Leitsatz (amtlich)

Sind nach abgeschlossener stationärer Heilbehandlung wegen Tuberkulose (Tbc) stationäre Nachuntersuchungen aus medizinischen Gründen - Gefahr der Reaktivierung der Tbc - erforderlich, so gehören diese Untersuchungen auch dann zu der dem Rentenversicherungsträger obliegenden Heilbehandlung, wenn sie einige Jahre nach Überwindung der aktiven Tbc durchgeführt werden (Fortführung von BSG 1969-01-14 4 RJ 189/66 = BSGE 29, 87).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Zu der vom Rentenversicherungsträger nach RVO § 1244a (AVG § 21a) zu gewährenden Tbc-Heilbehandlung gehören alle medizinischen Maßnahmen, die die Heilung zum Ziele haben, es sei denn, daß es sich um ambulante Maßnahmen handelt, auf die ein Anspruch gegen die Krankenkasse besteht (RVO § 1244a Abs 3, AVG § 21a Abs 3).

2. Die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers für die Gewährung von Tuberkulose-Heilbehandlung ist nicht nur beim Vorliegen einer akuten behandlungsbedürftigen Tuberkulose, sondern auch dann gegeben, wenn ein Tuberkuloseverdacht besteht. Sie endet nicht bereits mit dem Abklingen des akuten Krankheitszustandes, sondern bezieht sich auch auf die Diagnosemaßnahmen vor und nach dem akuten Zustand.

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 4 Fassung: 1959-07-23; AVG § 21a Abs. 3 Fassung: 1959-07-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. Januar 1975 aufgehoben. Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 2. September 1974 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der klagende Sozialhilfeträger verlangt von der beklagten Krankenkasse oder dem beigeladenen Rentenversicherungsträger die Kosten für die zweite stationäre Nachuntersuchung nach Heilbehandlung wegen Tuberkulose (Tbc.) bei Frau H., deren Ehemann bei der Beklagten und der Beigeladenen versichert ist.

Frau H. wurde von Januar bis Juli 1965 wegen Tbc. auf Kosten der Beigeladenen in einer Tbc.-Heilanstalt behandelt. Die Beigeladene übernahm auch die Kosten der ersten stationären Nachuntersuchung vom 1. bis zum 5. August 1966. Diese Untersuchung ergab keinen Anhalt für eine Reaktivierung der Tbc. . Die Ärzte hielten aber eine weitere Nachuntersuchung nach einem Jahr für erforderlich. Diese Nachuntersuchung wurde vom 25. bis zum 28. März 1968 durchgeführt. Sie ergab ebenfalls keinen Befund.

Die Kosten der zweiten Nachuntersuchung - DM 306,08 - hat der Kläger vorläufig übernommen (vgl. § 59 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG - ).

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 2. September 1974 die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) zur Zahlung von DM 306,08 verurteilt und die Berufung zugelassen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil abgeändert und anstelle der Beigeladenen die Beklagte verurteilt.

Es ist der Auffassung, aus dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. Januar 1969 in BSG 29, 87, in dem die Zahlungspflicht durch den Rentenversicherungsträger für die erste stationäre Nachuntersuchung festgestellt worden sei, sei zu folgern, daß für weitere stationäre Nachuntersuchungen der Rentenversicherungsträger nicht mehr zuständig sei. Da nach § 1244 a Abs. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF (d. h. idF vor dem Gesetz über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation - RehaAnglG - vom 7. August 1974 - BGBl I 1881) Angehörige von Versicherten von den nachgehenden Maßnahmen ausgeschlossen seien und nach § 1237 Abs. 4 RVO aF nachgehende Maßnahmen nach der Heilbehandlung durchgeführt werden, sei der Begriff der Heilbehandlung, wie er in § 1244 a RVO verwendet werde, in einem engeren Sinn zu verstehen. Zahlungspflichtig sei die beklagte Krankenkasse, denn die stationäre Untersuchung sei angesichts der überstandenen schweren Erkrankung medizinisch notwendig gewesen.

Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Sie ist der Auffassung, nicht nur die erste, sondern auch die zweite stationäre Nachuntersuchung nach der eigentlichen Heilbehandlung wegen Tbc. seien der Heilbehandlung zuzurechnen. Zumal nach der neueren Rechtsprechung des BSG der Rentenversicherungsträger bereits bei Tbc.-Verdacht zuständig sei, sei eine stationäre Nachuntersuchung jedenfalls dann eine Angelegenheit der Rentenversicherung, wenn sie während der Heilbehandlung oder der zu ihr gehörenden ersten Nachuntersuchung angeordnet worden sei.

Sie beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Klage abzuweisen.

Die Beigeladene beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie nimmt zur Begründung Bezug auf das angefochtene Urteil.

Die Klägerin beantragt,

die Revision insoweit zurückzuweisen, als die Klageabweisung beantragt worden ist.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der beklagten Krankenkasse ist begründet.

Ersatzverpflichtet nach § 59 Abs. 2 BSHG (idF vor dem zweiten Gesetz zur Änderung des BSHG vom 14. August 1969 - BGBl I 1153) ist nicht die beklagte Krankenkasse, sondern der beigeladene Rentenversicherungsträger. Dieser war anstelle des klagenden Sozialhilfeträgers verpflichtet, Frau H. die 1968 stationär durchgeführte zweite Nachuntersuchung nach Tbc.-Erkrankung als Heilbehandlung im Sinne des § 1244 a Abs. 3 RVO aF zu gewähren. Diese Nachuntersuchung war keine nachgehende Maßnahme im Sinne des § 1244 a Abs. 4 RVO aF.

Nach § 1244 a Abs. 4 RVO aF erhielten Versicherte und Rentner für ihre Person bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres Berufsförderung und nachgehende Maßnahmen, auch wegen der Folgen der Erkrankung. Hieraus hat das LSG zutreffend geschlossen, daß die nicht selbst bei der beigeladenen LVA versicherte Frau H. dann keinen Anspruch auf stationäre Nachuntersuchung wegen Tbc. gegen diese Anstalt hatte, wenn diese Leistung als nachgehende Maßnahme zu beurteilen wäre. Diese Beurteilung ist aber nicht gerechtfertigt.

Die Tatsache, daß die Nachuntersuchung nicht wegen der "Folgen der Erkrankung", sondern wegen der Gefahr der Reaktivierung der Tbc.-Erkrankung angeordnet worden ist, hindert allerdings die Anwendung dieser Vorschrift nicht. Die Beschränkung berufsfördernder und nachgehender Maßnahmen auf Versicherte und Rentner ist eine Ausprägung des den Unterabschnitt der §§ 1236 bis 1244 a RVO "Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit" beherrschenden Grundsatzes, daß diese Maßnahmen nur Versicherten und Rentnern, nicht aber deren Angehörigen zustehen (vgl. § 1236 RVO). Durch § 1244 a Abs. 1 bis 3 RVO werden diese Maßnahmen in Abweichung von dem genannten Grundsatz bei Tbc.-Erkrankung auch auf Ehegatten und Kinder von Versicherten und Rentnern erstreckt. Diese Ausnahme wird durch § 1244 a Abs. 4 RVO aF ihrerseits wieder eingeschränkt dadurch, daß bestimmte Maßnahmen, die über die Tbc.-Heilbehandlung hinausgehen, auf Versicherte und Rentner beschränkt werden. Aus dieser Zweckbestimmung des § 1244 a Abs. 4 RVO aF ergibt sich, daß berufsfördernde und ergänzende Maßnahmen auch dann ausgeschlossen sind, wenn sie ausschließlich im Hinblick auf die - beendete - Tbc.-Erkrankung angezeigt sind.

Aus dieser Zweckbestimmung ergibt sich aber auch, daß alle medizinischen Maßnahmen, die die Heilung der Tbc. zum Ziele haben, zum Zuständigkeitsbereich der Rentenversicherungsträger gehören, es sei denn, es handele sich um ambulante Maßnahmen, auf die ein Anspruch gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung besteht (§ 1244 Abs. 3 Satz 2 RVO). Heilmaßnahmen sind aber noch nicht dann ausgeschlossen, wenn die akute Krankheit überwunden ist. Insbesondere dann, wenn gemäß ärztlicher Erfahrung nach überstandener akuter Erkrankung das Wiederaufleben der Krankheit nicht nur eine entfernte Möglichkeit ist, sind Nachuntersuchungen sachlich nicht von der Heilbehandlung zu trennen und nicht als nachgehende oder vorbeugende Maßnahmen zu qualifizieren. Wenn festgestellt werden kann, daß die - stationäre - Untersuchung im vorliegenden Fall wegen der Gefahr der Wiedererkrankung an Tbc. notwendig war, ist sie als Teil der Tbc.-Heilbehandlung zu beurteilen. Das LSG hat diese Feststellung getroffen, indem es - wenn auch im Zusammenhang mit der Begründung der Leistungspflicht der Krankenkasse - ausführt, unter Berücksichtigung der durchgemachten schweren Erkrankung sei die Nachuntersuchung als Krankenhauspflege medizinisch notwendig gewesen.

Der Senat verkennt nicht, daß die Definition der nachgehenden Maßnahmen, wie sie in § 1237 Abs. 4 Buchst. b RVO aF enthalten ist, zu Zweifeln Anlaß geben kann, denn es ist denkbar, daß auch Nachuntersuchungen der "Sicherung des nach Durchführung der Heilbehandlung erzielten Ergebnisses" dienen können (so Brackmann, Handbuch der SozVers., 1. bis 8. Aufl., Stand November 1975, Bd. III S. 666 b II). Solche Nachuntersuchungen haben dann aber eine andere Zielsetzung als die Nachuntersuchungen, die wegen der Gefahr der Wiedererkrankung notwendig sind. Das zeigt deutlich die für die im Absatz 4 des § 1237 RVO aF aufgeführten Leistungen gewählte Bezeichnung: "Soziale Betreuung". Mit diesem Begriff wird zum Ausdruck gebracht, daß es sich um Leistungen handelt, die nicht die Heilbehandlung, sondern die Eingliederung in das berufliche, familiäre oder gesellschaftliche Leben betreffen. Zu diesen Leistungen können ärztliche Untersuchungen nur gehören, wenn sie diesen sozialen Zwecken überhaupt oder doch vorwiegend dienen. Entscheidend für die Kennzeichnung als nachgehende Maßnahmen ist, daß sie nicht allein schon wegen der medizinischen Notwendigkeit durchgeführt werden, also nicht "erforderliche medizinische Maßnahmen" sind, wie sie in Absatz 2 des § 1237 RVO aF aufgeführt waren. Als nachgehende Maßnahme wäre die Nachuntersuchung möglicherweise zu beurteilen, wenn sie vorwiegend dem Zweck gedient hätte zu überprüfen, ob die Geheilte den alltäglichen Anforderungen gewachsen war oder ob ihr eine Änderung ihrer Lebensführung oder ihrer beruflichen Tätigkeit empfohlen werden sollte. Das LSG hat aber - im Gegenteil - festgestellt, daß die Nachuntersuchung lediglich aus medizinischen Gründen notwendig gewesen ist.

Die Auffassung des LSG, gegen die Beurteilung der zweiten Nachuntersuchung als Heilbehandlung im Sinne des § 1244 a RVO spreche die Tatsache, daß schon jahrelang kein Tbc.-Befund vorgelegen habe, trifft nicht zu. Richtig ist zwar, daß die Rentenversicherung nur bei akuter behandlungsbedürftiger Tbc. zuständig ist (§ 1244 a Abs. 1 RVO). Das bedeutet aber nicht, daß ihre Zuständigkeit nur dann gegeben ist, wenn akute behandlungsbedürftige Tbc. tatsächlich vorliegt. Die Zuständigkeit der Rentenversicherung zur Tbc.-Bekämpfung beginnt vielmehr schon bei Tbc.-Verdacht (vgl. BSG 33, 225; 35, 285). Sie endet nicht schon dann, wenn der Krankheitszustand der akuten Tbc. abgeklungen ist. Denn zu den dem Rentenversicherungsträger obliegenden Tbc.-Bekämpfungsmaßnahmen gehören nicht nur die Mittel der Therapie im engeren Sinne, sondern auch die Diagnosemaßnahmen vor und nach dem akuten Zustand. In dem Urteil des 4. Senats des BSG vom 14. Januar 1969 (BSG 29, 87), in dem die erste Nachuntersuchung als Teil der Heilbehandlung beurteilt worden ist, fehlt eine Stellungnahme zu der Frage einer weiteren Nachuntersuchung. Die Meinung des LSG, die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers sei nach der ersten Nachuntersuchung für beendet angesehen worden, trifft nicht zu.

Die Zugehörigkeit der wegen Tbc. erforderlichen weiteren stationären Nachuntersuchungen zur Heilbehandlung wird bestätigt durch die Fassung des § 1244 a Abs. 4 RVO, wie sie durch das RehaAnglG geschaffen wurde: An die Stelle der nachgehenden Maßnahmen sind die "ergänzenden" Maßnahmen getreten, wie sie nunmehr in § 1237 b RVO im einzelnen aufgeführt sind. Dadurch wird klargestellt, daß der zeitliche Ablauf der Rehabilitationsmaßnahmen für die Abgrenzung der Heilbehandlung von den übrigen Maßnahmen nicht entscheidend ist. Medizinische Maßnahmen, wie sie im § 1237 RVO nF geschildert werden, sind schon wegen ihrer Art - im Gegensatz zu den Maßnahmen nach §§ 1237 a und 1237 b RVO nF - zu gewähren.

Da der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber dem Träger der gesetzlichen Rentenversicherung nur nachrangig zur stationären Tbc.-Hilfe verpflichtet ist (vgl. § 1244 a Abs. 3 Satz 2 RVO), war das Urteil des SG wiederherzustellen, durch das der Beigeladene verurteilt worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647856

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