Leitsatz (amtlich)
Die vor 1900 geborenen Handwerker, die beim Inkrafttreten der AufbauV Handwerk vom 1935-01-18 ein Handwerk betrieben haben und in die Handwerksrolle eingetragen waren, sind als "selbständig Tätige mit abgelegter Meisterprüfung" iS des DV § 30 Abs 3 und 4 BVG § 5 Abs 1 (erste Gruppe) vom 1964-07-30 anzusehen.
Orientierungssatz
Auch Ausnahmevorschriften können erweiternd ausgelegt werden, wenn dies der Sinn verlangt (vgl BSG 1960-08-26 8 RV 1225/58 = BSGE 13, 43, 45, BSG 1961-09-06 11 RV 1052/58 = BSGE 15, 85, 87).
Normenkette
BVG § 40a Abs. 1 Fassung: 1964-02-21, Abs. 2 S. 2 Fassung: 1964-02-21; HwO § 119 Fassung: 1965-12-28; HwAufbauV 3 § 20 Fassung: 1935-01-18; BVG § 30 Abs 3 u 4 DV § 5 Abs. 1 Fassung: 1964-07-30
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. September 1966 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin bezieht als Witwe seines selbständigen Maurers (Bauunternehmer) Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Ihr Antrag auf Schadensausgleich nach § 40 a Abs. 1 BVG idF des 2. Neuordnungsgesetzes (NOG) wurde abgelehnt, weil ihr Einkommen nicht um mindestens 50,- DM geringer sei als die Hälfte des Einkommens, das ihr Ehemann ohne die Schädigung erzielt hätte. Dabei legte die Verwaltung als Einkommen des Ehemannes gemäß § 5 der Durchführungsverordnung zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG vom 30. Juli 1964 (BGBl I 574) - DVO - das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 7 (selbständig Tätige mit abgeschlossener Berufsausbildung) zugrunde. Der Widerspruch der Klägerin, welche als Vergleichsgrundlage das Einkommen der Besoldungsgruppe A 9 anstrebte, wurde mit Widerspruchsbescheid vom 28. Juni 1965 zurückgewiesen, weil der Ehemann der Klägerin die Meisterprüfung nicht abgelegt und auch keine Mittel - schule besucht habe.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) die Bundesrepublik Deutschland beigeladen. Nach der Auffassung der Beigeladenen ist das Bewertungsmerkmal "abgelegte Meisterprüfung" in § 5 DVO ein objektives Befähigungsmerkmal, das unabhängig von der fachlichen Qualifikation Anhaltspunkte für die Bewertung sei. Das SG hat mit Urteil vom 7. April 1966 die Verwaltungsbescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin einen Bescheid zu erteilen, daß ihr für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Mai 1964 und weiterhin vom 1. Oktober 1964 an ein Schadensausgleich unter Zugrundelegung der Besoldungsgruppe A 9 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) zu gewähren ist. Im übrigen ist die Klage abgewiesen worden. Der Verstorbene habe zwar eine Meisterprüfung im Maurerhandwerk nicht abgelegt, § 40 a BVG lege aber das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe zugrunde, welcher er angehört habe. Auf Grund des § 20 der 3. Verordnung über den vorläufigen Aufbau des Deutschen Handwerks vom 18. Januar 1935 (RGBl I 15) habe der vor 1900 geborene Ehemann der Klägerin, welcher am 30. Oktober 1932 in die Handwerksrolle eingetragen worden sei, dem Meister gleichgestanden. Diesen Fall beachte § 5 der DVO zwar nicht, insoweit sei aber eine ändernde und ergänzende Rechtsfindung statthaft, weil der Gesetzeswortlaut sonst zu einem sinnwidrigen Ergebnis führe.
Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 27. September 1966 die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, § 5 der DVO habe das Durchschnittseinkommen des selbständig Tätigen zu Besoldungsgruppen des BBesG in Beziehung gesetzt. Der Ehemann der Klägerin sei einem Handwerker gleichzusetzen, der die Meisterprüfung abgelegt habe, weil er in die Handwerksrolle eingetragen worden und weil er vor dem 1. Januar 1900 geboren sei; er falle daher unter die Ausnahmebestimmung des § 20 der vorstehend angeführten 3. Verordnung über den vorläufigen Aufbau des Deutschen Handwerks. Da er das Bauhandwerk selbständig ausgeübt sowie Gehilfen beschäftigt habe, habe er einem Handwerker mit abgelegter Meisterprüfung gleichgestanden, so daß für ihn das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 9 des BBesG maßgebend sei.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte, das LSG habe § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG und § 5 DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG verletzt. Nur solche selbständig Tätigen dürften in die Besoldungsgruppe A 9 des BBesG eingereiht werden, die eine zu ihrem Beruf gehörige (förmliche) Meisterprüfung abgelegt, d. h. bestanden hätten. Da der Ehemann der Klägerin eine Meisterprüfung nicht abgelegt habe, sei sein Einkommen nach § 5 DVO dem Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 7 zuzüglich des Ortszuschlags gleichzusetzen. Die Berechtigung, einen Gewerbebetrieb auszuüben, sei nicht gleichbedeutend mit der erfolgreich abgelegten Meisterprüfung und daher kein allgemein gültiges Befähigungsmerkmal wie die Meisterprüfung. Das LSG habe sich an wirtschaftlichen Gesichtspunkten orientiert. Eine solche Betrachtungsweise sei aber durch § 5 DVO unterbunden; es sei nicht nach Größe und Beschäftigungszahl des Betriebes zu forschen. Die Merkmale "Höhe der Einkünfte, Art und Struktur des Betriebes, Anzahl der Beschäftigten" schieden mithin aus. Entgegen der Auffassung des LSG hätte der Ehemann der Klägerin somit nur nach dem Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 7 des BBesG eingestuft werden dürfen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 27. September 1966 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die beigeladene Bundesrepublik Deutschland schließt sich den Ausführungen des Beklagten an.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten gegen das Berufungsurteil zurückzuweisen.
Sinn und Zweck des § 5 der DVO sei nach § 30 Abs. 3 BVG zu beurteilen und damit an wirtschaftliche Gesichtspunkte geknüpft. Die Vorschrift gelte für alle selbständigen Handwerksmeister, für deren selbständige Ausübung ihres Handwerks die Meisterprüfung vorgeschrieben sei, unbeschadet dessen, ob sie diese Meisterprüfung abgelegt hätten oder aus bestimmten gesetzlichen Gründen von der Ablegung dieser Prüfung befreit worden seien.
Die Revision des Beklagten ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), form- und fristgerecht eingelegt (§ 164 SGG), mithin zulässig, jedoch nicht begründet.
Beim Schadensausgleich der Witwe gilt u. a. als Einkommen des Ehemannes das Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Verstorbene angehört hat (§ 40 a Abs. 2 Satz 2 erste Alternative BVG idF des 2. NOG). Nach § 40 a Abs. 4 in Verbindung mit § 30 Abs. 7 BVG ist die Bundesregierung ermächtigt worden, durch Rechtsverordnung u. a. zu bestimmen, welche Vergleichsgrundlage und in welcher Weise sie zur Ermittlung des Einkommensverlustes heranzuziehen sei. Nach § 5 der daraufhin ergangenen DVO vom 30. Juli 1964 ist das Durchschnittseinkommen bei selbständig Tätigen (mit Volksschulbildung) mit abgeschlossener Berufsausbildung das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 7 des BBesG, mit abgelegter Meisterprüfung das Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 9 des BBesG.
Streitig ist die Auslegung des § 5 der DVO und hierbei insbesondere die Frage, ob das Merkmal "mit abgelegter Meisterprüfung" einer ausdehnenden Auslegung zugänglich ist. Der Verordnungsgeber hat in § 5 DVO zur Feststellung der in Frage kommenden Berufsgruppe nicht die Art der Erwerbstätigkeit, auch nicht die Größe des Betriebs und auch nicht unmittelbar den wirtschaftlichen Erfolg einer Arbeitstätigkeit zum Berechnungsmaßstab für das Durchschnittseinkommen erklärt, sondern allgemeine Befähigungsnachweise wie Schulbildung, Berufsausbildung, abgelegte Meisterprüfung, abgeschlossene Hochschulbildung. Diese Vorbildungsnachweise sind, wie die Revision zutreffend ausführt, ein entscheidender Anhaltspunkt für den mutmaßlichen Erfolg im Berufsleben eines selbständig Tätigen; denn eine qualifizierte Ausbildung führt zu höherem wirtschaftlichen Erfolg. Demzufolge hat der Verordnungsgeber aus der Erfahrung, daß ein geprüfter Handwerksmeister auf Grund seiner beruflichen und fachlichen Ausbildung in seinem Berufserfolg aus dem Kreise der selbständig Tätigen mit Volksschulbildung herausragt und einen höheren Berufserfolg hat, für diesen Personenkreis die Besoldungsgruppe A 9 als Einkommensanhalt vorgesehen.
Im Gegensatz zu der Auffassung des Beklagten und des Beigeladenen hat der Verordnungsgeber bei dem Zuordnungsmerkmal des Ausbildungsganges wirtschaftliche Erwägungen nicht ausgeschlossen, mag auch der Wortlaut - insbesondere "abgelegte Meisterprüfung" - in seiner Eindeutigkeit zunächst dem Anschein nach eine Auslegung und das Heranziehen wirtschaftlicher Gesichtspunkte nicht zulassen. Vielmehr ist mit den Vorinstanzen die Vorschrift des § 5 Abs. 1 DVO als auslegungsfähig und-bedürftig anzusehen. Dies ergibt sich vor allem im Hinblick auf § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG. Denn dort ist es auf die Berufs- oder Wirtschaftsgruppe abgestellt, welcher der Verstorbene angehört hat. Wenn sie durch Merkmale des Ausbildungsganges ausgedeutet werden soll, so kann dies zwar für die große Mehrzahl der Fälle genügen, kann aber nicht abschließend sein. Andererseits reicht die Ermächtigung in §§ 40 a Abs. 4 und 30 Abs. 7 BVG nicht aus, den gesetzlichen Begriff der Berufs-und Wirtschaftsgruppe vom Verordnungsgeber allein durch die Merkmale des Ausbildungsganges ersetzen zu lassen.
Dass § 5 Abs. 1 DVO die Vorschrift des § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG nicht völlig ausfüllt, sondern ausgelegt werden muß, ergibt sich gerade aus Fällen der vorliegenden Art. Denn die Ausübung eines Handwerksbetriebes ist nach der 3. Verordnung über den vorläufigen Aufbau des Deutschen Handwerks vom 18. Januar 1935 von der Ablegung der Meisterprüfung abhängig. Von diesem Erfordernis machte aber § 20 der 3. Verordnung eine Ausnahme zugunsten der Handwerker, welche vor 1900 geboren waren. Sie waren von Amts wegen in die Handwerksrolle einzutragen, sofern sie ... ein Handwerk als stehendes Gewerbe selbständig betrieben und ihr Gewerbe ... ordnungsgemäß angezeigt hatten. Die Übergangsvorschrift des § 119 Abs. 1 der Handwerksordnung in der Fassung vom 28. Dezember 1965 (BGBl 1966 I, S. 1) hat die bei Inkrafttreten der Handwerksordnung vorhandene Berechtigung eines Gewerbebetreibenden, den Handwerksbetrieb als stehendes Gewerbe selbständig zu betreiben, aufrechterhalten. Mag dieser Personenkreis auch weder den Meistertitel führen noch Lehrlinge ausbilden dürfen, so fallen derartige Einschränkungen gegenüber der sonstigen Gleichstellung in der Führung eines Handwerksbetriebes nicht ins Gewicht. Denn die "alten" Handwerker, die in der selbständigen Führung eines Handwerksbetriebes eine umfassende Berufserfahrung hatten, haben die gleiche Betätigungsmöglichkeit wie bisher gehabt und damit die gleichen Berufschancen, die der Verordnungsgeber den geprüften Meistern zubilligt. Damit sind alle Voraussetzungen, die zu einer Einkommensbemessung nach der Gruppe A 9 BBesG berechtigen, auch bei den ohne Ablegung der Meisterprüfung zur Fortführung des bisher betriebenen Gewerbes Berechtigten vorhanden. Sie gehören weiter der gleichen Berufsgruppe wie bisher an und müssen daher auch dem vom Verordnungsgeber her-ausgehobenen Personenkreis gleichgestellt werden. Die oben erwähnten Unterschiede (§§ 22, 51 der Handwerksordnung) haben nichts mit den Überlegungen zu tun, die zur Heraushebung der Selbständigen mit abgelegter Meisterprüfung geführt haben. Im Gegensatz zur Revision ist mit den Vorinstanzen von § 40 a Abs. 2 BVG über § 30 Abs. 4 Sätze 2 und 3 BVG auf die wirtschaftliche Tragweite des § 5 DVO zu schließen. Sinn und Zweck des § 5 DVO ist die Ermittlung von Durchschnittseinkommen aus selbständiger Berufstätigkeit. Für die Erzielung und die Höhe eines Einkommens ist grundsätzlich die Befähigung und die Erlaubnis zur Führung des Handwerksbetriebs sowie die Ausübung des Gewerbebetriebes durch einen selbständig Tätigen entscheidend. Diese Befähigung hat der Ehemann der Klägerin, der vor 1900 geboren war, gehabt. Wie bereits dargelegt, ist die Einkommenschance bei älteren Inhabern von Handwerksbetrieben, welche zur Ausübung der Handwerksbetriebe die Meisterprüfung nicht mehr abzulegen brauchten, nicht grundsätzlich verschieden gegenüber den jüngeren Inhabern von Handwerksbetrieben, die nach dem Gesetz über den vorläufigen Aufbau des Deutschen Handwerks vom 29. November 1933 (RGBl I 1015) die Meisterprüfung abgelegt haben.
Der Auffassung von van Nuis-Vorberg (Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen IV. Teil S. 39 d unter f 9), daß die Gleichstellung eines Handwerkers mit einem Meister dann unzulässig sei, wenn "die Meisterprüfung abgelegt werden konnte, sie aber nur deshalb nicht abgelegt wurde, weil diese zur Ausübung der selbständigen Tätigkeit nicht erforderlich war", kann nicht gefolgt werden. Abgesehen davon, daß diese Ansicht einer Begründung entbehrt, überzeugt sie aus den oben dargelegten Gründen nicht. Der Begriff"selbständig Tätiger mit abgelegter Meisterprüfung" ist daher ergänzend dahin zu verstehen, daß diesem Personenkreis in der Führung von Handwerksbetrieben die Handwerker gleichgestellt sind, die vor 1900 geboren und in der Handwerksrolle eingetragen sind. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob die Vorschrift des § 5 DVO als Ausnahmevorschrift zu gelten hat, weil auch Ausnahmevorschriften erweiternd ausgelegt werden können, wenn dies der Sinn verlangt (vgl. BSG 13, 45; 15, 87; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Auf., 1948, S. 135 f).
Das LSG hat mithin frei vom Rechtsirrtum § 40 a in Verbindung mit § 30 Abs. 3 und 4 BVG sowie § 5 der DVO vom 30. Juli 1964 dahin ausgelegt, daß bei der Ermittlung des Durchschnittseinkommens der Ehemann der Klägerin der Besoldungsgruppe A 9 des BBesG zuzurechnen ist.
Das Berufungsgericht hat mit seiner Auslegung im Gegensatz zu der Auffassung des Beigeladenen auch nicht etwa sein Ermessen an die Stelle des Ermessens des Verordnungsgebers gestellt. Denn es hat sich für die Anwendung der DVO für den hier zu entscheidenden Einzelfall mit einer Auslegung begnügt, ohne die DVO ändern zu wollen. Es hat nicht verkannt, daß es an die Normen des Verordnungsgebers nicht anders gebunden ist als an die Norm des Gesetzgebers. Jede Norm ist aber der Auslegung zugänglich. Sie ist nicht nur entsprechend ihrem Sinngehalt auszulegen, sondern auch gemäß dem Sinn und Zweck des Gesetzeswerkes, so daß widerspruchsfreie Entscheidungen möglich werden. Das LSG hat zutreffend beachtet, daß der weitergehende Begriff des § 40 a Abs. 2 Satz 2 BVG - wie bereits dargelegt - durch die engeren Merkmale des Ausbildungsganges nicht lückenlos ausgedeutet werden kann, und hat deshalb zu Recht diese im vorliegenden Fall vorhandene Lücke geschlossen.
Die Revision des Beklagten ist daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen