Leitsatz (amtlich)
Ein an der Ersatzkassenpraxis beteiligter Arzt, der seine bei einer Ersatzkasse versicherte Ehefrau und seine über sie mitversicherten Kinder auf Krankenschein behandelt hat, kann seine Leistungen bei der KÄV zu Lasten der Ersatzkasse abrechnen.
Normenkette
RVO § 368 Fassung: 1955-08-17, § 368a Abs. 4 Fassung: 1955-08-17; EKV-Ä Fassung: 1963-07-20
Tenor
Die Revisionen der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung und des beigeladenen Verbandes der Angestellten-Krankenkassen e.V. gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Dezember 1969 werden zurückgewiesen. Die Revision der beigeladenen Deutschen Angestellten-Krankenkasse wird als unzulässig verworfen.
Die dem Kläger im Revisionsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten haben ihm die Beklagte und die beiden Beigeladenen als Gesamtschuldner zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger ist als praktischer Arzt an der Ersatzkassenpraxis beteiligt. Seine Ehefrau und zwei gemeinsame Kinder sind bei der beigeladenen Ersatzkasse (ErsK) gegen Krankheit versichert bzw. mitversichert. Im ersten Vierteljahr 1965 wurden sie von ihm wegen verschiedener Krankheiten auf Krankenschein behandelt. Seine Leistungen, die nach Art und Umfang unter den Beteiligten nicht streitig sind, rechnete er zu Lasten der beigeladenen ErsK mit der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) ab und erhielt darüber eine Gutschrift von 83,50 DM. Nachdem die ErsK dies wegen der nahen Beziehungen des Klägers zu den behandelten Personen beanstandet hatte, berichtigte die Beklagte den Abrechnungsbescheid und belastete ihn wieder mit dem gutgeschriebenen Betrag. Seinen Widerspruch wies sie zurück: Er habe seine Ehefrau und Kinder nicht auf Grund eines Vertrages, sondern in Erfüllung seiner Unterhaltspflicht behandelt und deshalb kein Honorar zu beanspruchen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit im wesentlichen gleicher Begründung abgewiesen (Urteil vom 23. August 1968). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte unter Aufhebung der Vorentscheidungen verurteilt, ihm 83,50 DM zu zahlen: Eine nachträgliche Honorarberichtigung sei an sich zwar zulässig, hier jedoch nicht berechtigt gewesen. Der Kläger könne als Vertragsarzt die vertragsgemäße Vergütung auch für die Behandlung seiner Angehörigen verlangen, da diese nach dem maßgebenden Arzt-Ersatzkassen-Vertrag uneingeschränkt anspruchsberechtigt seien, er sie auf Krankenschein behandelt habe und die erbrachten Leistungen der Art nach Vertragsleistungen gewesen seien. Ob er in Erfüllung seiner Pflichten als Vertragsarzt gehandelt habe, sei unerheblich, im übrigen zu bejahen. Auf Grund seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht sei er jedenfalls nicht tätig geworden, weil er seine Angehörigen trotz fachlicher Befähigung nicht selbst habe zu behandeln brauchen, nachdem er ihnen einen entsprechenden Sachleistungsanspruch gegen die Ersatzkasse durch Zahlung der Versicherungsbeiträge verschafft hätte. Zu persönlichem Beistand wäre er nur im Notfall oder bei besonderer Eilbedürftigkeit der Behandlung verpflichtet gewesen. Sein Vergütungsanspruch gegen die Beklagte setze schließlich nicht voraus, daß er gegen die behandelten Angehörigen einen vertraglichen Honoraranspruch gehabt habe oder gehabt hätte, wenn er sie nicht auf Krankenschein behandelt hätte (Urteil vom 9. Dezember 1969).
Gegen dieses Urteil haben die beklagte KÄV, die beigeladene ErsK und der ebenfalls beigeladene Verband der Angestellten-Krankenkassen e.V. (VdAK) die zugelassene Revision eingelegt.
Nach Ansicht der KÄV hat der Kläger keinen Vergütungsanspruch erworben, weil er unterhaltsrechtlich verpflichtet gewesen sei, die Leistungen persönlich und unentgeltlich zu erbringen; von dieser Verpflichtung, die sein Verhältnis als Vertragsarzt "überlagert" habe, sei er nicht durch Zahlung der Versicherungsbeiträge an die ErsK frei geworden. Im übrigen setze ein Vergütungsanspruch gegen die KÄV stets einen Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patient voraus, daran fehle es aber bei der Behandlung der Ehefrau und der minderjährigen Kinder. Eine Abrechnung der ihnen gegenüber erbrachten Leistungen bei der KÄV würde auch zu Schwierigkeiten und lebensfremden Ergebnissen führen; außerdem bestehe die Gefahr des Mißbrauchs.
Der VdAK ist der Auffassung, die Behandlung naher Familienangehöriger durch einen Vertragsarzt beruhe auf ethischer Pflicht und familienhafter Bindung und sei schon deshalb gegenüber der KÄV nicht abrechnungsfähig; eine Abrechnung würde ferner gegen die ärztliche Standessitte und die Berufsordnung der Ärzte und damit gegen den Arzt-Ersatzkassen-Vertrag verstoßen.
Beide Revisionskläger beantragen, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. Die beigeladene ErsK hat innerhalb der Revisionsfrist keinen Revisionsantrag gestellt.
Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revisionen. Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für zutreffend. Mit der Behandlung seiner Angehörigen habe er seine Pflichten als Vertragsarzt erfüllt; eine ärztliche Berufssitte, Angehörige und Berufskollegen unentgeltlich zu behandeln, werde heute nicht mehr allgemein anerkannt.
II
Die Revision der beigeladenen ErsK ist unzulässig, weil sie innerhalb der Revisionsfrist (§ 164 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) keinen Antrag zur Revision gestellt hat und, darauf hingewiesen, keine Gründe vorgetragen hat, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gerechtfertigt hätten.
Die Revisionen der beklagten KÄV und des beigeladenen VdAK sind zulässig, aber nicht begründet. Das LSG hat die Beklagte mit Recht verurteilt, dem Kläger den streitigen Honorarbetrag zu zahlen.
Es hat dabei zutreffend angenommen, daß die Beklagte an sich zu einer nachträglichen Honorarberichtigung befugt war. Nach dem hier maßgebenden, am 1. Oktober 1963 in Kraft getretenen Arzt-Ersatzkassen-Vertrag vom 20. Juli 1963, dessen Bestimmungen für alle an der Ersatzkassenpraxis beteiligten Ärzte verbindlich sind (§ 6 Nr. 2), stellt die KÄV die ihr vom Vertragsarzt eingereichten Rechnungen rechnerisch und bezüglich der ordnungsgemäßen Anwendung der Gebührenordnung sowie der vertraglichen Bestimmungen richtig (§ 12 Nr. 3). Hat sie dabei zunächst einen Fehler übersehen und eine Leistung zu Unrecht als abrechnungsfähig anerkannt, kann sie den Fehler auch nachträglich noch berichtigen; das kann insbesondere auf Verlangen der zahlungspflichtigen ErsK geschehen, die ihre Beanstandungen allerdings binnen 3 Monaten, nachdem sie die Gesamtrechnung erhalten hat, geltend machen soll (§ 13 Nr. 4). Soweit hiernach mit Recht eine Honorarberichtigung erfolgt, kann sich der Vertragsarzt nicht auf die Bindungswirkung eines ihm erteilten Abrechnungsbescheides berufen, sondern hat der KÄV den überzahlten Betrag zu erstatten (vgl. auch BSG 31, 23, 28 f).
Im vorliegenden Fall war die nachträgliche Honorarberichtigung jedoch rechtswidrig, weil der Kläger die fraglichen Leistungen zu Recht bei der Beklagten abgerechnet hat.
Welche Personen Leistungen der Vertragsärzte auf Krankenschein, also unmittelbar zu Lasten der ErsK'en in Anspruch nehmen dürfen, regelt § 4 des Vertrages. Danach sind "anspruchsberechtigt ... Mitglieder der Vertragskassen sowie deren mitversicherte Familienangehörige", sofern nicht das Einkommen eine bestimmte Grenze übersteigt (§ 4 Nr. 1 und Nr. 2). Da letzteres für die Ehefrau des Klägers während der fraglichen Zeit (I/1965) nicht zutraf, war sie - als Mitglied der beigeladenen ErsK - zusammen mit ihren mitversicherten Kindern "anspruchsberechtigt" im Sinne der genannten Bestimmung. Bei welchem Vertragsarzt sie sich und ihre Kinder behandeln lassen wollte, stand ihr frei (§ 4 Nr. 4). Der Ersatzkassenvertrag enthält keine Bestimmung, die ihre "Anspruchsberechtigung" oder ihr Recht der freien Arztwahl im Verhältnis zu ihrem Ehemann einschränkt oder ausschließt. Damit unterscheidet er sich von Regelungen, wie sie etwa in der privaten Krankenversicherung oder im Beihilferecht des öffentlichen Dienstes gelten. So sehen die neuen Musterbedingungen des Verbandes der privaten Krankenversicherung ausdrücklich vor, das keine Leistungspflicht für Behandlungen durch Ehegatten, Eltern oder Kinder besteht (§ 5 Abs. 1 Buchst. g, vgl. Prölss-Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 18. Aufl., S. 944, 950 f; bis zur Einfügung dieser Ausschlußklausel hatte die Rechtsprechung der Nachkriegszeit die Versicherer auch insoweit für grundsätzlich leistungspflichtig gehalten, vgl. Deutsche Rechtszeitschrift 1950, 253; Versicherungsrecht 1951, 9 und 1952, 364; Goebbels, Ärztliche Mitteilungen 1950, 19). Wenn nach den Beihilfevorschriften des öffentlichen Dienstes Aufwendungen für die persönliche Tätigkeit eines nahen Angehörigen bei einer Heilmaßnahme nicht beihilfefähig sind (Nr. 3 Abs. 8 der Beihilfevorschriften des Bundes idF vom 28. Oktober 1965, CMBl S. 383), so mag dies mit dem Wesen der Beihilfe als einer besonderen Fürsorgeleistung des Dienstherrn zusammenhängen, auf deren Gewährung nach herrschender Meinung nur ein nachrangiger ("subsidiärer") Anspruch besteht (vgl. Lohse-Knopp-Wichmann, Das Beihilferecht, Bd I 2. Aufl., S. 26 f). Auch hier hat man jedenfalls eine entsprechende Ausnahmevorschrift für notwendig erachtet. Solange der Arzt-Ersatzkassen-Vertrag solche oder ähnliche Bestimmungen nicht enthält, kann sich ein Ersatzkassenmitglied auch gegenüber einem Vertragsarzt, zu dem es in engen familienrechtlichen Beziehungen steht, auf die vertragliche Anspruchsberechtigung berufen, und kann der Vertragsarzt, wenn er die Behandlung auf Krankenschein übernimmt, die erbrachten Leistungen bei der KÄV zu Lasten der ErsK abrechnen.
Daran ändert auch eine gesetzliche Unterhaltspflicht des Vertragsarztes gegenüber dem Versicherten nichts. Die auf den Ersatzkassenvertrag beruhenden Berechtigungen des Versicherten und des Arztes werden durch sie weder verdrängt noch "überlagert", wie die beklagte KÄV meint. Der Senat läßt dabei offen, ob der Ansicht des LSG zuzustimmen ist, der Kläger sei von seiner im Familienrecht begründeten Pflicht zur persönlichen und unentgeltlichen Behandlung seiner Angehörigen dadurch frei geworden, daß er ihnen einen entsprechenden Sachleistungsanspruch gegen einen Versicherungsträger verschafft habe (auf den er seine Angehörigen dann auch gegen ihren Willen verweisen könnte). Nicht beitreten kann der Senat der Revision jedenfalls insofern, als sie umgekehrt die versicherten Angehörigen eines Vertragsarztes, die sich durch ihn behandeln lassen, allein auf ihre familienrechtlichen Ansprüche beschränken, ihnen daneben also keinerlei versicherungsrechtliche Ansprüche zugestehen will, obwohl sie die gleichen Beiträge wie die anderen Versicherten entrichten. Mindestens in den Fällen, in denen Vertragsarzt und versicherter Angehöriger über eine Behandlung auf Krankenschein einig sind, kann dem Arzt die Abrechnung seiner Leistungen bei der KÄV nicht verwehrt, ihm insbesondere nicht entgegengehalten werden, er habe in Erfüllung seiner Unterhaltspflicht und nicht auf Grund des Ersatzkassenvertrages gehandelt.
Ähnliches gilt für die Ansicht des beigeladenen VdAK, der Vertragsarzt behandele seine Angehörigen nach ärztlicher Standessitte unentgeltlich. Selbst wenn eine solche Sitte heute noch bestehen sollte, wären die Beteiligten rechtlich nicht gehindert, von ihr im Einzelfall abzuweichen und die Behandlung auf Krankenschein, d.h. auf versicherungsrechtlicher Grundlage, vorzunehmen. Das ärztliche Berufsrecht steht dem nicht entgegen. Auch nach der neuen Berufsordnung für die deutschen Ärzte "kann" der Arzt zwar Verwandten, Kollegen, deren Angehörigen und unbemittelten Patienten das Honorar erlassen, ist dazu aber nicht verpflichtet (§ 11 Abs. 2, vgl. Deutsches Ärzteblatt 1970, 2025).
Unbegründet ist ferner der Einwand der Beklagten, die Abrechnung von Leistungen gegenüber der KÄV setze einen Behandlungsvertrag des Arztes mit dem Patienten und einen entsprechenden vertraglichen Honoraranspruch des Arztes voraus; daran fehle es bei der Behandlung von nahen Angehörigen. Abgesehen davon, daß der Abschluß eines Behandlungsvertrages auch zwischen Verwandten (Ehegatten) möglich ist, geht es einem sozialversicherten Patienten, der dem Arzt einen Krankenschein vorlegt, gerade darum, keine persönlichen Zahlungsverpflichtungen zu übernehmen, sondern unmittelbar zu Lasten des Versicherungsträgers behandelt zu werden. Das schließt nicht aus, daß sich die Sorgfaltspflicht des Arztes ihm gegenüber "nach den Vorschriften des bürgerlichen Vertragsrechts" richtet (§ 368 d Abs. 4 RVO). Damit unterstellt das Gesetz nicht das Bestehen eines privaten Behandlungsvertrages mit entsprechenden Honoraransprüchen des Arztes, sondern will nur die sozialversicherten Patienten insoweit den "Privatpatienten" gleichstellen.
Der Beklagten kann schließlich nicht zugegeben werden, daß die hier vertretene Auffassung zu unbefriedigenden oder gar lebensfremden Ergebnissen führt. Wenn heute Arbeitsverträge zwischen Ehegatten oder zwischen Eltern und Kindern trotz der bestehenden familienrechtlichen Beziehungen vom Arbeits-, Steuer- und Versicherungsrecht anerkannt werden, sofern sie ernstlich gemeint sind (vgl. die Beschlüsse des BVerfG vom 26. November 1964 zu § 175 RVO und vom 16. Februar 1965 und 13. Dezember 1966 zu § 65 AVAVG aF, abgedruckt in SozR Nr. 55, Nr. 56 und Nr. 60 zu Art. 3 GG), erscheint es nur folgerichtig, auch eine ärztliche Behandlung durch den Ehegatten oder einen Elternteil auf Grund des öffentlichen Versicherungsrechts, insbesondere des Ersatzkassenvertrags, zuzulassen.
Daß dabei - wie in manchen anderen rechtlichen Beziehungen - die Möglichkeit eines Mißbrauchs nicht völlig auszuschließen ist, muß in Kauf genommen werden. Die insoweit erhobenen Bedenken der Revision richten sich im übrigen nicht gegen die Abrechnungsfähigkeit der gegenüber Angehörigen erbrachten Leistungen, sondern lediglich gegen Schwierigkeiten bei der Feststellung, ob die Leistungen tatsächlich erbracht worden sind, betreffen also nicht die Rechts-, sondern die "Beweisfrage". Hier mag in Zweifelsfällen durchaus ein strenger Prüfungsmaßstab angelegt werden. Im vorliegenden Fall sind solche Zweifel nicht geäußert worden und nicht erkennbar. Das LSG hat deshalb mit Recht den Berichtigungsbescheid der beklagten KÄV aufgehoben und dem Zahlungsanspruch des Klägers stattgegeben. Die Revisionen der Beklagten und des beigeladenen VdAK sind unbegründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen