Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufung. Zulässigkeit

 

Orientierungssatz

Ist streitig, ob ein bestimmter Vorgang aus medizinischer Sicht geeignet ist, gewisse Erkrankungen wesentlich zu verursachen oder nur - als bloße Gelegenheitsursache - sie auszulösen, so liegt ein Fall des § 150 Nr 3 SGG vor.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr. 3

 

Verfahrensgang

LSG Bremen (Entscheidung vom 05.05.1966)

SG Bremen (Entscheidung vom 06.07.1964)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 5. Mai 1966 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Über den im Januar 1922 geborenen Kläger, der früher als Bauschlosser tätig gewesen und nunmehr als technischer Betriebsleiter in einer bei der Beklagten versicherten Firma beschäftigt war, wurde am 9. November 1962 eine Unfallanzeige erstattet, danach hatte er sich am 5. November 1962 das rechte Knie verletzt, als er bei Kontrolle der Arbeit am Prüfstand eine Kniebeuge ausführte. Der Kläger suchte noch am gleichen Tage seinen Hausarzt Dr. S und den Facharzt für Orthopädie Dr. H auf, die ihn wegen Verdachts auf Meniskusverletzung behandelten. Am 9. November 1962 wurde der Kläger dem Durchgangsarzt Dr. S vorgestellt; dieser diagnostizierte auf Grund des von ihm erhobenen Befundes - Streckhemmung, Anschwellung und Druckschmerz am rechten Knie - einen Innenmeniskusschaden mit Einklemmung und bemerkte, ein frischer Unfall liege nicht vor, es müsse gutachtlich geklärt werden, ob der jetzige Zustand Folge eines früheren Unfalls sei. Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, ein Unfallereignis - nämlich eine unvorhergesehene, von außen kommende Gewalteinwirkung - habe nicht vorgelegen.

Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Bremen hat der Sachverständige Präsident a. D. Dr. W in seinem Gutachten die eingehende Schilderung wiedergegeben, die ihm der Kläger über den Arbeitsvorgang vom 5. November 1962 gab; ferner hat der Sachverständige einen Bericht über die am 20. November 1962 vorgenommene Meniskusoperation sowie das Ergebnis der feingeweblichen Untersuchung verwertet. Dr. W ist zu dem Ergebnis gelangt, der Meniskusriß und die nachfolgende Sudeck'sche Erkrankung am rechten Knie und Fuß hingen mit dem am 5. November 1962 erlittenen Unfall ursächlich im Sinne der Entstehung zusammen, die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage bis zum 31. Januar 1964 30 v. H., seither noch 10 v. H.. Die Beklagte hat eine kritische Stellungnahme des Chirurgen Dr. S zu diesem Gutachten vorgelegt. In der mündlichen Klageverhandlung hat der Kläger beantragt, die Beklagte zur Gewährung einer Unfallrente von 30 v. H. bis zum 31. Januar 1964 zu verurteilen. In seinem dem Klagantrag stattgebenden Urteil vom 6. Juli 1964 hat das SG u. a. ausgeführt, ein Arbeitsunfall habe - entgegen der Auffassung der Beklagten - vorgelegen. Nach seiner Schilderung habe der Kläger am 5. November 1962 in vollständiger Kniebeuge mit Hammer und Schraubenzieher Reparaturarbeiten an einer Eisentür verrichtet; in dieser hockenden Stellung habe er die Arbeitsbewegungen ausbalancieren müssen, was die Muskulatur des rechten Beines sehr angespannt habe; dies in Verbindung mit Drehbewegungen beider Knie sei durchaus geeignet gewesen, auch einen gesunden Meniskus zu schädigen. Anhaltspunkte für eine vorherige Meniskusdegeneration seien durch die feingewebliche Untersuchung nicht erbracht worden. In der Rechtsmittelbelehrung hat das SG die Berufung als zulässig gemäß § 150 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bezeichnet.

Ihre Berufung hat die Beklagte auf eine eingehende gutachtliche Äußerung des Chirurgen Prof. Dr. R gestützt. Dieser hat die Ansicht vertreten, der "Unfall" vom 5. November 1962 habe einen bereits vorgeschädigten Meniskus betroffen und sei höchstens als auslösender Faktor für das Zustandekommen der Loslösung und Einklemmung anzusehen.

Das Landessozialgericht (LSG) Bremen hat in der Berufungsverhandlung am 5. Mai 1966 den Sachverständigen Dr. W gehört und hierauf die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die an sich durch § 145 Nr. 2 und 3 SGG ausgeschlossene Berufung sei gleichwohl nach § 150 Nr. 3 SGG zulässig, auch wenn diese Vorschrift unter Heranziehung der zu § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG ergangenen Rechtsprechung (BSG 6, 120) eng ausgelegt werde. Zwischen den Beteiligten sei nämlich nicht streitig, ob die einzelnen einen Arbeitsunfall ergebenden Merkmale vorlägen, sondern lediglich, ob der Meniskusriß mit dem Ereignis vom 5. November 1962 ursächlich zusammenhänge. Daß es sich hier nicht um den schicksalsmäßig ausgelösten Riß eines bereits vorgeschädigten, sondern um den traumatischen Riß eines gesunden Meniskus gehandelt habe, werde durch die überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. W erwiesen; den entgegenstehenden Äußerungen des Prof. Dr. R und des Dr. S könne nicht gefolgt werden. Das LSG hat die Revision zugelassen "in Anbetracht der Rechtsfrage, ob hier die Voraussetzungen des § 150 Nr. 3 SGG erfüllt sind".

Gegen das am 8. Juni 1966 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 4. Juli 1966 Revision eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Entscheidung die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zurückzuverweisen.

Am 29. Juli 1966 ist die Revision wie folgt begründet worden: Zu Unrecht gehe das LSG davon aus, daß die einzelnen einen Arbeitsunfall ergebenden Merkmale zwischen den Beteiligten unstreitig seien; die Beklagte mache vielmehr nach wie vor geltend, bei dem Ereignis vom 5. November 1962 habe es sich überhaupt nicht um einen Arbeitsunfall im Rechtssinne gehandelt; da das LSG diesen Gesichtspunkt nicht berücksichtigt habe, verstoße das angefochtene Urteil gegen § 128 Abs. 1 SGG. Nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt sei der Kläger von dem Meniskusriß bei Ausübung einer Kniebeuge, also bei einem ganz alltäglichen Arbeitsvorgang, betroffen worden, so daß nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. September 1961 (SozR Nr. 47 zu § 542 RVO aF) eine wesentliche Mitverursachung nicht vorliegen könne. Der nicht als Zeuge, sondern nur als Sachverständiger gehörte Präsident a. D. Dr. W habe - verfahrensrechtlich unstatthaft - eigene Ermittlungen angestellt, die Vorinstanzen hätten diese nichtmedizinischen Beweiserhebungen des Sachverständigen nicht berücksichtigen dürfen. Inhaltlich seien die Ausführungen des Dr. W unvereinbar mit Erfahrungssätzen, die von der herrschenden medizinischen Lehrmeinung anerkannt würden und auf die Prof. Dr. R in seiner überzeugenden Stellungnahme hingewiesen habe.

Der Kläger beantragt,

Verwerfung, hilfsweise Zurückweisung der Revision.

Nach seiner Ansicht sind die in § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG aufgestellten Voraussetzungen einer Revisionszulassung hier nicht gegeben. Auch die Berufung sei schon im Hinblick darauf unzulässig gewesen, daß die Beklagte das Vorliegen eines Arbeitsunfalls bestreite; das LSG habe insoweit § 150 Nr. 3 SGG unrichtig angewandt. In der Sache selbst pflichtet der Kläger dem angefochtenen Urteil bei.

Die Beigeladene trägt vor, der in der Revisionsbegründung geltend gemachte Standpunkt zur Frage des Vorliegens eines Arbeitsunfalls hätte zur Verwerfung der Berufung führen müssen. Aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung (SozR Nr. 47 zu § 542 RVO aF) folge im übrigen, daß es endgültig gesicherte medizinische Lehrmeinungen zur Kausalität eines Arbeitsunfalls für eine Meniskusschädigung nicht gebe.

II

Das LSG hat die Revision unter Hinweis auf die Rechtsfrage zugelassen, ob im vorliegenden Fall die Voraussetzungen des § 150 Abs. 3 SGG erfüllt seien. Hierin kann eine offenbar gesetzwidrige Revisionszulassung (vgl. BSG 10, 240) nicht erblickt werden, die Revision ist daher wirksam zugelassen worden. Sie genügt auch den übrigen prozessualen Erfordernissen (§ 164, 166 SGG), hat jedoch keinen Erfolg.

Die vom LSG bejahte Frage, ob die Berufung nach § 145 Nr. 2 und 3 SGG ausgeschlossen war, bedarf keiner näheren Prüfung (vgl. im übrigen Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung 1. bis 6. Aufl., S. 250 k, k I, m; Peters-Sautter-Wolff, Kom. zum SGb Anm. 3 d und 4 a zu § 145; LSG Baden-Württemberg 1966, 886). Bei Unanwendbarkeit dieser Vorschriften war die Berufung ohne weiteres zulässig (§ 143 SGG). War das Rechtsmittel dagegen durch eine dieser Vorschriften ausgeschlossen, so war es dessen ungeachtet auf Grund des § 150 Nr. 3 SGG zulässig, weil der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall streitig war. Allerdings wäre dies nicht der Fall, wenn - wie die Revision vorträgt - die Frage, ob das Geschehen vom 5. November 1962 ein Unfallereignis war, ein vom ursächlichen Zusammenhang getrenntes Problem beträfe.

Der Revisionsbegründung ist jedoch insoweit nicht beizupflichten. Zwar wird im Beschluß des Großen Senats vom 21. November 1957 (BSG 6, 120, 122) als nicht zum Ursachenzusammenhang - hier i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG - gehörend u. a. die Frage bezeichnet, "ob das schädigende Ereignis ein Unfall war"; damit sind aber nach Ansicht des erkennenden Senats nur allgemein versicherungsrechtliche Gesichtspunkte gemeint, wie sie etwa in den in BSG 24, 216, 219; SozR Nr. 6 und Nr. 47 zu § 542 RVO aF veröffentlichten Entscheidungen behandelt worden sind. Hier dagegen handelt es sich um die auch bei manchen anderen Gesundheitsstörungen - z. B. Bandscheibenschaden, Herzinfarkt - auftauchende besondere Frage, ob ein bestimmter Vorgang aus medizinischer Sicht geeignet ist, gewisse Erkrankungen wesentlich zu verursachen oder nur - als bloße Gelegenheitsursache - sie "auszulösen". Wollen in derartigen Fällen ärztliche Gutachter dartun, eine wesentliche traumatische Verursachung sei abzulehnen, dann drücken sie das manchmal so aus, der angeschuldigte Vorgang sei kein Unfall gewesen. So verhält es sich auch bei dem Vorbringen der Beklagten, dem Ereignis vom 5. November 1962 habe der typische "Wirkungsmechanismus" gefehlt; dies gehört untrennbar zum ursächlichen Zusammenhang im medizinischen Sinne; die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Berufung nach § 150 Nr. 3 SGG sind demnach gegeben.

Das angefochtene Urteil hält dem Revisionsvorbringen stand.

Zwar hat das LSG - wie die Revision an sich zutreffend geltend macht - in prozeßrechtlich zu beanstandender Weise das Ergebnis der vom Sachverständigen Dr. W angestellten Ermittlungen - Befragung des Klägers über den Unfallhergang - verwertet. Dieser Verfahrensmangel (vgl. SozR Nr. 59 zu § 128 SGG) ist aber dadurch geheilt, daß ihn die Beklagte im Berufungsverfahren nicht gerügt hat, obgleich schon das SG-Urteil die Ergebnisse dieser Ermittlungen in den festgestellten Sachverhalt übernommen hatte.

In dem von der Revision angeführten Urteil vom 26. September 1961 (SozR Nr. 47 zu § 542 RVO aF) hat der Senat vorwiegend Fragen behandelt, auf die es in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit nicht ankommt. Von der Aufstellung allgemein gültiger Erfahrungssätze über "Wirkungsmechanismus" und Symptome bei einem traumatischen Meniskusriß hat das BSG bewußt abgesehen. Solche medizinischen Erfahrungssätze sind nach Meinung des Senats auch nicht vom beratenden Arzt der Beklagten, Prof. Dr. R in seiner dem LSG vorgelegten Stellungnahme dargetan worden. Der Senat entnimmt vielmehr der neueren Fachliteratur, daß das Meniskustrauma immer noch eine höchst umstrittene Materie ist, bei der zumal die hier interessierende Frage des Wirkungsmechanismus sowie der Bedeutung eines Kniegelenkergusses und postoperativ festgestellter degenerativer Veränderungen keineswegs einhellig in einer dem Kläger so ungünstigen Weise beantwortet werden, wie es in den Darlegungen des Prof. Dr. R der Fall ist (vgl. Betzel und Bürkle la Camp im Handbuch der gesamten Unfallheilkunde, herausgegeben von Bürkle la Camp und Schwaiger, 3. Aufl., Bd. III, S. 418 ff, 421, 422; Boos in Handbuch der Orthopädie, herausgegeben von Hohmann/Hackenbroch/Lindemann 1961, Band IV, Teil 1, S. 707 ff, 710). Auch das von der Revision angeführte Urteil des LSG Rheinland-Pfalz (BSG 1965, 492) erscheint nicht geeignet, allgemein gültige Beurteilungsmaßstäbe aufzuzeigen. Unter diesen Umständen bedeutet es keine Überschreitung der Grenzen des richterlichen Beweiswürdigungsrechts, daß das LSG der von dem Sachverständigen Dr. W vertretenen Ansicht gefolgt ist und die Stellungnahme des Prof. Dr. R als nicht überzeugend erachtet hat. Schließlich hat die Revision nicht dargetan, inwiefern noch weitere Ermittlungen zur Unfallentstehung geboten gewesen sein könnten. Zur Einholung eines Obergutachtens brauchte sich das LSG nicht gedrängt zu fühlen, da es in dem von Präsident a. D. Dr. W erstatteten Gutachten eine ausreichende Entscheidungsgrundlage erblicken durfte. Die Revision muß hiernach zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324124

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