Entscheidungsstichwort (Thema)
Zwangsarbeit im Konzentrationslager
Orientierungssatz
Die in einem Konzentrationslager verrichteten Zwangsarbeiten sind nicht als eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung anzusehen und können damit nicht zur Anwendung des WGSVG § 14 Abs 2 führen (Festhaltung an BSG 1974-12-10 4 RJ 379/73 = BSGE 38, 245).
Normenkette
WGSVG § 14 Abs. 2 S. 1
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. November 1973 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin ist Jüdin. Sie besitzt die niederländische Staatsangehörigkeit und lebt in den Niederlanden. Am 15. Juli 1944 wurde sie in den Niederlanden festgenommen und am 26. Oktober 1944 in das Konzentrationslager G gebracht. Dort mußte sie - soweit sie nicht krank war - Zwangsarbeiten verrichten. Beiträge zu einer deutschen gesetzlichen Rentenversicherung wurden für sie zu keiner Zeit entrichtet, jedoch gehörte sie - jedenfalls zeitweilig - einer niederländischen Rentenversicherung an.
Ihr Antrag vom 3. Dezember 1971 auf Gewährung der Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit wurde von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) durch Bescheid vom 8. Juni 1972 abgelehnt. Die Klage hatte in beiden Tatsacheninstanzen keinen Erfolg (Urteile des Sozialgerichts vom 28. Mai 1973 und des Landessozialgerichts - LSG - vom 14. November 1973). In den Gründen des Berufungsurteils ist im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe keine Beitragszeit im Sinne des § 1250 Abs. 1 Buchst. a der Reichsversicherungsordnung (RVO) zurückgelegt. Die Vorschrift des § 14 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVG), nach der bei Verfolgten unter bestimmten Voraussetzungen Beiträge fingiert werden könnten, finde in Fällen der vorliegenden Art keine Anwendung. Während der Lagerhaft habe kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden, die Arbeiten seien vielmehr aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Gewahrsamsverhältnisses verrichtet worden. Ein Entgelt habe die Klägerin nicht erhalten. Auf das Vorliegen eines versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses stelle aber § 14 Abs. 2 WGSVG ab. - Durch Zeiten im Sinne des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO - Ersatzzeiten - könne die Wartezeit der §§ 1246, 1247 RVO nicht erfüllt werden. Weder in der Zeit vor noch nach der Haft habe ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis bestanden. In diesem Zusammenhang sei nämlich allein auf ein Versicherungsverhältnis in einer deutschen gesetzlichen Rentenversicherung abzustellen; die Zugehörigkeit zu einer niederländischen Rentenversicherung habe hier außer Betracht zu bleiben. Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Klägerin. Sie ist der Auffassung, daß § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG Anwendung finden müsse. Die von ihr geleistete Zwangsarbeit rechtfertige es, von einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis auszugehen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. November 1973 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision hat keinen Erfolg.
Der Klägerin steht ein Rentenanspruch aus der deutschen Rentenversicherung nicht zu, weil ihr anrechenbare Versicherungszeiten fehlen.
Zur Erfüllung der Wartezeit (§ 1246 Abs. 3, § 1247 Abs. 3 RVO) dienen in erster Linie Beitragszeiten (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO). Beiträge zu einer deutschen gesetzlichen Rentenversicherung sind für die Klägerin zu keiner Zeit erbracht worden. Dies hat das Landessozialgericht unwidersprochen festgestellt. Das Berufungsgericht ist deshalb zu Recht davon ausgegangen, daß es in diesem Zusammenhang darauf ankommt, ob § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG Anwendung findet. Dort heißt es: "Hat der Verfolgte eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt und sind aus Verfolgungsgründen für die Beschäftigung oder Tätigkeit keine Beiträge entrichtet worden, so gelten für diese Zeiten Beiträge als entrichtet". In einem ähnlich liegenden Fall - vgl. das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom 10. Dezember 1974 - 4 RJ 379/73 - hat das Bundessozialgericht (BSG) die Anwendung dieser Vorschrift bereits verneint. Dort ist u. a. ausgeführt:"Der Klägerin kann über § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG keine Beitragszeit gutgebracht werden. Hierzu gibt bereits die in § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO getroffene Regelung einen Hinweis. Die Zeit einer Haft - wie sie die Klägerin erlitten hat - ist hiernach als Ersatzzeit - nicht als Beitragszeit - zu werten. Bei der Schaffung dieser Vorschrift kann dem Gesetzgeber nicht unbekannt gewesen sein, daß Verfolgte, die in einem Konzentrationslager inhaftiert waren, im allgemeinen - soweit sie dazu in der Lage waren - zu Arbeitsleistungen herangezogen wurden. Er hat diesem Umstand bei der rechtlichen Wertung dieser Zeit jedoch von Anfang an keine Bedeutung beigemessen. Wollte man unterstellen, daß inzwischen eine Änderung im Willen des Gesetzgebers eingetreten sei, so hätte dies jedenfalls in dem neuen Gesetz einen erkennbaren Niederschlag finden müssen. In § 14 Abs. 2 WGSVG findet sich insoweit jedoch kein Anhalt. Dort ist auf die Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung - nur diese Alternative kommt für die Klägerin in Betracht - abgestellt. Es muß also ein Beschäftigungsverhältnis vorgelegen haben. Ein solches entsteht regelmäßig - dies entspricht der ständigen Rechtsprechung nicht nur des BSG, sondern schon des Reichsversicherungsamtes - auf freiwilliger Basis, es sei denn, daß ein Gesetz ausnahmsweise etwas abweichendes bestimmt (vgl. etwa die sog. Dienstpflichtverordnung vom 13. Februar 1939 - RGBl I, 206 -). Der Umstand, daß die gesamte Arbeitsleistung - wie in dem vorliegenden Fall - aufgrund eines öffentlich-rechtlichen Gewaltverhältnisses erbracht wird, schließt ein Beschäftigungsverhältnis grundsätzlich aus (vgl. dazu BSG 27, 197 mit weiteren Hinweisen). Eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung liegt auch nur dann vor, wenn für diese Beschäftigung eine Entlohnung gewährt wird. Diese Entlohnung muß dem Beschäftigten selbst zufließen. Auch an dieser Voraussetzung fehlt es. Es mag sein, daß Betriebe, in denen Häftlinge Arbeitsleistungen zu verrichten hatten, an Dienststellen des Staates oder andere Stellen bestimmte Beträge abführen mußten. Darin ist aber keine Entlohnung für den Inhaftierten selbst zu erblicken, sie kam ihm nicht zugute. Von einem Beschäftigungsverhältnis im üblichen Sinne geht aber § 14 Abs. 2 WGSVG aus. Dies folgt schon daraus, daß der zur Auslegung stehende Begriff vom Gesetzgeber in Kenntnis des ihm durch die Rechtsprechung gegebenen Inhalts uneingeschränkt und ohne jeden Zusatz verwandt worden ist. Es sind keine Gründe erkennbar, die es rechtfertigen könnten, von dieser Definition im Rahmen des vorbezeichneten Gesetzes abzugehen. Insoweit fehlt jeder Hinweis darauf, daß die während der Haft geleistete Arbeit einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung gleichzustellen sei. Es kommt daher - wie auch der Wortlaut des Gesetzes erkennen läßt - im Rahmen des § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG nicht darauf an, daß aus Verfolgungsgründen eine Arbeit geleistet wurde, sondern vielmehr darauf, daß eine an sich rentenversicherungspflichtige Beschäftigung vorlag und daß lediglich die Beitragsentrichtung aus Verfolgungsgründen unterblieben ist. Zu Recht hat das LSG auf die Entstehungsgeschichte und auf die amtliche Begründung der Vorschrift hingewiesen. Es ist richtig, daß § 14 Abs. 1 WGSVG an die Stelle des § 4 Abs. 5 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 (WiGBl S. 263) getreten ist. Bei zu niedriger Beitragsleistung soll - wie es schon früher der Fall war - eine Berichtigung vorgenommen und dadurch eine Benachteiligung des Verfolgten vermieden werden. Daran schließt § 14 Abs. 2 WGSVG an. Eine Benachteiligung wird nun auch für den Fall verhindert, daß Beiträge nicht geleistet wurden, obwohl sie an sich hätten geleistet werden müssen. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers sollen die Fälle erfaßt werden, in denen Beiträge nicht entrichtet wurden, weil sonst der Verfolgte selbst oder sein Arbeitgeber gefährdet worden wäre (vgl. Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode, Drucksache VI/715, S. 11. - Sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn der Vorschrift nach wird die Zeit einer Konzentrationslagerhaft von § 14 Abs. 2 Satz 1 WGSVG nicht erfaßt, und zwar auch dann nicht, wenn der Inhaftierte arbeiten mußte, sei es innerhalb oder außerhalb des Lagers. Die notwendige Entschädigung hat in solchen Fällen nicht im Rahmen der Sozialversicherung, sondern auf andere Weise zu erfolgen."
Dies gilt auch für den zur Entscheidung stehenden Fall. Der weist allerdings gegenüber dem soeben erwähnten die Besonderheit auf, daß die Klägerin dieses Rechtsstreits nach den Feststellungen des LSG einer niederländischen Rentenversicherung angehört hat. Die Frage, ob die Zeit der Zugehörigkeit zur niederländischen Rentenversicherung geeignet sein könnte, nach § 1251 Abs. 2 RVO die Anrechenbarkeit einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO herbeizuführen, ist zu verneinen. Dies hat das BSG im Rahmen der EWG-VO Nr. 3 bereits ausgesprochen (vgl. BSG 32, 128 - SozR Nr. 51 zu § 1251 RVO mit weiteren Hinweisen). Für die Anrechnung von Ersatzzeiten ist es erforderlich, daß die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 2 RVO nach innerdeutschem Recht erfüllt sind. Ausländische Versicherungszeiten können zu diesem Zwecke nicht herangezogen werden. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest.
Seit dem Inkrafttreten der EWG-VO Nr. 1408/71 - 1. Januar 1973 - hat sich an diesem Ergebnis nichts geändert. In dem zu dieser VO erlassenen Anhang V Buchstabe C Nr. 2 d ist eine ausdrückliche Regelung der hier bedeutsamen Frage enthalten:"Für die Anrechnung deutscher Ersatzzeiten gelten ausschließlich die innerstaatlichen deutschen Rechtsvorschriften." Auch hiernach können also ausländische Versicherungszeiten keine Berücksichtigung finden. Der Buchst. e enthält zwar eine Ausnahmereglung, jedoch nur für Versicherte der deutschen Rentenversicherung, die in der Zeit vom 1. Januar 1948 bis zum 31. Juli 1963 in den in dieser Zeit unter niederländischer Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wohnten. Die Klägerin fällt nicht unter diesen Personenkreis.
Das LSG hat dem Rentenbegehren der Klägerin hiernach zu Recht nicht stattgegeben. Die Revision muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen