Leitsatz (redaktionell)
Erschlichene Versorgungsbezüge sind in vollem Umfang, auch für die Zeit vor Inkrafttreten des KOV-VfG (1955-04-01), zurückzuerstatten.
Normenkette
KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1955-05-02, § 42 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1955-05-02, Nr. 9 Fassung: 1955-05-02, § 47 Abs. 3 Nr. 1 Fassung: 1955-05-02, § 43 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle vom 8. Februar 1962 dahin abgeändert, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 20. April 1959 in vollem Umfang zurückgewiesen wird.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Auf seinen Rentenantrag vom März 1947, mit dem der Kläger u.a. Nervenquetschung, Schädelverletzung, Schwindelanfälle, Kopfschmerzen sowie ein Nervenleiden als Folge eines Sturzes vom Kraftwagen auf dem Rückmarsch im Jahre 1942 in Rußland geltend gemacht hatte, bezog er nach ärztlicher Untersuchung auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) 27 und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen "Symptomatischer Epilepsie nach Gehirnerschütterung und Schädelbasisbruch" Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um zunächst 60 v.H. und vom 1. Dezember 1956 an um 40 v.H. Während des Klageverfahrens über die Rechtmäßigkeit dieser Rentenherabsetzung auf 40 v.H. hob das Versorgungsamt (VersorgA) mit Zustimmung des Landesversorgungsamts, gestützt auf § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG), durch den Berichtigungsbescheid vom 19. März 1959 die früheren nach der SVD 27 und dem BVG ergangenen Bescheide auf und lehnte die Anträge auf Versorgung ab, weil die Anerkennung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Rente tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen seien; nach den nunmehr dem VersorgA vorliegenden Akten des früheren Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsamts Berlin-Nord sei der Zusammenhang des Körperschadens mit dem Wehrdienst bereits im Oktober 1943 verneint und die Gewährung einer Versorgung abgelehnt worden. Wenn der Kläger diese Tatsachen angegeben hätte, wäre seinerzeit die Anerkennung nicht ausgesprochen worden. Nach Beweisaufnahme durch Einholung eines ärztlichen Gutachtens wies das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 20. April 1959 die Klage ab und führte aus, der Berichtigungsbescheid könne zwar nicht auf § 41 VerwVG, aber auf § 42 VerwVG gestützt werden, weil der Kläger Tatsachen, die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung gewesen seien, wissentlich verschwiegen habe.
Der Kläger hat Berufung eingelegt und die Weitergewährung der Rente nach einer MdE um 60 v.H. unter Wiederherstellung der Leidensbezeichnung aus dem Umanerkennungsbescheid beantragt. Während des Berufungsverfahrens hat der Beklagte den Rückforderungsbescheid vom 11. Juni 1959 erteilt, mit dem er die Rentenzahlungen für die Zeit vom 1. August 1947 bis 31. Januar 1959 im Gesamtbetrage von 11.430,- DM gemäß § 47 Abs. 3 Nr. 1 VerwVG zurückgefordert hat. Diesen Bescheid hat das Landessozialgericht (LSG) als mitangefochten betrachtet und hat durch Urteil vom 8. Februar 1962 auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG dahin abgeändert, daß der Berichtigungsbescheid nur Wirkung für die Zeit nach dem 1. April 1955 hat; den Rückforderungsbescheid hat es insoweit aufgehoben, als Versorgungsbezüge für die Zeit bis zum 31. März 1955 zurückgefordert worden sind. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt, die Berichtigung könne nicht auf die Vorschrift des § 41 VerwVG gestützt werden, wie das SG zutreffend entschieden habe. Jedoch sei der Berichtigungsbescheid nach § 42 Abs. 1 Nr. 3 und 9 VerwVG rechtmäßig, denn der Kläger habe unrichtige Angaben über seine Verletzung, das Rentenverfahren vor dem Jahre 1945 sowie die angebliche Zahlung einer Rente in dieser Zeit gemacht. Diese Angaben seien auch wissentlich, d.h. bewußt und gewollt falsch gewesen, so daß die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG erfüllt seien. Der Beklagte habe ferner die Fristen des § 43 VerwVG beachtet. Die Berichtigung könne rückwirkend nur vom Zeitpunkt des Inkrafttretens des VerwVG, dem 1. April 1955 an, ausgesprochen werden. Die unabhängig von der bisherigen Anerkennung durchgeführte Prüfung der Verwaltungsbehörde mit dem Ergebnis, daß der ursächliche Zusammenhang der angeschuldigten Schädigungsfolgen mit Einwirkungen des Wehrdienstes nur möglich, nicht aber wahrscheinlich sei, sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Damit seien die Versorgungsanträge zu Recht abgelehnt worden, und die Rückforderung sei nach § 47 VerwVG für die Zeit seit dem 1. April 1955 begründet. Das LSG hat nicht geprüft, ob der Beklagte die vor dem 1. April 1955 ergangenen Verwaltungsakte nach dem - umstrittenen - sogenannten Grundsatz des überwiegend öffentlichen Interesses hat aufheben können, weil der Berichtigungsbescheid vom 19. März 1959 auf diesen Grundsatz nicht gestützt worden ist.
Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers in vollem Umfange zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Er rügt, das LSG habe zu Unrecht die Berichtigung nur für die Zeit vom 1. April 1955 an für gerechtfertigt erklärt. Der Kläger habe nach den Feststellungen des LSG wissentlich unwahre Behauptungen aufgestellt und dadurch die Rentengewährung erlangt. Dieser Tatbestand reiche auch für eine Berichtigung der Bescheide nach den allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts aus.
Der Kläger beantragt,
die von dem Beklagten eingelegte Revision gegen das Urteil des LSG Niedersachsen vom 8. 2. 1962 als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die Gründe des angefochtenen Urteils für zutreffend, macht sie zum Gegenstand seines Vortrages und ist der Ansicht, daß die vom Beklagten erhobene Forderung, auch die vor dem 1. April 1955 gewährten Leistungen zurückzuerhalten, im Gesetz keine Stütze finde.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist mithin zulässig. Das Rechtsmittel ist auch begründet.
In der Revisionsinstanz ist nur die Rechtmäßigkeit des Berichtigungsbescheides vom 19. März 1959 insoweit streitig, als durch ihn die bis zum 31. März 1955 ergangenen Rentenbewilligungsbescheide zurückgenommen worden sind. Ferner geht der Streit um die Rechtmäßigkeit des Rückforderungsbescheides vom 11. Juni 1959 über die bis zum 31. März 1955 gewährten Versorgungsleistungen. Soweit diese Bescheide die Zeit ab 1. April 1955 betreffen und soweit sie das SG und LSG als rechtmäßig bestätigt haben, ist nur der Kläger, nicht aber der Beklagte, der allein Revision eingelegt hat, beschwert. Das LSG hat als Rechtsgrund für den Berichtigungsbescheid vom 19. März 1959 den § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG angesehen. Nach dieser Vorschrift hat die Verwaltungsbehörde auf Antrag oder von Amts wegen erneut zu entscheiden, wenn Tatsachen, die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung gewesen sind, wissentlich falsch angegeben oder verschwiegen worden sind. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß das Verhalten des Klägers die Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift erfüllt, daß er insbesondere wissentlich falsche Angaben gemacht hat. Hierdurch ist allein der Kläger beschwert. Er hat gegen die Feststellung des LSG keine Revisionsrügen erhoben und sich auch nicht gegen die Entscheidung des LSG für die Zeit vom 1. April 1955 an gewandt. Diese Feststellungen des Berufungsgerichts binden gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Bundessozialgericht (BSG) auch für die Beurteilung des Streitfalles für die Zeit vor dem 1. April 1955. Auf diesen festgestellten Tatbestand hat das Berufungsgericht für diesen Zeitraum die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Zurücknahme fehlerhafter Bescheide nicht angewandt. Dies ist nicht frei von Rechtsirrtum.
Wie das BSG bereits mit Urteil vom 20. August 1963 (BSG in SozR VerwVG § 42 Bl. Ca 2 Nr. 3) entschieden hat, bietet § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG keine unmittelbare Rechtsgrundlage weil die Rücknahme eines Bescheides nach dieser Vorschrift nicht über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des VerwVG (1. April 1955) zurückwirkt. Der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung an und macht sich ihre Ausführungen zu eigen. Danach sind Rechtsgrundlage für die Berichtigung für die Zeit vor dem Inkrafttreten des VerwVG, in der es an einer dem § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG entsprechenden gesetzlichen Vorschrift gefehlt hat, die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts. Sie sagen u.a., daß die Verwaltungsbehörde einen Bescheid, den der Begünstigte durch unwahre Angaben oder durch Verschweigen von rechtserheblichen Tatsachen erschlichen hat, mit Wirkung in die Vergangenheit (ex tunc) zurücknehmen darf. Das ist in Rechtsprechung und Rechtslehre allgemein anerkannt (vgl. BVerwG, zuletzt Urteil vom 18. Juni 1962, DVBl 1962, 791; BGH, Urteil vom 26. Juni 1957, VerwRspr. Bd. 9 - 1957 - S. 795; GE Nr. 5374 des RVA vom 15. Mai 1940, AN 1940, 219; BSG, Urteil vom 15. Dezember 1960, BSG 13, 232, 238; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, 8. Aufl. S. 249; Haueisen, NJW 1954, 1427). Wenn das VerwVG die Rücknahme der von Anfang an rechtswidrigen Versorgungsbescheide auch nur für die Zeit nach dem 1. April 1955 regelt, so schließt das die Rücknahme solcher Verwaltungsakte nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts für die Zeit vor dem 1. April 1955 jedenfalls dann nicht aus, wenn die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG vorliegen, d.h., wenn es sich um "erschlichene Verwaltungsakte" handelt. Denn die Vorschrift des § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG ist lediglich Ausdruck eines ungeschriebenen Grundsatzes des allgemeinen Verwaltungsrechts. Sie begründet keine von dem bisherigen Recht abweichende neue Ermächtigung der Verwaltungsbehörde zur Rücknahme erschlichener Verwaltungsakte; sie bestätigt lediglich den bisherigen Rechtszustand für das Versorgungsrecht. Dabei ändert sie die Ermächtigung der Verwaltungsbehörde zur Rücknahme erschlichener Verwaltungsakte für die Zeit vom 1. April 1955 an nur insoweit, als sie die Rechtmäßigkeit der Rücknahme davon abhängig macht, daß die Verwaltungsbehörde innerhalb bestimmter Fristen tätig wird (§ 43 VerwVG). Die auf den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts beruhende Ermächtigung und Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, erschlichene Verwaltungsakte auch für die Zeit vor dem 1. April 1955 zurückzunehmen, ist durch § 51 Abs.2 VerwVG nicht berührt worden. Die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts gehören somit zu dem geltenden Recht und müssen bei einer Entscheidung berücksichtigt werden. Das hat das LSG verkannt. Trotz Anwendung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts braucht in Fällen der vorliegenden Art, in denen nach den Feststellungen des Berufungsgerichts die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG vorliegen, wegen der Arglist des Geschädigten nicht abgewogen zu werden, ob das Interesse des Geschädigten an der Aufrechterhaltung des Bescheides oder das der Allgemeinheit an der Herstellung des rechtmäßigen Zustandes überwiegt. Denn ein Beschädigter hat bei dieser Sachlage keinen Anspruch darauf, daß sein Vertrauen in den Fortbestand des ihn begünstigenden Verwaltungsakts berücksichtigt wird (Forsthoff, aaO; Haueisen, aaO). Es kann schließlich dahingestellt bleiben, ob auch die Rechtmäßigkeit der Rücknahme der Bewilligungsbescheide nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts nunmehr davon abhängt, daß die Fristen des § 43 VerwVG gewahrt sind; diese Fristen sind jedenfalls im vorliegenden Fall eingehalten. Der Bescheid vom 19. März 1959 ist daher entgegen der Ansicht des LSG auch insoweit rechtmäßig, als er die Rücknahme der Bewilligungsbescheide für die Zeit vor dem 1. April 1955 ausgesprochen hat. Die Revision ist somit insoweit begründet.
Das Rechtsmittel muß auch hinsichtlich der Rückforderung der in der Zeit vom 1. August 1947 bis zum 31. März 1955 gewährten Versorgungsleistungen Erfolg haben. Das Berufungsgericht hat festgestellt, der Kläger habe Tatsachen, die für die Entscheidung über seinen Antrag von wesentlicher Bedeutung gewesen sind, wissentlich falsch angegeben. Diese Feststellung ist für das BSG bindend (§ 163 SGG). Sie rechtfertigt die Rückforderung der in der Zeit vor dem 1. April 1955 gewährten Versorgungsbezüge. Die Rückforderung ist sowohl nach dem VerwVG (§ 47 Abs. 3) als auch nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts rechtmäßig. Ebenso wie bei der Entscheidung über die Rücknahme in diesem Fall für den Rechtsgedanken des Vertrauensschutzes kein Platz ist, weil der Kläger durch sein unlauteres Verhalten nicht schutzwürdig ist, ist auch bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Rückforderung für derartige Erwägungen kein Raum. Wer, wie der Kläger, durch bewußt wahrheitswidrige Angaben bewirkt hat, daß ihm Leistungen aus öffentlich-rechtlichen Mitteln gewährt werden, die ihm nach der Rechtsordnung nicht zustehen, verdient keinen Vertrauensschutz; er ist verpflichtet, die - nach Rücknahme der Bewilligungsbescheide ex tune - zu Unrecht empfangenen Leistungen zu erstatten.
Demnach entspricht das Urteil des SG Hannover vom 20. April 1959 der Sach- und Rechtslage, und die Berufung des Klägers erweist sich als unbegründet. Dementsprechend war auf die Revision des Beklagten - wie geschehen - die Berufung gegen das Urteil des SG in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen