Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. bisheriger Beruf. Qualitätsmerkmal. Stufenschema. Wertabstand. Verweisbarkeit
Orientierungssatz
Ein Polier im Angestelltenverhältnis darf nicht auf die Tätigkeit eines Facharbeiters oder die gleichgestellte Tätigkeit eines Lageristen im Arbeiterverhältnis verwiesen werden. Das für Arbeiterberufe entwickelte Mehrstufenschema ist bei Angestelltenberufen nicht anwendbar; bei ihnen ist eine Gruppenbildung mit allgemeinen Aussagen über die Verweisbarkeit von Gruppe zu Gruppe bisher nicht möglich gewesen. Die Zumutbarkeit der Verweisung ist somit bei Angestellten aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles nach dem jeweiligen Wertabstand der zu vergleichenden Berufe zu beurteilen (vergleiche BSG 1979-10-04 1 RA 55/78 = SozR 2200 § 1246 Nr 51).
Normenkette
AVG § 23 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 23.08.1978; Aktenzeichen L 10 An 243/77) |
SG Köln (Entscheidung vom 04.11.1977; Aktenzeichen S 3 An 131/76) |
Tatbestand
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw auf Übergangsgeld.
Der 1922 geborene Kläger ist von Beruf Maurer. Seit 1963 hat er als Polier gearbeitet, dabei von 1967 an als Angestellter; 1974 erwarb er die Qualifikation als Stahl- und Betonbaumeister.
Seinen Antrag von April 1976, ihm die Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw Erwerbsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte nach ärztlicher Begutachtung ab; der Kläger sei in der Lage, in seinem bisherigen Beruf tätig zu sein (Bescheid vom 8. Oktober 1976).
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Im Urteil vom 23. August 1978 hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt: Nach dem Ergebnis weiterer ärztlicher Begutachtungen könne der Kläger zwar als Maurer, Polier sowie als Stahl- und Betonbaumeister nicht mehr tätig sein. Als einem Vorarbeiter bzw Meister mit Vorgesetztenfunktionen gleichzustellender Versicherter könne er aber auf die Tätigkeit als Lagerist zumutbar verwiesen werden; Stellen dieser Art seien jedenfalls in dem Bereich des Dachdeckerbedarfs, des sonstigen Dachdeckerfachhandels und der Dachdeckergroßbetriebe vorhanden. Die Tätigkeit sei tariflich erfaßt und werde mindestens als Facharbeitertätigkeit eingestuft. Sie setze keine kaufmännische Vorbildung oder sonstige Fachkenntnisse voraus und stelle nur geringe körperliche Anforderungen. Die Einarbeitungszeit betrage etwa ein halbes Jahr; die tarifliche Einstufung und Bezahlung entspreche jedoch von Beginn an der eines Facharbeiters. Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) durch Beschluß vom 16. März 1979 zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
die Urteile der Vorinstanzen sowie den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab Januar 1976 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen, hilfsweise, den Rechtsstreit zurückzuverweisen.
Zur Begründung rügt er eine Verletzung des § 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Er habe zuletzt als Meister und technischer Betriebsleiter gearbeitet und sei nach der Gruppe T 5 des Rahmentarifvertrages für das Baugewerbe vom 12. Juni 1978 (technische und kaufmännische Angestellte) entlohnt worden. Ein angestelltenversicherungspflichtiger Meister oder Polier könne aber zumutbar nicht mehr auf Facharbeitertätigkeiten bzw solche Tätigkeiten verwiesen werden, die tariflich wie ein Facharbeiterberuf bewertet würden (Urteil des 1. Senats des BSG vom 3. Oktober 1979 - 1 RA 55/79).
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist, denn der vom LSG festgestellte Sachverhalt reicht zu einer abschließenden Entscheidung darüber nicht aus, ob dem Kläger - ab Januar 1976 - Rente wegen Berufsunfähigkeit (bzw Übergangsgeld anstelle dieser Rente) zusteht.
Der Kläger kann nach den Feststellungen des LSG in dem langjährig ausgeübten Beruf des Poliers im Baugewerbe sowie in dem vor dem Rentenantrag zuletzt ausgeübten Beruf des Meisters (für Stahlbau und Betonbau) aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr tätig sein. Ob er berufsunfähig ist, hängt daher davon ab, welche seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 23 Abs 2 Satz 2 AVG). Auch diese Prüfung nimmt ihren Ausgang vom bisherigen Beruf; er muß festgestellt sein und nach seinen Qualitätsmerkmalen bewertet werden; ihm sind die möglichen Verweisungsberufe mit ihren Qualitätsmerkmalen gegenüberzustellen. Der Abstand im Wert des bisherigen Berufes zum Wert eines anderen Berufes gibt dann die Antwort auf die Frage, ob dieser dem Versicherten als Verweisungsberuf zumutbar ist.
Im vorliegenden Falle wird die Prüfung der vom LSG vorgenommenen Verweisung auf ihre Zumutbarkeit durch das Fehlen der dazu an sich erforderlichen Aussagen erschwert. Das LSG spricht nur von dem beruflichen Werdegang des Klägers als langjähriger Maurerpolier mit Überwachungsfunktion und Aufsichtsfunktion, an anderer Stelle von dem "früheren versicherungspflichtig ausgeübten Beruf als Maurer und Maurerpolier" bzw von einer "Tätigkeit als Beton- und Stahlbetonbaumeister", wobei mit der Poliertätigkeit und Meistertätigkeit offenbar Tätigkeiten als Angestellter gemeint sind; einzelne Qualitätsmerkmale des bisherigen Berufes, darunter die als wichtiges Wertindiz dienende tarifliche Eingruppierung, hat es aber nicht festgestellt. Auch bei der als Verweisungsberuf herausgestellten Tätigkeit des "Lageristen" ist dies nicht der Fall; hier hat das LSG zwar erwähnt, sie sei tariflich erfaßt und werde mindestens als Facharbeitertätigkeit eingestuft; jedoch hat es weder die Tarifgruppe noch andere für den Berufswert wesentliche Einzelumstände angegeben. Gemeint hat das LSG dabei offenbar einen im Arbeiterberuf tätigen Lageristen.
Das LSG hat sich vielmehr im Grunde nur auf das von der Rechtsprechung des BSG entwickelte Stufenschema gestützt, das von einer Einteilung der Arbeiterberufe in mehrere Gruppen mit Leitberufen ausgeht (ursprünglich: Facharbeiter, angelernte Arbeiter - bzw sonstige Ausbildungsberufe -, ungelernte Arbeiter, später dem Facharbeiter vorgeordnet noch Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion) und daraus allgemeine Folgerungen für die Zumutbarkeit von Verweisungen zieht. Hierbei hat das LSG allerdings verkannt, daß dieses Mehrstufenschema nur für Arbeiterberufe gilt (Urteil des 1. Senats des BSG vom 4. Oktober 1979 - 1 RA 55/78 -) und daß Angestellte wegen der unterschiedlichen Art ihrer Tätigkeit nicht in dieses Schema eingeordnet werden können, selbst wenn sie im Einzelfalle wie die oberste Gruppe der Arbeiterberufe Vorgesetztenfunktionen haben.
In der Angestelltenversicherung läßt sich die Verweisbarkeit auch nicht nach einem anderen Schema oder nach sonstigen allgemeinen Richtlinien beantworten (so der erkennende Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 12 und der 1. Senat aaO). Dazu wäre es erforderlich, Gruppen zu finden, die in der Bewertung der ihnen zugehörenden Berufe einen wesentlich gleichen Wertabstand aufweisen, der allgemeine Aussagen über die Zumutbarkeit der Verweisung von Gruppe zu Gruppe zuläßt. Die bisherige Rechtsprechung zu (verhältnismäßig wenigen) einschlägigen Fällen hat dem erkennenden Senat eine solche Gruppenbildung noch nicht ermöglicht. Über die Verweisbarkeit von Angestellten im Rahmen des § 23 AVG muß deshalb die Rechtsprechung weiterhin nach den Besonderheiten von Einzelfällen entscheiden, bis sich möglicherweise Regeln bilden lassen (SozR 2200 § 1246 Nr 12).
Dabei ist im vorliegenden Falle zunächst davon auszugehen, daß eine Verweisung eines Angestellten auf einen Arbeiterberuf rechtlich zulässig ist; der Personenkreis des Versicherungszweiges bildet hierfür weder eine Grenze noch rechtfertigt er einen Gruppenschutz (so zuletzt der 1. Senat aaO). Voraussetzung der Verweisung ist allein die Zumutbarkeit im konkreten Falle; der Arbeiterberuf muß demnach im Wert dem bisherigen Angestelltenberuf noch angemessen entsprechen. Dabei stimmt der 11. Senat dem 1. Senat des BSG (aaO) darin zu, daß hierbei berücksichtigt werden kann, ob die Angestelltentätigkeit sich als Aufstiegsberuf aus Arbeiterberufen darstellt und daß dann in aller Regel die letzte Arbeitertätigkeit zur anschließenden Angestelltentätigkeit noch in einem angemessenen Wertverhältnis stehen wird, so daß die Verweisung darauf zumutbar ist. Der 11. Senat hat nur Bedenken, die einzelnen Stufen eines beruflichen Werdegangs zugleich als maßgebende Wertstufen zu verstehen. Entscheidend kann nicht der jeweilige Stufenabstand, sondern immer nur der Wertabstand der Berufe sein.
Dessenungeachtet folgt der 11. Senat aber dem 1. Senat im Ergebnis darin, daß ein Polier im Angestelltenverhältnis nicht mehr zumutbar auf die Tätigkeit eines Facharbeiters oder eine gleichgestellte Tätigkeit in einem Arbeiterberuf verwiesen werden kann. Auch im vorliegenden Falle läßt sich noch aufgrund der vom LSG festgestellten Tatsachen annehmen, daß der Wertabstand zu erheblich ist, um eine derartige Verweisung zu rechtfertigen. Dabei hat der Senat berücksichtigt, daß ein Polier (Meister) im Angestelltenverhältnis üblicherweise entsprechend der Tarifgruppe T 4 des geltenden Rahmentarifvertrages im Baugewerbe (technische und kaufmännische Angestellte) entlohnt zu werden pflegt - nach Angabe des Klägers ist er zuletzt sogar nach Gruppe T 5 bezahlt worden - und daß der Beruf des Poliers eine mindestens einjährige Tätigkeit als Hilfspolier bzw Werkpolier voraussetzt, die sich schon über der Facharbeitertätigkeit erhebt. Damit ist die Tätigkeit des Poliers wesentlich höher zu qualifizieren als die eines Facharbeiters; der Polier gehört zu den Führungskräften eines Betriebes, an die bedeutend höhere Ansprüche als des Facharbeiters gestellt werden.
Die Frage, ob der Kläger zumutbar auf eine andere Tätigkeit verwiesen werden kann und welche Tätigkeit bzw welche Tätigkeiten gegebenenfalls noch in Betracht zu ziehen sind, vermag der Senat nicht abschließend zu beantworten. Hierfür fehlen Feststellungen insbesondere darüber, über welche geistigen Fähigkeiten und über welche Spezialkenntnisse der Kläger im einzelnen verfügt, die es ihm ermöglichen würden, sich innerhalb angemessener Zeit in einen Beruf des Baugewerbes oder verwandter Industriezweige einzuarbeiten, der innerhalb des Verweisungsrahmens liegt, d.h. außer noch in Frage kommender körperlich-handwerklicher Verrichtungen eine gewisse intellektuelle Leistungsbreite und Leistungsfähigkeit verlangt. Diese Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben. Um derartige - zumutbare - Verweisungstätigkeiten dem bisherigen Beruf gegenüberstellen zu können, wird das LSG allerdings zunächst die Qualitätsmerkmale dieses Berufs im einzelnen festzustellen haben; erst dann ist die Zulässigkeit der beruflichen Verweisung sichtbar und auch von dem Revisionsgericht nachzuvollziehen.
Die Entscheidung über die Kosten, auch soweit sie das Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde betrifft, bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen