Leitsatz (amtlich)
Ein Straßenbahnschaffner ist nicht bereits deshalb berufsunfähig, weil er seinen bisherigen Beruf wegen Schwerhörigkeit nicht mehr ausüben kann. Es muß sich vielmehr in der Regel noch auf andere Anlerntätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verweisen lassen.
Leitsatz (redaktionell)
1. Einem Versicherten, der kein Facharbeiter ist, kann die Ausübung einer anderen als der bisherigen Tätigkeit nur dann nicht zugemutet werden, wenn damit ein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden ist.
2. § 1246 Abs 2 RVO verlangt für die Zulässigkeit einer Verweisung auf andere Tätigkeiten, daß die objektiv verrichtbaren Tätigkeiten dem Versicherten auch subjektiv zugemutet werden können.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. Juni 1960 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der im Jahre 1899 geborene Kläger ist gelernter Maschinenschlosser. 1917 wurde er zum Militärdienst eingezogen. Nach dem 1. Weltkrieg war er bis zum Jahre 1920 als Hilfsarbeiter tätig, danach bis 1933 bei den B...-Verkehrs-Betrieben (BVG) Schaffner. Anschließend war er bis 1945 als Hilfsarbeiter, Maschinenschlosser und schließlich als Angestellter beim Versorgungsamt V in B... beschäftigt. Danach stellte ihn die BVG wieder als Straßenbahnschaffner ein. Anfang 1957 wurde er wegen Schwerhörigkeit in den Ruhestand versetzt.
Im März 1957 beantragte der Kläger die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit. Durch Bescheid vom 18. November 1957 lehnte die Beklagte den Rentenantrag wegen fehlender Berufsunfähigkeit ab. Die vorhandene Osteochondrose der Halswirbelsäule habe keine entscheidende erwerbsmindernde Bedeutung.
Hiergegen erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht (SG) Berlin mit der Begründung, daß seine beiderseitige kombinierte Schwerhörigkeit nicht berücksichtigt worden sei. Nach Einholung weiterer ärztlicher Gutachten hob das SG den Bescheid vom 18. November 1957 auf und verurteilte zur Zahlung von Rente wegen Berufsunfähigkeit ab 1. März 1957, weil der Kläger seinen 23 Jahre ausgeübten Beruf als Schaffner nicht mehr ausüben könne und sich auf andere Tätigkeiten nicht verweisen zu lassen brauche. Dagegen hob das Landessozialgericht (LSG) Berlin auf die Berufung der Beklagten das angefochtene Urteil auf und wies die Klage ab. Es war der Auffassung, die vom Kläger während seines Lebens vorwiegend ausgeübte Tätigkeit eines BVG-Schaffners könne nur als die eines angelernten Arbeiters angesehen werden. Es handele sich dabei um einen Anlernberuf, der keine längere Lehrzeit erfordere. Dem Kläger seien daher auch andere Anlerntätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zuzumuten. Solche könne er noch verrichten. Trotz seines Gehörleidens sei er noch in der Lage, leichtere Arbeiten sowohl im Sitzen als auch im Stehen in geschlossenen Räumen und im Freien fortgesetzt zu verrichten. Die orthopädischen Leiden gingen nicht über das hinaus, was im allgemeinen bei Personen gleichen Alters an Degenerationserscheinungen am Skelettsystem vorläge. Der Kläger könne somit zumindest noch mit leichten Arbeiten, die an das Hörvermögen keine besonders großen Anforderungen stellten, die gesetzliche Lohnhälfte verdienen.
Gegen das ihm am 28. Juli 1960 zugestellte Urteil, in dem die Revision zugelassen worden war, hat der Kläger am 4. August 1960 Revision eingelegt und diese am 2. September 1960 begründet. Er rügt Verletzung sachlichen Rechts. Als Straßenbahnschaffner sei er wegen Schwerhörigkeit nicht mehr verwendungsfähig. Auf andere Tätigkeiten aber brauche er sich nicht verweisen zu lassen, weil ihm dies mit Rücksicht auf seine langjährige Tätigkeit bei der BVG nicht zugemutet werden könne.
Der Kläger und Revisionskläger beantragt,
das Urteil des LSG Berlin vom 15. Juni 1960 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin vom 24. Oktober 1958 zurückzuweisen.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
weil das angefochtene Urteil zu Recht Berufsunfähigkeit verneint habe.
Entscheidungsgründe
Die auf Grund der Zulassung statthafte und form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet.
In dem angefochtenen Urteil ist festgestellt, daß der Kläger eine Tätigkeit als Straßenbahnschaffner wegen seiner Schwerhörigkeit nicht mehr ausüben kann, daß er aber trotz seines Gehörleidens in der Lage ist, leichtere Arbeiten sowohl im Stehen als auch im Sitzen fortgesetzt zu verrichten, sofern sie keine größeren Anforderungen an das Hörvermögen stellen, weil er im übrigen bis auf gewisse Degenerationserscheinungen an der Wirbelsäule, die aber nicht entscheidend über den für sein Alter üblichen Rahmen hinausgehen, im wesentlichen gesund ist. Weiter hat das LSG festgestellt, daß der Beruf als Straßenbahnschaffner kein gelernter, sondern ein angelernter Beruf ist, der keine besonderen Fachkenntnisse erfordert; es handelt sich vielmehr danach um eine Tätigkeit, die von jedem ungelernten gesunden Arbeiter nach einer kurzen Anlernzeit übernommen werden kann. Deshalb glaubt das Berufungsgericht, den Kläger noch auf andere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verweisen zu können. Hierzu stellt es fest, daß der Kläger mit solchen ihm zumutbaren Tätigkeiten noch die gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne, zumal sein Auftreten in der mündlichen Verhandlung ergeben habe, daß er offenbar die nötige Intelligenz und Gesundheit besitze, um sich in eine neue Arbeit schnell einzuarbeiten.
Diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen und somit für das Bundessozialgericht (BSG) bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Werden sie der Entscheidung zugrunde gelegt, so läßt das Urteil des LSG keinen Rechtsirrtum erkennen, insbesondere hat es zu Recht die Verweisung auf andere Anlerntätigkeiten für zumutbar gehalten. Der Kläger ist kein gelernter Facharbeiter. Seinen vor und zu Beginn des ersten Weltkrieges erlernten Beruf als Maschinenschlosser hat er später nur wenige Jahre ausgeübt. Statt dessen ist er vorwiegend als Straßenbahnschaffner tätig gewesen. Damit ist das LSG zu Recht bei der Beurteilung des Streitfalls von diesem Beruf ausgegangen. Er erfordert nur eine kurze theoretische und praktische Ausbildung von wenigen Wochen. Dann aber kann sich der Kläger nicht darauf berufen, daß von ihm mit Rücksicht auf sein Alter, seine 23-jährige Schaffnertätigkeit und seine Schwerhörigkeit eine Umstellung seiner Lebens- und Berufsgewohnheiten nicht mehr gefordert werden könne. § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) verlangt für die Zulässigkeit einer Verweisung auf andere Tätigkeiten, daß die objektiv verrichtbaren Tätigkeiten dem Versicherten auch subjektiv zugemutet werden können. Bei der Prüfung dieser Zumutbarkeit sind zwar nach dem Wortlaut des Gesetzes die Dauer und der Umfang der Ausbildung des Versicherten sowie sein bisheriger Beruf und die besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zu berücksichtigen. Damit ist indes nicht gesagt, daß jede Verweisung auf einen anderen Beruf als den früher ausgeübten untersagt sei. Allerdings müssen die genannten Umstände stets beachtet werden, es ist aber nicht etwa ausgeschlossen worden, daß auch noch sonstige im Einzelfall für die Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit sprechende Gesichtspunkte in Betracht gezogen werden können. Hierdurch wird es ermöglicht, allen etwa für erforderlich gehaltenen Besonderheiten bei einzelnen Versichertengruppen Rechnung zu tragen. Die Ausübung einer anderen Tätigkeit kann einem Versicherten, der kein Facharbeiter ist, nur dann nicht zugemutet werden, wenn damit ein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden ist, insbesondere wenn sie in den Augen der Umwelt ein wesentlich geringeres Ansehen genießt als die bisher verrichtete Tätigkeit (BSG 9, 254). Im übrigen kann niemand beanspruchen, daß ihm keine andere Tätigkeit abverlangt werden dürfe als diejenige, die er auf der Höhe seines Lebens, d.h. auf dem Gipfel seiner körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit verrichtet hat, oder die ihr jedoch wenigstens nahesteht und entspricht.
Der Kläger kann nach den Feststellungen des LSG zB noch als Magazinverwalter oder Materialausgeber beschäftigt werden. Dazu kommen leichtere Büroarbeiten unter Einschluß von solchen, bei denen er mit Geld umzugehen und leichtere Abrechnungsarbeiten zu erledigen hat. Er besitzt weiter, wie das Berufungsgericht noch festgestellt hat, die nötige Intelligenz und Gewandtheit, um sich auf einem neuen Arbeitsgebiet schnell einzuarbeiten. Mit Rücksicht hierauf ist der Kläger zu Recht vom LSG noch nicht für berufsunfähig gehalten worden. Tätigkeiten der genannten Art werden sozial teils überhaupt nicht, jedenfalls aber nicht wesentlich geringer bewertet als die eines Straßenbahnschaffners, so daß keine Bedenken bestehen, den Kläger auf derartige Arbeiten zu verweisen und eine solche Verweisung für zumutbar zu halten.
Damit mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen