Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsfrist bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (redaktionell)
Liegt ein Wiedereinsetzungsgrund vor, dann kann das Rechtsmittel formgerecht innerhalb der hierfür geltenden Antragsfrist nachgeholt werden.
Orientierungssatz
1. Eine Rechtsmittelbelehrung muß die Beteiligten zwar auch über die von ihnen einzuhaltenden Formvorschriften unterrichten. Dieser Pflicht wird jedoch durch den Hinweis auf die "schriftliche" Einlegung der Berufung genügt. Eine nähere Erläuterung dieses Begriffs ist nicht erforderlich, zumal die Rechtsmittelbelehrung dadurch (und durch eine Erläuterung auch anderer in der Rechtsmittelbelehrung enthaltener Rechtsbegriff) leicht unübersichtlich werden könnte.
2. Auch im sozialgerichtlichen Verfahren bedarf die Berufungsschrift grundsätzlich der eigenhändigen Unterschrift (vergleiche BSG 1974-05-28 2 RU 259/73 = BSGE 37, 279).
3. Eines besonderen Antrages für die Gewährung der Wiedereinsetzung bedarf es nicht, wenn innerhalb der Antragsfrist die versäumte Rechtshandlung (hier: die Einlegung der Berufung durch eine eigenhändig unterzeichnete Berufungsschrift) nachgeholt wird.
4. Ein Abweichen von der ständigen und vom Schrifttum überwiegend gebilligten Rechtsprechung kann für ein Revisionsgericht - auch unter Berücksichtigung seiner Aufgabe zur Fortbildung des Rechts (SGG § 43) - nur in Betracht kommen, wenn schwerwiegende Gründe dazu nötigen. Der Umstand, daß sich auch für die Gegenmeinung "gute Gründe" anführen lassen, genügt nicht (vergleiche BSG 1975-10-29 12 RJ 290/72 = BSGE 40, 292, 296).
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 2 S. 4 Fassung: 1953-09-03, § 151 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 43 Alt. 1, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 15.02.1977; Aktenzeichen L 2/J 834/76) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 30.06.1976; Aktenzeichen S 8/J 894/74) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Februar 1977 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Der Klägerin wird für das Revisionsverfahren das Armenrecht bewilligt und ihr Rechtsanwalt B als Prozeßbevollmächtigter beigeordnet.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG), das ihre Berufung, weil verspätet, als unzulässig verworfen hat.
Das Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 30. Juni 1976, das ihre Klage auf Gewährung einer Geschiedenenwitwenrente als unbegründet abgewiesen hat, ist ihr durch einen eingeschriebenen Brief, der am 22. Juli 1976 zur Post gegeben worden ist, zugestellt worden. Danach befindet sich in den Akten folgendes persönliches Schreiben der Klägerin:
Betrft Az S 8/J-894/74
Bad K 9.8.76
da ich zur Zeit schwerkrank und zur Kur ich wollte gehen das Urteil was an 30.6.76 wahr Berufung aber ich bin schwerkrank ich habe 4 Zeugen die gesehen haben wie mir die Briefe mit den geld auf die Arbeit geschickt wurden ich habe mit den Frauen zusahmen gearbeitet und der Herr R wahr dabei wie mein Mann ihn F und mir das Geld gegeben hat die können das alle beeiden aber ich kann hier zur Zeit nichts unternehmen ich bin schwer krank auch darf ich von Arzt aus nicht mehr Arbeiten gehen ich bitte sie höflich mir Antwort zu komen zu lassen und enschuligen die Schlechte Schrift.
Dieses - von der Klägerin nicht unterzeichnete - Schreiben trägt den Eingangsstempel des SG vom 11. August 1976; ein Briefumschlag ist nicht bei den Akten.
Nachdem die Geschäftsstelle des SG die Klägerin mit einem am 17. August 1976 abgesandten Schreiben um Mitteilung gebeten hatte, ob ihr Schreiben vom 9. August 1976 als Berufung angesehen werden solle, hat der Urkundsbeamte am 16. September 1977 folgenden Vermerk aufgenommen:
Es erscheint die Klägerin und erklärt, daß ihr Schreiben v. 9.8.76 als Berufung angesehen werden soll. K K.
Mit Schreiben vom 2. November 1976 wies der Berichterstatter des LSG die Klägerin darauf hin, daß ihre Berufung wegen fehlender Unterschrift als unzulässig verworfen werden könnte. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 15. Februar 1977 erklärte die Klägerin:
Es trifft zu, dass ich meine Unterschrift unter die Berufungsschrift verspätet geleistet habe. Ich befand mich, als ich mein Berufungsschreiben abgesandt habe, in Bad K zur Kur wegen einer Nerven- und Magensache. Ich litt damals unter Depressionen und war nicht einmal in der Lage, einen Kugelschreiber zu halten. Das Schreiben vom 9.8.1976 habe ich aber selbst geschreiben.
Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 15. Februar 1977 als unzulässig verworfen, weil die Berufungsschrift nicht unterschrieben gewesen sei und die Klägerin die Unterschrift erst nach Ablauf der Berufungsfrist nachgeholt habe. Ob Wiedereinsetzungsgründe vorlägen, könne dahinstehen, da die Klägerin einen entsprechenden Antrag erst in der Verhandlung am 15. Februar 1977, mithin nicht innerhalb eines Monats nach Belehrung über die mögliche Unzulässigkeit der Berufung im Schreiben des Berichterstatters vom 2. November 1976, gestellt habe. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil gegen die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach zur Schriftlichkeit der Berufung die eigenhändige Unterschriftsleistung gehöre, gewichtige Gegenargumente vorgetragen würden.
Die Klägerin macht mit der Revision geltend, das LSG hätte ihr Wiedereinsetzung gewähren müssen, da schon ihre Erklärung vom 16. September 1976 ein Wiedereinsetzungsgesuch enthalte. Im übrigen sei die Rechtsprechung, nach der die Berufung eigenhändig unterschrieben werden müsse, nicht überzeugend begründet, zumal die Berufung unbestritten auch telegraphisch eingelegt werden könne. Schließlich sei aus der Rechtsmittelbelehrung des SG, daß die Berufung "schriftlich" einzulegen sei, für einen Laien nicht erkennbar, daß sie auch unterschrieben werden müsse; eine solche Rechtsmittelbelehrung sei deshalb ungenügend. Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden muß. Ob die Berufung der Klägerin zulässig ist, kann nach den bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend entschieden werden.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß das Urteil des SG, das der Klägerin durch eingeschriebenen Brief zugestellt worden ist (§§ 63 Abs 1 und 2, 135 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - iVm § 4 des Verwaltungszustellungsgesetzes - VwZG -), mit dem dritten Tage nach der am 22. Juli 1976 erfolgten Aufgabe zur Post, dh mit dem 25. Juli 1976, als zugestellt gilt (§ 4 Abs 1 VwZG).
Das Urteil hat auch eine dem § 66 SGG entsprechende Rechtsmittelbelehrung enthalten. Daß die Klägerin darin nicht ausdrücklich darüber belehrt worden ist, daß zur "schriftlichen" Einlegung der Berufung die eigenhändige Unterzeichnung der Berufungsschrift gehört, hat die Belehrung - entgegen der Ansicht der Revision - nicht unrichtig oder unvollständig gemacht. Eine Rechtsmittelbelehrung muß die Beteiligten zwar auch über die von ihnen einzuhaltenden Formvorschriften unterrichten (Meyer-Ladewig, SGG, § 66, Anm. 10). Dieser Pflicht genügt das SG, was die Belehrung über die Schriftform der Berufung betrifft, jedoch durch den Hinweis auf die "schriftliche" Einlegung der Berufung. Eine nähere Erläuterung dieses Begriffs ist nicht erforderlich, zumal die Rechtsmittelbelehrung dadurch (und durch eine Erläuterung auch anderer in der Rechtsmittelbelehrung enthaltener Rechtsbegriffe) leicht unübersichtlich werden könnte. Im übrigen ist sich die Klägerin offenbar bewußt gewesen, daß zur Schriftform die eigenhändige Unterschrift gehört, wie mehrere in den Akten befindliche und von ihr selbst unterschriebene Eingaben zeigen. Ursächlich für das Fehlen der Unterschrift unter ihrem Schreiben vom 9. August 1976 ist somit nicht ein Rechtsirrtum über den Begriff der Schriftlichkeit, sondern ein - möglicherweise entschuldbares - Versehen der Klägerin gewesen.
Innerhalb der - durch die Zustellung des SG-Urteils in Lauf gesetzten und am 25. August 1976 abgelaufenen - Berufungsfrist (§ 151 SGG) hat die Klägerin keine ordnungsgemäße Berufung eingelegt, weil ihr Schreiben vom 9. August 1976 nicht unterzeichnet war. Daß auch im sozialgerichtlichen Verfahren, von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen, die Berufungsschrift eigenhändig unterschrieben werden muß, hat das BSG wiederholt entschieden (vgl BSG 37, 279, 280 mwN). An dieser ständigen und vom Schrifttum (vgl zuletzt Meyer-Ladewig aaO § 151, Anm 4) überwiegend gebilligten Rechtsprechung ist festzuhalten. Das erfordert vor allem die Rechtssicherheit, zu der als wesentliches Element die Berechenbarkeit des Rechts und seiner Anwendung durch die Gerichte gehört. Ein Bruch mit einer ständigen Rechtsprechung, deren Bedeutung für die Rechtsunterworfenen einer Norm des Gewohnheitsrechts nahesteht, kann deshalb für ein Revisionsgericht - auch unter Berücksichtigung seiner Aufgabe zur Fortbildung des Rechts (vgl § 43 SGG) - nur in Betracht kommen, wenn schwerwiegende Gründe dazu nötigen. Der Umstand, daß sich auch für die Gegenmeinung "gute Gründe" anführen lassen, genügt nicht (vgl. BSGE 40, 292, 296).
Solche schwerwiegenden Gründe für eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung des BSG, die sich mit der aller anderen obersten Bundesgerichte deckt (vgl. außer den schon in BSGE 37, 279, 280 genannten Entscheidungen die Urteile des Bundesgerichtshofes in NJW 1976, 966, und des Bundesarbeitsgerichts in NJW 1976, 1285) hat weder die Klägerin vorgetragen, noch das LSG in der Begründung seiner Zulassungsentscheidung angeführt. Daß bei einer telegraphischen oder fernschriftlichen Einlegung eines Rechtsmittels das dem Gericht von der Post übermittelte Schriftstück nicht eigenhändig vom Rechtsmittelkläger unterschrieben zu sein braucht, hat allein technische Gründe; eine - den Interessen der Rechtssuchenden entgegenkommende - Verwendung des Telegraphen und des Fernschreibers wäre andernfalls unmöglich. Bei den vom LSG angeführten "gewichtigen Gegenargumenten" handelt es sich um Stimmen aus den Jahren 1963 und 1964, die in der späteren Rechtsprechung schon berücksichtigt worden sind.
Ob zu den Ausnahmen vom Erfordernis der eigenhändigen Unterzeichnung der Berufungsschrift auch der Fall gehört, daß auf dem Briefumschlag, in dem sich die Berufungsschrift befindet, der (mit dem Berufungskläger nach dem Schriftbild identische) Name des Absenders vermerkt ist und die sonstigen Umstände jeden Zweifel an der Person des Berufungsklägers und an seinem Willen zur Einlegung der Berufung ausschließen, läßt der Senat offen; denn die Akten des vorliegenden Rechtsstreits (in denen ein Umschlag zum Schreiben der Klägerin vom 9. August 1976 fehlt) geben keinen Anlaß zu weiteren Erwägungen in dieser Richtung.
Da eine fehlende Unterschrift wirksam nur innerhalb der Berufungsfrist nachgeholt werden kann (BSGE 6, 256, weitere Nachweise bei Meyer-Ladewig aaO § 151, Anm 5), die Klägerin jedoch den vom Urkundsbeamten aufgenommenen Vermerk vom 16. September 1976, der als Wiederholung der Berufungseinlegung anzusehen ist, erst an diesem Tage, mithin erst nach Ablauf der Berufungsfrist, unterschrieben hat, war ihre Berufung verspätet.
Gleichwohl hätte das LSG die Berufung nicht verwerfen dürfen, ohne zuvor die Frage zu prüfen, ob der Klägerin aus den von ihr vorgetragenen Gründen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (§ 67 SGG). Daß eine Wiedereinsetzung auch zulässig ist, wenn ein - zunächst nicht ordnungsgemäß eingelegtes - Rechtsmittel nach Ablauf der Rechtsmittelfrist in ordnungsmäßiger Form wiederholt wird, ist in der Rechtsprechung anerkannt (vgl Bundesgerichtshof in NJW 1971, 1749; anderer Ansicht für das Revisionsverfahren anscheinend Bundesfinanzhof in Betriebsberater 1977, 1087). Die Prüfung der von der Klägerin angegebenen Wiedereinsetzungsgründe durfte auch nicht deshalb unterbleiben, weil die Klägerin einen Wiedereinsetzungsantrag erst in der Verhandlung vor dem LSG am 15. Februar 1977 gestellt hat, nach Ansicht des LSG also nicht innerhalb der Antragsfrist von einem Monat nach Belehrung über die mögliche Unzulässigkeit der Berufung (§ 67 Abs 2 Satz 1 SGG).
Eines solchen Antrages bedarf es für die Gewährung der Wiedereinsetzung nicht, wenn innerhalb der Antragsfrist die versäumte Rechtshandlung (hier: die Einlegung der Berufung durch eine eigenhändig unterzeichnete Berufungsschrift) nachgeholt wird. Das ist im vorliegenden Fall mit der Unterzeichnung des Vermerks vom 16. September 1976 durch die Klägerin geschehen. Das LSG hätte deshalb prüfen müssen, ob die von der Klägerin vorgetragenen Gründe eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen (vgl Meyer-Ladewig aaO, § 67, Anm 10). Um dem LSG Gelegenheit zu geben, diese Prüfung nachzuholen, hat der Senat die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Es wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitentscheiden.
Fundstellen