Leitsatz (amtlich)
1. Das Übergangsgeld ist auch dann nach § 568 RVO zu bemessen, wenn der Verletzte während der Berufshilfemaßnahme noch arbeitsunfähig ist.
2. Es ist unbillig hart, dem Übergangsgeld während der Berufshilfe die Ausbildungsvergütung zugrunde zu legen (§ 568 Abs 3 S 1 Nr 3 RVO), wenn der Verletzte ohne den Arbeitsunfall bereits Arbeitsentgelt erzielen würde, das unverhältnismäßig viel höher wäre (hier das 2 1/2 fache) als das so berechnete Übergangsgeld (Weiterentwicklung von BSG 1977-11-25 2 RU 71/76 = BSGE 45, 171, BSG 1977-1215 8 RU 54/77 = SozR 2200 § 568 Nr 1).
Normenkette
RVO § 561 Abs 1 S 1 Fassung: 1974-08-07, § 568 Abs 1 Fassung: 1974-08-07, § 568 Abs 3 S 1 Nr 3 Fassung: 1976-12-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 09.04.1980; Aktenzeichen L 2 Ua 2108/79) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 12.10.1979; Aktenzeichen S 2 U 305/79) |
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des dem Kläger zustehenden Übergangsgeldes während einer Maßnahme der Berufshilfe.
Der im Mai 1959 geborene Kläger hatte am 15. August 1974 eine für drei Jahre vorgesehene Berufsausbildung als Metzgerlehrling begonnen. Am 12. April 1976 erlitt er einen schweren Wegeunfall, der ua zu einem Oberschenkelschaftbruch links und einer Unterschenkelamputation links geführt hat. Wegen dieser Unfallfolgen konnte er seine Berufsausbildung nicht fortsetzen und den Beruf eines Metzgers nicht mehr ausüben. Die durch die Unfallfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wird auf 60 vH geschätzt.
Nach voraufgegangenen Beratungen besuchte der Kläger seit dem 13. September 1976 die Landwirtschaftliche Berufsfachschule in C, um die mittlere Reife zur Vorbereitung einer kaufmännischen Berufsausbildung abzulegen. Am 25. November 1976 äußerte der Kläger gegenüber dem Arbeitsamt S H Bedenken, ob er das Ausbildungsziel der Landwirtschaftlichen Berufsfachschule erreichen werde und bat um eine Arbeitsplatzvermittlung. Nach einer weiteren Untersuchung wies die Beklagte die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) S H am 1. April 1977 an, dem Kläger weiterhin Übergangsgeld nach § 560 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu zahlen, weil der Kläger in seinem Beruf als Metzger nicht mehr arbeitsfähig werde und Berufshilfemaßnahmen einzuleiten seien. Es wurde erwogen, dem Kläger nunmehr eine kaufmännische Ausbildung in einem Berufsförderungswerk zukommen zu lassen. Nach anfänglichen Bedenken des Klägers und weiteren Beratungsgesprächen willigte er schließlich am 25. Juli 1977 in diese Ausbildung ein und wurde daraufhin beim Berufsförderungszentrum "J P" in W angemeldet. Vom 22. Januar 1978 bis 26. Juni 1979 besuchte er diese Einrichtung.
Im November 1977 beantragte der Kläger erstmals, das bewilligte Übergangsgeld zu erhöhen, weil er die begonnene Lehre als Metzger am 15. August 1977 ohne den Arbeitsunfall beendet hätte. Die Beklagte entsprach diesem Antrag nicht.
Im November 1978 beantragte der Kläger erneut, das Übergangsgeld ab 18. August 1977 zu erhöhen, weil er als Metzgergeselle seit August 1977 etwa 1.500,-- DM verdienen würde.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 7. Februar 1979). Das Sozialgericht (SG) Heilbronn hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. Oktober 1979). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 22. Januar 1978 bis 26. Juni 1979 Übergangsgeld nach Maßgabe des § 568 Abs 3 RVO zu bewilligen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 9. April 1980).
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision eine Verletzung der §§ 560, 561, 568 RVO. Sie vertritt die Auffassung, die Berechnung des Übergangsgeldes nach § 568 RVO komme nur in Betracht, wenn der Verletzte nicht mehr arbeitsunfähig sei. Im übrigen liege in der Berechnung des Übergangsgeldes nach §§ 560 561 RVO beim Kläger keine unbillige Härte iS von § 568 Abs 3 Nr 3 RVO.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg
vom 9. April 1980 aufzuheben und die Berufung
des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Heilbronn vom 12. Oktober 1979 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das LSG hat zutreffend entschieden, daß das Übergangsgeld des Klägers für die Zeit der Berufshilfemaßnahme (Besuch dem Berufsförderungszentrums W) vom 22. Januar 1978 bis 26. Juni 1979 nach § 568 Abs 3 RVO zu berechnen ist.
Der Kläger war zwar auch in dieser Zeit weiterhin arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung infolge des Arbeitsunfalles, den er während der am 15. August 1974 begonnenen Lehre am 12. April 1976 erlitten hatte. Er kann wegen der Unfallfolgen seine begonnene Berufsausbildung nicht fortsetzen und den Beruf eines Metzgers nicht ausüben. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht die Arbeitsunfähigkeit des Verletzten aber der Anwendung des § 568 RVO (idF des § 21 Nr 51 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes vom 7. August 1974 - BGBl I 1881 - (RehaAnglG) und des Art II § 1 Nr 2 b und c des Sozialgesetzbuches - Gemeinsame Vorschriften - BGBl I 1976 S 3845 -SGB 4-) nicht entgegen.
Während nach § 560 Abs 1 RVO der Verletzte Übergangsgeld erhält, solange er infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung ist, und soweit er Arbeitsentgelt nicht erhält, und für das Übergangsgeld bei Arbeitnehmern § 182 Abs 4, 5, 8 und 10 RVO entsprechend gilt (§ 561 RVO), erhält der Verletzte nach § 568 Abs 1 RVO während einer Maßnahme der Berufshilfe Übergangsgeld nach §§ 560, 561 auch, wenn er wegen der Teilnahme an der Maßnahme gehindert ist, eine ganztätige Erwerbstätigkeit auszuüben. Nach § 568 Abs 3 RVO ist das Übergangsgeld unter den dort genannten Voraussetzungen abweichend von § 561 RVO zu berechnen. § 568 RVO setzt danach nicht wie § 560 RVO die Arbeitsunfähigkeit des Verletzten voraus (SozR 2200 § 568 Nr 1, S 2). Daraus folgt aber nicht, daß § 568 RVO nur für arbeitsfähige Verletzte gilt. Er erstreckt vielmehr das Übergangsgeld auch auf erwerbsfähige Verletzte für die Zeit von Berufshilfemaßnahmen, wenn sie wegen der Teilnahme an der Maßnahme gehindert sind, eine ganztätige Erwerbstätigkeit auszuüben. Aus der Bezugnahme auf § 560 RVO geht folgendes deutlich hervor: § 568 RVO setzt - für den Regelfall - voraus, daß der Teilnehmer an der Berufshilfemaßnahme weiterhin arbeitsunfähig geblieben ist. Grundsätzlich gilt für die Berechnung des Übergangsgeldes § 561 RVO (§ 568 Abs 1 RVO). Die besonderen gegenüber § 561 RVO für den Verletzten günstigeren Berechnungsmöglichkeiten der Absätze 2 und 3 des § 568 RVO gelten aber für alle Teilnehmer an Berufshilfemaßnahmen. Arbeitsunfähige sind also davon nicht ausgeschlossen. Ihr Übergangsgeld richtet sich nicht ausschließlich nach den §§ 560, 561 RVO. Es würde der Zielsetzung dieser Regelung widersprechen, wenn die Absätze 2 und 3 des § 568 RVO nicht auch auf solche berufliche Rehabilitanden anwendbar wären, bei denen die Berufshilfe der medizinischen Rehabilitation folgt, ohne daß die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit vorher beseitigt war. Es würde dann die Ausnahme zur Regel, diejenigen Verletzten, bei denen sich die berufliche Rehabilitation so zügig wie möglich an die medizinische anschließt, würden ungerechtfertigt gegenüber solchen Verletzten benachteiligt, die zunächst eine andere Erwerbstätigkeit ausgeübt haben, und denen erst später Berufshilfemaßnahmen zuteil geworden sind. Insbesondere ist der Ausgleich unbilliger Härten nach § 568 Abs 3 RVO arbeitsunfähigen Rehabilitanden nicht verschlossen. Je nach der Dauer der medizinischen Rehabilitation und der sonstigen Umstände, die den Beginn und die Dauer der Berufshilfe bestimmen, kann bei ihnen ebenso wie bei nicht mehr Arbeitsunfähigen das Festhalten an dem vor dem Unfall erzielten Regellohn (§ 561 RVO) unbillig hart sein. Von dieser Möglichkeit spricht in einem Falle fortbestehender Arbeitsunfähigkeit auch bereits der 2. Senat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1979 (BSGE 49, 219, 221).
Die Berechnung des Übergangsgeldes des Klägers für die Zeit der Berufshilfe unter entsprechender Anwendung des § 573 RVO (Neuberechnung des JAV für die Zeit nach der voraussichtlichen Beendigung der Ausbildung) ist, wie das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt mit eingehender Begründung entschieden hat, nicht möglich (BSGE 42, 162, 169; 45, 171, 175; 49, 219; SozR 2200 § 168 Nr 1 S 6), weil diese Vorschrift nur auf Geldleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung anwendbar ist, die sich nach dem Jahresarbeitsverdienst richten, nicht aber auf solche Leistungen, für die das vor dem Arbeitsunfall erzielte Arbeitseinkommen maßgebend ist. Daß der Verletzte ohne den Arbeitsunfall, den er während der Berufsausbildung erlitten hat, während der Zeit der Berufshilfemaßnahmen nach abgeschlossener Berufsausbildung schon Arbeitsentgelt erzielt hätte, sein Übergangsgeld aber nach der Ausbildungsvergütung bemessen wird, kann jedoch eine unbillige Härte iS von § 568 Abs 3 Nr 3 RVO sein, wobei "unbillige Härte" in diesem Zusammenhang ein gerichtlich nachprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff ist. Sind seine Voraussetzungen erfüllt, ist das Übergangsgeld nach § 568 Abs 3 RVO zu berechnen (BSGE 45, 171, 173). Ob eine unbillige Härte in diesem Sinne vorliegt, ist nach den Umständen jedes einzelnen Falles zu beurteilen.
Auszugehen ist von der Zielsetzung des § 568 Abs 3 RVO, der mit dem RehaAnglG in die RVO eingefügt wurde und dessen § 14 entspricht. Hiermit sollte in Fällen die Möglichkeit der Abhilfe geschaffen werden, in denen eine ausreichende Höhe des Übergangsgeldes bei Zugrundelegung des zuletzt erzielten Arbeitseinkommens nicht sichergestellt ist (BT-Drucks VII/1237 S 59 zu § 14), um zu verhindern, daß die Stellung des Behinderten während der Rehabilitationsmaßnahme zu seinem Nachteil verschlechtert wird. Die Vorschrift soll aber nicht zu einer wirtschaftlichen Besserstellung führen (BSGE 45, 171, 174 mN).
Der Kläger hätte, als die Berufshilfemaßnahme am 22. Januar 1978 begann, seine Lehre etwa ein halbes Jahr zuvor im Alter von 18 Jahren beendet und seitdem Arbeitsentgelt erzielt. Es war also nicht nur eine verhältnismäßig kurze Zeit mit Übergangsgeld anstelle eines Arbeitsentgeltes zu überbrücken (vgl BSGE 45, 171 ff = 8 Monate), vielmehr die gesamten anderthalb Jahre der Umschulung, nachdem der Kläger auch schon vorher nur das nach § 561 RVO berechnete Übergangsgeld bezogen hatte. Der verhältnismäßig späte Beginn der Umschulung ist zwar nicht von der Beklagten zu vertreten, er kann aber auch dem Kläger nicht angelastet werden. Er hatte zunächst (seit dem 13. September 1976) auf Anraten des von der Beklagten eingeschalteten Arbeitsamtes die Landwirtschaftliche Berufsschule mit dem Ziel der mittleren Reife besucht und sich erst später nach mehreren Beratungsgesprächen entschlossen, entgegen seinem eigentlichen Wunsch, einer Umschulung auf einen mehr praktischen Beruf, dem Vorschlag einer kaufmännischen Ausbildung zuzustimmen. Der Kläger bezog auch keine Verletztenrente, mit der er während der Umschulung wirtschaftlich sichergestellt gewesen wäre (vgl auch insoweit BSGE 45, 171 ff). Die Rente ist ihm erst nach Abschluß der Umschulung in Höhe von zunächst 542,71 DM und ab 1. Januar 1980 von 552,-- DM monatlich gewährt worden (Bescheid der Beklagten vom 5. Dezember 1979). Sie war also höher als das bewilligte, nach der Ausbildungsvergütung bemessene Übergangsgeld, das bis zum 30. März 1978 etwa 450,-- DM (14,90 DM kalendertäglich) und danach etwa 480,-- DM monatlich (16,38 DM kalendertäglich) betrug und die nach § 568 Abs 4 RVO, wäre sie ihm vor Beginn der Umschulung bewilligt worden, auf das Übergangsgeld hätte angerechnet werden müssen und deshalb zu dessen Wegfall geführt hätte.
Ist es aber der Zweck der Regelung in § 568 Abs 3 RVO, das Übergangsgeld zu "aktualisieren" und den Verletzten vor unbilligen wirtschaftlichen Nachteilen während der Berufshilfemaßnahme zu schützen (SozR 2200 § 568 Nr 1), so ist es für den Verletzten eine Härte, wenn das nach § 568 Abs 1 RVO (§§ 560, 561 RVO) berechnete Übergangsgeld unverhältnismäßig viel niedriger ist als das Arbeitsentgelt, das er ohne den Arbeitsunfall erzielt hätte, wobei auch zu berücksichtigen ist, daß dem Kläger während der Umschulung keine Kosten für Unterkunft und Verpflegung entstanden sind. Ein solches Mißverhältnis besteht jedenfalls dann, wenn, wie hier, das Arbeitsentgelt, das der Kläger ohne den Unfall erzielt hätte, gut 2 1/2 mal höher ist (vgl den nach § 573 RVO errechneten JAV im Bescheid vom 5. Dezember 1979 = 15.741,44 DM = 1.311,-- DM monatlich) als das Übergangsgeld. Unbillig ist eine solche Härte dann, wenn sie, wie beim Kläger nicht nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit, sondern während der gesamten Umschulung und auch schon etwa ein halbes Jahr vorher, insgesamt also etwa zwei Jahre andauert.
Daß das nach § 568 Abs 3 zu berechnende Übergangsgeld höher sein kann als das eingebüßte Arbeitsentgelt, steht dem nicht entgegen. Besteht eine unbillige Härte, ist die Berechnung des Übergangsgeldes zwingend und ohne Billigkeitserwägungen vorgeschrieben. Im übrigen wird das Übergangsgeld ebenso in Fällen berechnet, in denen der Verletzte vor dem Arbeitsunfall etwa als Schüler oder Student überhaupt kein Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen gehabt hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1660454 |
Breith. 1981, 871 |