Leitsatz (redaktionell)

DV § 30 Abs 3 und 4 BVG § 3 Abs 1 Buchst d vom 1961-07-30 entspricht noch der Ermächtigung in BVG § 30 Abs 5.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 5 Fassung: 1960-06-27; BVG § 30 Abs 3 u 4 DV § 3 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1961-07-30

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Mai 1966 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. Januar 1965 abgeändert.

Die Klage gegen die Bescheide der Verwaltung vom 8. November 1962 und 16. April 1963 wird insoweit abgewiesen, als der Kläger Berufsschadensausgleich für die Zeit vor dem 1. Januar 1964 beansprucht.

Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

Der am 4. Oktober 1920 geborene Kläger bezieht Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. seit 1950 wegen Folgezustand nach spinaler Kinderlähmung. Im November 1960 beantragte er, ihm nach dem Ersten Neuordnungsgesetz (1. NOG) Berufsschadensausgleich zu gewähren, weil er wegen des kriegsbedingten Gesundheitsschadens sein Berufsziel als Kapitän und später Elblotse nicht habe erreichen können. Seit 1. Januar 1939 ist der Kläger in der Anwärterliste für Elblotsen bei einer Lotsenbrüderschaft eingetragen. Er hatte im Verwaltungsverfahren (Bescheid des Versorgungsamts H vom 8. November 1962, Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Hamburg vom 16. April 1963) keinen Erfolg, weil nicht alle Inhaber des Befähigungsnachweises A 6 (Kapitän auf großer Fahrt) ein Schiff in der vom Kläger erwarteten Größenordnung übernehmen könnten, so daß es bei dem Einkommen eines Inhabers des Befähigungsnachweises A 5 (2. Offizier, Steuermann) verbleiben müsse. Danach sei er als technischer Angestellter in die Leistungsgruppe II (Durchschnittseinkommen 1.026,- DM) einzureihen. Sein Bruttoeinkommen seit dem 1. Juni 1960 in Höhe von 935,01 DM sei daher nicht um mindestens 100,- DM geringer (vgl. § 30 Abs. 3 idF des 1. NOG). Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat mit Urteil vom 21. Januar 1965 die Beklagte verurteilt, Berufsschadensausgleich vom 1. Juni 1960 an unter Zugrundelegung des Endgrundgehalts der Besoldungsgruppe A 14 zu gewähren, weil der Kläger nach der Überzeugung des Gerichts Kapitän auf großer Fahrt (Leistungsgruppe I b der technischen Angestellten) geworden wäre. Da die Durchführungsverordnung (DVO) zu § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 30. Juli 1961 (BGBl I 1115) keine Regelung für Angestellte der Leistungsgruppe I b getroffen habe, bestehe eine Lücke, welche durch die DVO in der Fassung vom 30. Juli 1964 auszufüllen sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 4. Mai 1966 die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. Der Kläger sei als Inhaber des A 5-Patents Schiffsoffizier und als solcher der Leistungsgruppe II zuzurechnen. Er hätte aber das Berufsziel eines Kapitäns mit Sicherheit erreicht; denn 95 % aller Prüflinge hätten das A 6-Patent spätestens in zehn Jahren erworben, so daß er 1960 diese Voraussetzung erfüllt hätte. Das Mindestgehalt eines Kapitäns auf großer Fahrt in der außereuropäischen Schiffahrt habe 1962 1.750,- DM betragen. Die Eingruppierung in die Leistungsgruppe II sei infolgedessen nicht ausreichend. Vielmehr müsse der Kläger vom 1. Januar 1964 (Inkrafttreten der DVO vom 30. Juli 1964) nach der Besoldungsgruppe 14 des Bundesbesoldungsgesetzes eingestuft werden, und zwar auch für die zurückliegende Zeit, weil die Fassung der DVO vom 30. Juli 1961 dem gesetzlichen Auftrag nicht voll gerecht werde.

Die Beklagte hat gegen dieses ihr am 5. Juli 1966 zugestellte Urteil am 20. Juli 1966 die zugelassene Revision eingelegt. Mit Schriftsatz vom 17. November 1966 hat sie die Revision auf den Berufsschadensausgleich für die Zeit vor dem 1. Januar 1964 beschränkt. Sie rügt, das LSG habe § 3 Abs. 1 Buchst. d der DVO zu § 30 BVG idF vom 30. Juli 1961 verletzt. Der Kläger habe nicht nachgewiesen und hätte auch nicht nachweisen können, daß er bereits vor der Schädigung einen Beruf ausgeübt habe, der durch das gegenwärtige Einkommen nicht ausreichend berücksichtigt werde (§ 6 DVO). Bei dieser Sachlage sei eine höhere Einstufung auch deshalb nicht möglich, weil der Kläger nicht die Voraussetzungen einer abgeschlossenen Hochschulbildung erfülle und auch das 47. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Entgegen der Auffassung des LSG wirke § 6 DVO vom 30. Juli 1964 nicht auf die Zeit bis zum 4. Juni 1960 zurück.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des SG Hamburg vom 21. Januar 1965 und des LSG Hamburg vom 4. Mai 1966 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit der Kläger Berufsschadensausgleich für die Zeit ver dem 1. Januar 1964 begehrt.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG Hamburg vom 4. Mai 1966 als unbegründet zurückzuweisen.

Er ist der Ansicht, daß in der DVO vom 30. Juli 1961 eine Lücke bestanden habe, die in dem angefochtenen Urteil zutreffend durch die DVO vom 30. Juli 1964 ergänzt worden sei. Der Wortlaut des § 3 Abs. 3 DVO idF vom 30. Juli 1964 bedeute eine Klarstellung für die bisher nicht erfaßten Leistungsgruppen I a und I b. Dadurch, daß diese beiden Leistungsgruppen in der DVO von 1961 nicht berücksichtigt worden seien, sei Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt.

Die Beklagte hat die zugelassene Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet; sie ist daher statthaft. Das Rechtsmittel ist auch sachlich begründet.

Nachdem die Beklagte die Revision auf den Berufsschadensausgleich für die Zeit vom 1. Juni 1960 bis zum 31. Dezember 1964 beschränkt und für die folgende Zeit den Anspruch des Klägers auf Berufsschadensausgleich anerkannt hat, ist nur noch die Rechtsanwendung und Auslegung des § 30 Abs. 3, 4 und 5 BVG idF des 1. NOG und des § 3 DVO vom 30. Juli 1961 streitig.

Nach § 30 Abs. 3 BVG idF des 1. NOG erhält ein Berufsunfähiger, der durch die Art der Schädigungsfolgen beruflich besonders betroffen ist, einen Berufsschadensausgleich, wenn er wenigstens um 100,- DM weniger Einkommen erzielt, als er ohne die Schädigungsfolgen in seinem derzeitigen oder früheren Beruf erzielt hätte.

Das LSG ist davon ausgegangen, daß der Kläger ohne die Schädigungsfolgen das Patent eines Kapitäns auf großer Fahrt - A 6 - erhalten hätte. Damit hat es die Vorschrift des § 2 Satz 3 DVO, wonach ein durch die Schädigung verhinderter Aufstieg im Beruf zu berücksichtigen ist, beachtet. Zur Ermittlung des Einkommensverlustes ist nach § 30 Abs. 4 BVG das gegenwärtige Einkommen des Klägers, das das LSG für 1960 unangefochten mit 935,01 DM errechnet hat, dem Durchschnittseinkommen der Berufsgruppe gegenüberzustellen, das er ohne das Versorgungsleiden nach dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen erhalten hätte. Maßgebend sind die durchschnittlichen Monatsverdienste im Bundesgebiet (§ 30 Abs. 4 Satz 3 BVG). Nach den Feststellungen des LSG würde der Kläger als Kapitän auf großer Fahrt, aber auch als Lotse, zu den technischen Angestellten in leitender Stellung mit Aufsichtsbefugnissen mit einem Monatsgehalt unter 2.500,- DM zur Leistungsgruppe I b (vgl. Rdschr. BMA vom 25. Oktober 1960 BVBl 1960, 151 Nr. 47) gehören. Diese Leistungsgruppe I b ist aber in § 3 Abs. 1 Buchst. d DVO vom 30. Juli 1961 nicht aufgeführt, weil nach der DVO bei Angestellten in Industrie und Handel die in Betracht kommenden Wirtschaftsgruppen (Wirtschaftszweige) und die Leistungsgruppen II bis V allein für maßgebend erklärt worden sind. Da die DVO vom 30. Juli 1961 eine höhere Leistungsgruppe nicht enthält, ist die dem Kläger günstigste Eingruppierung die Leistungsgruppe II. In dieser Begrenzung des Durchschnittseinkommens, die im Einzelfall eine Härte sein mag, ist jedoch nicht zu ersehen, daß die Bundesregierung die ihr in § 30 Abs. 5 BVG idF des 1. NOG erteilte Ermächtigung etwa überschritten hätte. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat (Urteil vom 25. Juli 1967 - 9 RV 892/65 -), mußte beim Berufsschadensausgleich der Gesichtspunkt einer individuellen Entschädigung zugunsten eines generalisierten oder pauschalen Schadensausgleichs zurücktreten. Dem steht auch § 30 Abs. 4 BVG nicht entgegen, wonach ... auf die Lebensverhältnisse des Beschädigten, seine Kenntnisse und Fähigkeiten sowie seinen bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen abzustellen sei. Denn besonders günstige Umstände im Einzelfall können nicht bereits zur Gewährung eines entsprechend höheren Berufsschadensausgleichs führen. Maßgebend soll bei dem "fiktiv" zu errechnenden Einkommensverlust ein "durchschnittlicher Berufserfolg" sein (so Deutscher Bundestag, 3. Wahlp., BT-Drucks Nr. 1825 Seite 7 zu § 30 BVG). Die Bundesregierung konnte das Durchschnittseinkommen nach dem regelmäßigen Ablauf der Dinge im Leben festsetzen (vgl. BSG, Urteil vom 16. Februar 1967 - 10 RV 1077/65 -). Sie konnte daher die Höhe des fiktiven Durchschnittseinkommens je nach der Schul- und Berufsausbildung nach unterschiedlichen Besoldungs-(Vergütungs-) und Leistungsgruppen bestimmen. Dabei durfte die Bundesregierung entsprechend dem Sinn und Zweck des § 30 Abs. 3 - 5 BVG die fiktiven Durchschnittseinkommen nach oben begrenzen, somit als höchstes regelmäßiges Vergleichseinkommen die Leistungsgruppe II festsetzen. Mit dieser Regelung hat die Bundesregierung alle theoretisch zu ermittelnden voraussichtlichen Einkommen entsprechend der Ermächtigung in § 30 Abs. 5 BVG bestimmt. War im Einzelfall vor Eintritt der Schädigung bereits eine höhere Berufsstellung mit höherem Einkommen erreicht, so ist für diesen Ausnahmefall in § 6 Abs. 1 und 2 DVO eine Sonderregelung getroffen. Die Bundesregierung hat hiernach die Rechte der nach § 30 Abs. 3 und 4 BVG anspruchsberechtigten Personen durch § 3 Abs. 1 Buchst. d DVO nicht in unzulässiger Weise beschränkt. Der Senat befindet sich insoweit in Übereinstimmung mit dem 9. Senat des BSG, der in seinen Entscheidungen vom 25. Juli 1967 - 9 RV 892/65 - und vom 17. Oktober 1967 - 9 RV 182/67 - ausgesprochen hat, daß der Einkommensverlust nicht konkret ermittelt werden darf, sondern das voraussichtlich erzielte Einkommen nach dem Durchschnittseinkommen der jeweils in Betracht kommenden Berufsgruppe zu bemessen ist, wobei Unbilligkeiten in Kauf genommen werden müssen. Hierbei ist noch zu beachten, daß die Bundesregierung zur Vermeidung von Härten in § 3 Abs. 3 der DVO vom 30. Juli 1961 bestimmt hat, daß die Angestellten der Gruppe II dann nach dem Endgrundgehalt der Berufsgruppe A 14 des Bundesbesoldungsgesetzes einzustufen sind, wenn sie eine abgeschlossene Hochschulbildung und das 47. Lebensjahr vollendet haben. Hierbei mag dahingestellt bleiben, ob das dem Kläger erreichbare Patent A 6 eines Kapitäns auf großer Fahrt einer abgeschlossenen Hochschulbildung gleichzustellen ist, jedenfalls hat er die weiter erforderliche Voraussetzung nicht erfüllt, daß er am 31. Dezember 1963 bereits das 47. Lebensjahr vollendet hatte. Er muß sich hiernach mit der Einreihung in die Leistungsgruppe II begnügen. Dieses Ergebnis ist im übrigen für den Kläger persönlich auch nicht unbillig, weil er am Ende seines Schriftsatzes vom 29. August 1966 selbst dargelegt hat, daß "ein großer Teil der Lotsen im Beamtenverhältnis steht und die Besoldung der des gehobenen Dienstes entspreche". Die vom Kläger angestrebte Besoldungsgruppe A 14 als Vergleichsgrundlage entspricht aber den Beamten des höheren Dienstes, während der Beamte des gehobenen Dienstes nach § 4 Abs. 1 DVO vom 30. Juli 1961 dem Durchschnittseinkommen des Endgrundgehalts der Besoldungsgruppe A 9 und A 10 des Bundesbesoldungsgesetzes entspricht.

Entgegen der Auffassung des LSG kann die - spätere - DVO vom 30. Juli 1964 (BGBl I 574) auf die Zeit vor dem 1. Januar 1964, dem Inkrafttreten dieser Verordnung, nicht angewendet werden. Denn materiell-rechtliche Vorschriften gelten nicht rückwirkend, wenn der Gesetzgeber der Vorschrift nicht ausdrücklich Rückwirkung beigelegt hat; Tatbestände, welche nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen vorliegen, werden von einer Rechtsänderung nicht erfaßt, wenn nicht das neue Recht dem Sinne nach seinen Geltungsbereich auf diesen Sachverhalt erstreckt hat (s. dazu BSG 16, 178). Danach ist eine analoge Ausdehnung der am 1. Januar 1964 in Kraft getretenen Vorschriften der DVO vom 30. Juli 1964 nicht erlaubt.

Dem LSG kann auch nicht beigepflichtet werden, daß eine von der Rechtsprechung auszufüllende Gesetzeslücke vorliege, weil die DVO eine höhere Leistungsgruppe als die Gruppe II nicht kenne. Das LSG legt nicht dar, ob das Schweigen des Verordnungsgebers auf Absicht, einem Versehen oder erst auf einer späteren Veränderung der Verhältnisse beruhe. Ein Versehen scheidet aus, da der Verordnungsgeber, wie bereits dargelegt, nicht verkannt hat, daß Härten eintreten können und insoweit eine Regelung in § 3 Abs. 3 DVO getroffen hat. Hätte die Bundesregierung die Leistung aber absichtlich begrenzt, so könnte die DVO nicht erweiternd ausgelegt werden. Die vom LSG angenommene Lücke beruht auch nicht darauf, daß eine spätere Sachlage einen neuen Sachverhalt geschaffen habe. Denn die Leistungsgruppe I b gab es auch schon 1961. Damit fehlen die Voraussetzungen zur Regelung von Gesetzeslücken (s. dazu BSG 23, 287). Da die Bundesregierung mit der Pauschalregelung ganze Berufs- und Leistungsgruppen erfaßt hat und für diese Abgrenzung auch sachliche Gründe vorliegen, kann in dieser Regelung auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gesehen werden.

Damit entbehrt die vom SG angewandte und vom LSG gebilligte analoge Anwendung der DVO vom 30. Juli 1964 auf die zurückliegende Zeit vom 1. Juni 1960 bis zum 31. Dezember 1963 der gesetzlichen Grundlage; die Revision der Beklagten ist daher begründet. Das von der Beklagten angefochtene Urteil des LSG und das gleichlautende erstinstanzliche Urteil waren somit entsprechend abzuändern. Da nur Rechtsfragen zu beurteilen waren, konnte der Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Klage gegen die angefochtenen Bescheide der Versorgungsverwaltung war insoweit abzuweisen, als der Kläger einen Berufsschadensausgleich auch für die Zeit vor dem 1. Januar 1964 beansprucht. Im übrigen hat die Beklagte den Berufsschadensausgleich für die Zeit nach dem 31. Dezember 1963 anerkannt und insoweit ihre Revision gegen das angefochtene Urteil zurückgezogen.

Da die Beklagte bezüglich des Anspruchs auf Berufsschadensausgleich für die Zeit vor dem 1. Januar 1964 obgesiegt hat, aber für die nachfolgende Zeit infolge der Rücknahme der Revision als unterlegen zu gelten hat, waren ihr die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zur Hälfte aufzuerlegen (§ 193 Abs. 1 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2365165

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