Leitsatz (amtlich)
Der Beginn der besonderen Ersatzzeit für Flüchtlinge (AVG nF § 28 Abs 1 Nr 6) während des Laufs einer Zweijahresfrist nach AVG § 28 Abs 2 verlängert die Frist nicht um die Dauer dieser Ersatzzeit; ist ein Nicht-Versicherter im Juli 1944 aus der Wehrmacht entlassen worden und hat er erstmalig im Februar 1947 eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen, so kann ihm die Zeit des militärischen Dienstes selbst dann nicht als Ersatzzeit auf die Wartezeit angerechnet werden, wenn er als Flüchtling Anspruch auf eine Anrechnung der Jahre 1945 und 1946 hat.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 2 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 17. Februar 1960 und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 20. November 1958 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezieht, nachdem er im Laufe des Verfahrens Beiträge nachentrichtet und dadurch die Wartezeit erfüllt hat, vom 1. März 1960 an ein Altersruhegeld aus der Rentenversicherung der Angestellten. Er erstrebt jedoch die Gewährung dieser Rente von der Antragstellung - Juni 1957 - an. Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob der Kläger schon damals die Wartezeit für das Altersruhegeld erfüllt hatte. Die Beklagte verneint das. Die Vorinstanzen sprachen dagegen dem Kläger die Rente von Juni 1957 an zu. Das Landessozialgericht (LSG) stellte dazu folgendes fest:
Der Kläger, Tierarzt und Fleischbeschauer, wurde im März 1890 geboren. Er leistete von Januar 1940 bis Juli 1944 (= 55 Monate) Wehrdienst, ohne vorher in der Rentenversicherung versichert gewesen zu sein. Von Februar 1947 bis Januar 1953 (= 72 Monate) gehörte er als Pflichtversicherter der Sozialversicherung der sowjetischen Besatzungszone an. Nach seiner Flucht in die Bundesrepublik war er von Februar 1953 bis Mai 1955 (= 28 Monate) arbeitslos. Anschließend entrichtete er von Juni 1955 bis Februar 1957 (= 21 Monate) Pflichtbeiträge an die Beklagte. Das Altersruhegeld beantragte er im Juni 1957. Er ist Flüchtling im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes.
Die Beklagte rechnete auf die für das Altersruhegeld erforderliche Wartezeit von 180 Kalendermonaten die 72 fremden und 21 hiesigen Beitragsmonate und die 28 Monate Arbeitslosigkeit als Ersatzzeit an und kam so zu 121 anrechnungsfähigen Versicherungsmonaten. Sie lehnte folglich den Rentenantrag ab (Bescheid vom 29. Mai 1958). Die Vorinstanzen zählten, weil der Kläger als Flüchtling anerkannt sei, 24 Monate für die Jahre 1945 und 1946 und außerdem die 55 Monate Wehrdienst als Ersatzzeiten hinzu; sie nahmen also eine Versicherungszeit von insgesamt 200 Monaten an und verpflichteten dementsprechend die Beklagte zur Rentengewährung. Das LSG führte dazu aus, die Beklagte habe nicht bestritten, daß für den Kläger als Flüchtling die Jahre 1945 und 1946 als Ersatzzeiten gelten; deshalb erhöhe sich die anrechnungsfähige Versicherungszeit zunächst um 24 Monate. Darüberhinaus müsse auch die Wehrdienstzeit des Klägers auf die Wartezeit angerechnet werden. Zwar sei der Kläger vor seiner Einberufung zum Wehrdienst nicht versichert gewesen und er habe auch nicht innerhalb von zwei Jahren nach der Beendigung des Wehrdienstes eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen, aber die gesetzlich vorgesehene zweijährige Übergangsfrist zwischen dem Ende des Wehrdienstes und dem Beginn der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit verlängere sich im vorliegenden Fall, weil sie im wesentlichen mit der Ersatzzeit, die den Flüchtlingen für die Jahre 1945 und 1946 allgemein zugebilligt sei, zusammenfalle, um die Dauer dieser Ersatzzeit. Die Vorschriften über die Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten (§ 28 AVG nF) müßten über ihren Wortlaut hinaus erweiternd ausgelegt werden. Der versicherungsmäßige Anschluß der Kriegsdienstzeit an die Zeit der späteren versicherungspflichtigen Beschäftigung werde vom Kläger dann erreicht.
Das LSG ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 7. März 1960 zugestellte Berufungsurteil am 26. März 1960 Revision ein und beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Sie begründete die Revision - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 7. Juni 1960 - am 23. Mai 1960 und rügte einmal, das LSG habe seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), verletzt und zum anderen, es habe die Vorschriften über die Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten (§ 28 Abs. 2 AVG nF) nicht richtig angewandt. Das Berufungsgericht habe dem Kläger die Ersatzzeit für Flüchtlinge angerechnet, ohne näher zu prüfen, ob die Voraussetzungen dafür überhaupt gegeben seien. Entfalle aber möglicherweise die Anrechenbarkeit der Ersatzzeiten für Flüchtlinge, dann könne - schon nach der eigenen Rechtsansicht des LSG - auch die Kriegsdienstzeit des Klägers nicht als Ersatzzeit angerechnet werden. Im übrigen habe die Zweijahresfrist des § 28 Abs. 2 AVG nF den Rechtscharakter einer Ausschlußfrist; sie bilde eine Ausnahme von der Regel, daß die Versicherung vor der Ersatzzeit bestanden haben müsse, und dürfe nicht erweitert werden.
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und begründet.
Der Kläger könnte das Altersruhegeld nur dann von Juni 1957 an erhalten, wenn er schon damals die Wartezeit erfüllt, also eine Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten zurückgelegt hätte (§§ 25, 27 AVG nF). Das ist jedoch nicht der Fall.
Bei der Entscheidung dieses Rechtsstreits ist von den tatsächlichen Feststellungen auszugehen, die das Berufungsgericht getroffen hat. Das Revisionsgericht ist daran gebunden, weil dagegen keine Revisionsgründe in richtiger Weise vorgebracht sind (§ 163 SGG). Soweit Verfahrensmängel gerügt werden, müssen in der Revisionsbegründung die Tatsachen und Beweismittel, die den Mangel ergeben, genau bezeichnet werden (§ 169 Abs. 2 SGG). Das hat die Beklagte nicht getan. Sie hat nicht dargelegt, welche dem LSG bekannten Beweismittel ungenutzt geblieben sind, die zu genaueren Feststellungen über das Versicherungsleben des Klägers hätten führen können. Die vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen reichen auch zu einer abschließenden Entscheidung aus. Der Rechtsstreit braucht daher nicht an das LSG zurückverwiesen zu werden.
Selbst wenn dem Kläger die besondere Ersatzzeit für Flüchtlinge angerechnet wird (§ 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG nF), erreicht er für die Wartezeit statt 180 nur 145 Versicherungsmonate (93 Beitragsmonate, 28 Monate Arbeitslosen-Ersatzzeit und 24 Monate Flüchtlings-Ersatzzeit); er bedarf auch in diesem Fall zur Erfüllung der Wartezeit für das Altersruhegeld noch der versicherungsmäßigen Anrechnung seiner Wehrdienstzeit. Diese darf ihm jedoch nicht als Ersatzzeit auf die Wartezeit angerechnet werden.
Der Wehrdienst wird als Ersatzzeit auf die Wartezeit "nur" angerechnet, wenn die Versicherung vorher bestanden hat oder wenn innerhalb von zwei Jahren nach der Beendigung des Wehrdienstes - oder, was im konkreten Fall aber nicht gegeben ist, einer durch sie aufgeschobenen oder unterbrochenen Ausbildung - eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist und während der Zeit des Wehrdienstes keine Versicherungspflicht vorgelegen hat (§ 28 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AVG nF). Diese Vorschrift trifft auf den Kläger nicht zu. Dieser war weder zu Beginn seines Wehrdienstes Versicherter in der Rentenversicherung noch ist er es innerhalb von zwei Jahren nach der Entlassung aus der Wehrmacht geworden. Der Wortlaut und der Sinn dieser Regelung lassen auch keine Ausweitung zu, wie sie das LSG für richtig hält. § 28 Abs. 1 AVG nF enthält eine Aufzählung der Ersatzzeittatbestände und der berechtigten Personen, Abs. 2 bestimmt, unter welchen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen die Ersatzzeiten angerechnet werden dürfen. Dabei deutet der Gebrauch des Wortes "nur" im Gesetzestext darauf hin, daß die Aufzählung der dort genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erschöpfend gemeint ist. Deshalb ist unter der Zweijahresfrist ein auf längstens zwei Jahre begrenzter Zeitraum zu verstehen. Dieser kann - während des Laufs der Frist - nicht durch den Eintritt anderer als der im Gesetz festgelegten Umstände verlängert werden; auch der Eintritt neuer Ersatzzeittatbestände innerhalb der Zweijahresfrist vermag das nach der klaren Wortfassung nicht zu bewirken. Ob vielleicht etwas anderes zu gelten hat, wenn sich mehrere Ersatzzeittatbestände unmittelbar und lückenlos aneinanderreihen, braucht in diesem Rechtsstreit nicht geklärt zu werden; ein solcher Fall liegt hier nicht vor, denn beim Kläger schließt sich die Ersatzzeit für Flüchtlinge (Beginn Januar 1945) nicht an das Ende der Kriegsdienstzeit (Juli 1944) an. Für das schon aus dem Wortlaut folgende Ergebnis sprechen auch der Sinn und Zweck dieser Regelung. Ersatzzeiten erfüllen ihren ursprünglichen und eigentlichen Sinn immer dann, wenn bereits vorher eine Versicherung bestanden hat (vgl. § 1263 RVO aF). Von diesem Normalfall geht auch die Ersatzzeitenregelung in § 28 AVG nF aus, wie sich aus Abs. 2 Satz 1 deutlich ergibt. Die beitragslose rückwirkende Anrechnung von Ersatzzeiten ist demgegenüber im Abs. 2 Satz 2 als eine Ausnahme gekennzeichnet. Ausnahmeregelungen haben aber ihrer Natur nach einen umgrenzten Inhalt und sind im allgemeinen Erweiterungen nicht zugänglich. Wird nun - abweichend vom Normalfall - die Anrechnung von Ersatzzeiten vorgesehen, ohne daß zuvor eine Versicherung bestanden hat, und wird statt dessen zur Anrechnung der Ersatzzeiten gefordert, daß innerhalb einer bestimmten Frist eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen sein muß, so hat diese Frist den Sinn, die nachträglich anzurechnende Ersatzzeit zeitlich eng mit dem Eintritt in die Versicherung zu verbinden. Es sollen also die versicherungsmäßig bisher indifferenten Zeiten, um das Versicherungsprinzip nicht völlig preiszugeben, wenigstens zeitlich nah an eine Versicherung gerückt werden. Wenn schon vor der Ersatzzeit keine Beitragszeiten zu liegen brauchen, so soll doch der Beginn der Beitragsentrichtung alsbald, nämlich innerhalb von zwei Jahren, folgen (vgl. auch BSG 11, 274). Die Zweijahresfrist wahrt also den Versicherungsgedanken, der ein Grundzug der Neuregelung der Rentenversicherung ist. Damit ist es - ohne eine ausdrückliche gesetzliche Vorschrift - nicht zu vereinbaren, eine Verlängerung der gesetzlich auf zwei Jahre begrenzten Frist herbeizuführen.
Im Schrifttum wird deshalb die Zweijahresfrist des § 28 Abs. 2 AVG nF als eine Ausschlußfrist bezeichnet, die, von der Möglichkeit einer unterbrochenen Ausbildung abgesehen, mit der Beendigung der Ersatzzeit - im vorliegenden Fall also mit der Beendigung des Wehrdienstes - beginnt (Etmer, Reichsversicherungsordnung, § 1251 Anm. 9; Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Komm. zum 4. und 5. Buch der RVO, 6. Aufl., § 1251 Anm. 31). Der Senat verkennt nicht, daß durch die Einführung einer begrenzten Frist im Einzelfall die Anrechnung von Ersatzzeiten von Zufälligkeiten abhängen kann. Die Frist ist aber sinnvoll, weil sie eine noch erkennbare Verbindung zwischen der Ersatzzeit und der Versicherungszeit herstellt. Der Gesetzgeber, der - wie hier durch die nachträgliche Anrechnung von Ersatzzeiten - neue Vergünstigungen einführt, darf die Voraussetzungen dafür allgemein festlegen. Daß dabei nicht jede Eigenart eines Einzelfalls berücksichtigt werden kann, ergibt sich bei der Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens von selbst. Das darf aber nicht dazu führen, eine Auslegung anzustreben, die mit dem Wortlaut und dem Sinn einer gesetzlichen Vorschrift nicht in Einklang steht.
Der Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld von Juni 1957 an läßt sich auch nicht mit der Vorschrift in Art. 2 § 50 Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 begründen. Diese Übergangsvorschrift sieht eine im Gesetz näher bestimmte Vergünstigung zur Erfüllung der Wartezeit für das Altersruhegeld vor für Personen, die anerkannte Flüchtlinge, Vertriebene oder Evakuierte sind, vor ihrer Flucht, Vertreibung oder Evakuierung als Selbständige erwerbstätig waren und danach innerhalb von zwei Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen haben; vorausgesetzt dafür wird aber u.a., daß bei der nach der Flucht, Vertreibung oder Evakuierung erfolgten Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet war. Diese Voraussetzung erfüllt der Kläger nicht. Bei der Aufnahme seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung im Bundesgebiet im Juni 1955 war er bereits über 65 Jahre alt. Damit entfällt die Anwendung dieser Vorschrift. Es braucht deshalb nicht geklärt zu werden, ob der Kläger überhaupt zu dem für diese Vergünstigung berechtigten Personenkreis gehört und ob die übrigen Voraussetzungen gegeben sind.
Der Bescheid der Beklagten ist daher richtig und muß bestätigt werden (§§ 124 Abs. 2, 170 Abs. 2, 193 SGG).
Fundstellen