Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin eine Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse entzogen werden durfte.
Die Klägerin bezog wegen der Folgen eines 1973 erlittenen Unfalls aufgrund eines 1976 vor dem Sozialgericht (SG) geschlossenen Vergleichs ab 1. Dezember 1975 Dauerrente nach einer MdE von 20 v.H.. Anläßlich einer Untersuchung und Begutachtung der Klägerin fand Dr. P… am 31. Mai 1977 keine Befunde mehr, die eine wesentliche MdE (mehr als 10 v.H.) bedingten. Weitere geltend gemachte Beschwerden seien keine Unfallfolgen.
Die Beklagte entzog darauf die Rente mit Ablauf des Juli 1977, ohne die Klägerin vorher anzuhören (Bescheid vom 8. Juni 1977).
Während des anhängigen Klageverfahrens erließ die Beklagte einen weiteren Bescheid, mit dem sie die Rente mit Ablauf des Monats November 1977 unter der aufschiebenden Bedingung entzog, daß der Bescheid vom 8. Juni 1977 wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben werde. Gründe, die eine andere Entscheidung bedingen würden, hätten sich im Anhörungsverfahren nicht ermitteln lassen, weshalb es bei der Beurteilung des Dr. P… vom 31. Mai 1977 verbleibe (Bescheid vom 19. Oktober 1977).
Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat nach Anhörung des Dr. T… unter Verwertung einer Stellungnahme des Dr. M… beide Bescheide aufgehoben (Urteil vom 1. November 1978).
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat auf die nur gegen die Aufhebung des nachgeschobenen Bescheides gerichtete Berufung der Beklagten das Urteil des SG abgeändert und die Klage gegen diesen Bescheid abgewiesen (Urteil vom 20. März 1979).
Mit der zugelassenen Revision wendet sich die Klägerin wegen der Bedingungsfeindlichkeit eines Verwaltungsaktes gegen die Rechtswirksamkeit des nachgeschobenen Bescheides und beanstandet die nachträgliche "rein formale Anhörung" im Klageverfahren (§ 34 Abs. 1 SGB 1).
Sie beantragt,das Urteil des LSG zu ändern und den Bescheid vom 19. Oktober 1977 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,die Zurückweisung der Revision.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Die Berufung der Beklagten ist zurückzuweisen.
Mit Recht hat das LSG festgestellt, daß der Bescheid vom 19. Oktober 1977 (Zweitbescheid) gem. § 96 SGG zum Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist. In diesem Bescheid hat die Beklagte die bisherige Dauerrente der Klägerin von 20 v.H. der Vollrente mit Ablauf des Monats November 1977 unter der aufschiebenden Bedingung entzogen, daß der Bescheid vom 8. Juni 1977 wegen einer Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben werde. Der Zweitbescheid regelt bis auf den zeitlich später liegenden Entziehungszeitpunkt dasselbe wie der Ursprungsbescheid. Er ist ebenfalls ein Verwaltungsakt. Daran ändert auch nichts, daß er unter der angegebenen aufschiebenden Bedingung erlassen worden ist. Der Zweitbescheid ist aus folgenden Gründen Gegenstand des Verfahrens geworden:
Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein neuer Verwaltungsakt, der nach Klageerhebung den ursprünglichen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt, auch Gegenstand des Verfahrens. Diese Vorschrift dient der Verfahrenswirtschaftlichkeit (Prozeßökonomie). Daher hat das Bundessozialgericht (BSG) § 96 Abs. 1 SGG in ständiger Rechtsprechung weit ausgelegt (BSGE 5, 158; 11, 146; 18, 84; Meyer-Ladewig, SGG, § 96 Anm. 4; Zeihe, SGG, § 96 Anm. 1 a), Hier soll der Zweitbescheid den Erstbescheid, wenngleich aufschiebend bedingt, zumindest weitgehend ersetzen. Das reicht aus, um den Zweitbescheid zum Gegenstand des Gerichtsverfahrens werden zu lassen. Den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit obliegt es, den Zweitbescheid auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.
Allerdings hat der 5. Senat des BSG in einem in etwa vergleichbaren Fall den dortigen, während des Berufungsverfahrens ergangenen Zweitbescheid nicht gem. §§ 153, 96 SGG - auch nicht in entsprechender Wendung dieser Vorschriften in das Berufungsverfahren miteinbezogen (BSG SozR 1200 § 34 Nr. 6). Der 5. Senat hat dort den Grundgedanken des § 96 SGG für den Fall verneint, daß beide Bescheide noch im Revisionsverfahren streitig sind und über den Zweitbescheid folgerichtig erst nach der Entscheidung über den Erstbescheid entschieden werden kann. Es kann offenbleiben, ob der erkennende Senat dieser Entscheidung zu folgen geneigt wäre, wenn er über denselben Fall zu entscheiden hätte. Der hier zu entscheidende Fall liegt anders. Das SG hat nämlich bereits rechtskräftig den Erstbescheid aufgehoben. Der erkennende Senat hat allein nur noch über den Zweitbescheid zu entscheiden. Bei dieser Sachlage ist der erkennende Senat nicht gehindert, den Zweitbescheid, da er gem. § 96 Abs. 1 SGG bereits Gegenstand des Verfahrens vor dem SG geworden und es auch im Berufungsverfahren geblieben ist, rechtlich zu überprüfen. Dabei ergibt sich allerdings, daß der Zweitbescheid rechtswidrig ist.
Bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, ist diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern (§ 34 Abs. 1 SGB 1). Da die Beklagte beabsichtigte, wie sie dies auch vor Erlaß des Zweitbescheides der Klägerin mitgeteilt hatte, die Rente wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse zu entziehen, glaubt sie ihrer Anhörungspflicht nach § 34 Abs. 1 SGB 1 vor Erlaß des Zweitbescheides genügt zu haben. Dem ist aber nicht so. Inhaltlich wiederholte sie im Zweitbescheid das, was sie in dem rechtskräftig aufgehobenen Erstbescheid bereits entschieden hatte. Sie regelte hier wie früher auch die Entziehung der Rente wegen wesentlicher Änderung der Verhältnisse. Daß der Entziehungszeitpunkt in beiden Bescheiden voneinander abweicht, entspricht § 623 Abs. 2 RVO, wonach eine Rentenentziehung erst mit Ablauf des auf die Zustellung des Bescheides folgenden Monats wirksam wird. Das ändert aber nichts daran, daß der Regelungsgegenstand in beiden Bescheiden derselbe ist. Die Beklagte war wegen des identischen Regelungsgegenstandes nicht befugt, einen Zweitbescheid des bezeichneten Inhalts zu erlassen. Sie umging mit dem Zweitbescheid den von der Rechtsprechung des BSG dem § 34 Abs. 1 SGB 1 entnommenen Grundsatz (BSGE 44, 207, 210, 211 ; 46, 57, 60; SozR 1200 § 34, Nrn. 4, 5, 6, 7, 8), daß die für das Verwaltungsverfahren vorgeschriebene Anhörung des Betroffenen im Gerichtsverfahren nicht mit heilender Wirkung nachgeholt werden darf. Gerade wegen desselben Regelungsgegenstandes beider Bescheide hätte sie der Anhörungspflicht nach § 34 Abs. 1 SGB 1 rechtlich wirksam nur dann genügt, wenn sie ihren Erstbescheid vor der Anhörung zum Zweitbescheid zurückgenommen hätte. Sie hat aber das SG über die Anfechtungsklage gegen den Erstbescheid entscheiden lassen, und zwar mit dem jetzt maßgeblich bleibenden Ergebnis, daß der Erstbescheid wegen der fehlenden Anhörung der Klägerin im Verwaltungsverfahren rechtswidrig und wegen dieses im Klageverfahren nicht mehr heilbaren Mangels aufzuheben war. Dieser Mangel blieb auch in dem weiteren Verfahren wegen desselben Regelungsgegenstandes unbehebbar, mochte es auch so scheinen, als ob die Beklagte ihrer Anhörungspflicht nach § 34 Abs. 1 SGB 1 genügt habe.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.8a RU 42/79
Bundessozialgericht
Fundstellen
BSGE, 229 |
Breith. 1980, 908 |