Äußerungen über eine zukünftige Eheschließung - für erforderlich. Auch wenn jedoch beim Fehlen konkreter Anhaltspunkte allein aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung angenommen werden kann, der Sohn der Klägerin hätte später einmal geheiratet, ist damit noch nicht ohne weiteres davon auszugehen, daß die Klägerin gegen ihn nach der mutmaßlichen Verheiratung einen Anspruch auf Unterhalt nicht mehr hätte geltend machen können (vgl. Brackmann, aaO S. 590; SozR 2200 § 596 Nr. 3; s. auch Lauterbach, aaO Anm. 10 zu § 596, der den Grundsatz einer wahrscheinlichen Verheiratung und dadurch bedingten Streichung der Aszendentenrente nur dann zum Zuge kommen lassen will, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Verheiratung vorliegen). Legt man zugunsten der Beklagten eine mutmaßliche Entwicklung zugrunde, nach welcher der Verletzte ohne den Arbeitsunfall - nicht sofort, aber nach etwa zwei bis drei Jahren - geheiratet haben würde, und geht man ferner wiederum zugunsten der Beklagten davon aus, daß er zunächst eine Zeit lang die Klägerin nicht mehr wesentlich hätte unterhalten können, weil er in erster Linie für seine eigene Familie hätte sorgen müssen (vgl. BSG 9, 13, 14; 15, 236, 238), so kann aus diesem unterstellten Verlauf der Entwicklung gleichwohl nicht hergeleitet werden, daß auch im Entziehungszeitpunkt - Ende Juli 1971 - die Unfähigkeit zur Unterhaltsleistung gegenüber der Klägerin noch bestanden hätte. Hierfür besteht vielmehr nach der Lage des Falles unter Berücksichtigung des mutmaßlichen weiteren Verlaufs der Entwicklung kein Anhalt.

Bei der Beurteilung und Würdigung einer voraussichtlichen Entwicklung der Verhältnisse des tödlich Verunglückten ist, ausgehend von einer mutmaßlichen Verheiratung, zu berücksichtigen, daß der Verunglückte im Zeitpunkt der Rentenentziehung bereits 52 Jahre alt und mehr als 20 Jahre verheiratet gewesen wäre. Da fernliegende, rein hypothetische Erwägungen, die der Lebenserfahrung nicht entsprechen, außer Betracht bleiben müssen (vgl. BSG 9, 13, 14; SozR 2200 § 596 Nr. 3), ist nicht davon auszugehen, daß der Verunglückte etwa in seinem Beruf - er war zur Unfallzeit Montagearbeiter - gescheitert oder aus anderen Gründen in eine wirtschaftliche Notlage geraten wäre. Deshalb ist - mangels entgegenstehender Anhaltspunkte - nicht anzunehmen, daß er durch Zahlung von Unterhalt an die Klägerin seinen eigenen Unterhalt und den seiner Familie gefährdet haben würde (vgl. § 1603 Abs. 1 BGB). Mehr als 20 Jahre nach der mutmaßlichen Eheschließung hätte auch eine Unterhaltspflicht des Verunglückten gegenüber einem Kind, das aus der Ehe hervorgegangen wäre, entweder überhaupt nicht mehr bestanden oder ihn jedenfalls nicht wesentlich belastet.

Auch wenn als mutmaßliche Entwicklung zugrunde gelegt wird, daß zwei Kinder aus der Ehe hervorgegangen wären, ist in Betracht zu ziehen, daß diese im Zeitpunkt der Rentenentziehung in einem Alter gestanden hätten, in dem sie voraussichtlich bereits über eigenes Arbeitseinkommen verfügt haben würden. Das Verhalten des Verunglückten bis zum Unfall - er bestritt den Hauptteil des Unterhalts seiner Mutter - rechtfertigt im übrigen die Annahme, daß er auch nach dem 31. Juli 1971 seine inzwischen 77 Jahre alte Mutter nicht ohne Unterstützung gelassen haben würde.

Da der Nachweis einer zur Rentenentziehung berechtigenden wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 622 RVO) nicht erbracht ist, war die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648482

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