Leitsatz (redaktionell)

1. Hat sich die frühere Entscheidung auf Grund der Neuprüfung der Sach- und Rechtslage als unrichtig erwiesen, so gebietet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (GG Art 20 Abs 3) zwingend die Berichtigung der früheren, im Gegensatz zu Gesetz und Recht stehenden Entscheidung (vergleiche Urteil des erkennenden Senats vom 1962-12-13 8 RV 837/60 = KOV 1963, 216).

2. Es muß zwar eine - allerdings eng begrenze - Ermessensfreiheit der Behörde hinsichtlich ihrer Entscheidung über den Antrag des Versorgungsberechtigten auf eine günstigere Regelung dann bejaht werden, wenn angesichts eines offensichtlich unrichtigen, unschlüssigen oder querulierenden Vorbringens des Versorgungsberechtigten in eine neue Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht eingetreten werden soll. Ist die Behörde aber in eine solche Neuprüfung eingetreten, so ist sowohl hinsichtlich der Art und des Umfangs der erneuten Sachprüfung wie auch hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob die früher getroffene Regelung rechtmäßig war oder nicht, kein Raum für die Ausübung des Ermessens.

3. Bei SGG § 54 Abs 2 S 2 handelt es sich um eine Vorschrift, die das Verfahren, nämlich die Zulässigkeit der gerichtlichen Nachprüfung von Ermessensentscheidungen betrifft; ihre Verletzung stellt demnach einen wesentlichen Verfahrensmangel dar.

 

Normenkette

SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 20 Abs. 3 Fassung: 1949-05-23; SGG § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts in Schleswig vom 29. April 1960 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der am 29. September 1945 unehelich geborene Kläger beantragte am 15. Dezember 1948 die Gewährung von Waisenrente, weil er Hinterbliebener des seit Januar 1945 vermißten Kriegsteilnehmers H K, seines Erzeugers, sei. Die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein (LVA) - Außenstelle Lübeck - lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 29. Juni 1949 mit der Begründung ab, daß keine Anhaltspunkte dafür gegeben seien, daß der Erzeuger des Klägers nicht noch lebe, und daß er sich lediglich seiner Unterhaltspflicht entziehen wolle. Diesen Bescheid hat der Kläger nicht angefochten.

Am 25. September 1952 stellte der Kläger erneut Antrag auf Gewährung von Waisenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG); durch Bescheid vom 3. November 1952 wurde unter Hinweis auf die Verbindlichkeit des Bescheides vom 29. Juni 1949 auch dieser Antrag abgelehnt; der Kläger habe keine neuen Tatsachen vorgebracht, so daß es bei der früheren Entscheidung verbleiben müsse. Auch diesen Bescheid ließ der Kläger unangefochten.

Nach dem rechtskräftigen Beschluß des Kreisgerichts Halberstadt vom 7. Juli 1953 ist der vermißte außereheliche Erzeuger für tot erklärt worden. Unter Vorlage dieses Beschlusses beantragte der Kläger am 15. Juni 1956 nochmals die Gewährung der Waisenrente, und zwar vom 1. September 1952 an. Daraufhin bewilligte das Versorgungsamt (VersorgA) Lübeck mit Bescheid vom 13. April 1957 die Waisenrente zunächst vom 1. Juni 1956 an und erließ anschließend nach Einholung der Zustimmung des Landesversorgungsamts (LVersorgA) Schleswig-Holstein gemäß § 40 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) den Berichtigungsbescheid vom 22. März 1958 dahin, daß dem Kläger die Waisenrente auch für die zurückliegende Zeit vom 1. September 1952 bis 31. Mai 1956 gewährt werde.

Nach Erhalt dieses Berichtigungsbescheides beantragte der Kläger mit Schreiben vom 15. April 1958, ihm im Wege eines weiteren Berichtigungsbescheides die Waisenrente auch für die Zeit vom 1. November 1948 bis 31. August 1952 zu gewähren, da er bereits am 13. November 1948 erstmalig Antrag auf Gewährung von Waisenrente gestellt habe und der hierauf ergangene Bescheid vom 29. Juni 1949 unrichtig gewesen sei, weil Heinrich Kleiner bereits damals verstorben gewesen sei. Mit Bescheid vom 30. August 1958 lehnte das VersorgA Lübeck diesen Antrag ab; den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers wies das LVersorgA Schleswig-Holstein mit Bescheid vom 9. Januar 1959 zurück.

Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Lübeck mit Urteil vom 9. Oktober 1959 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, mit einem neuen Bescheid dem Kläger Waisenrente auch für die Zeit vom 1. Dezember 1948 bis 31. August 1952 zu gewähren. Der Kläger habe, wie auch der Beklagte durch den Bescheid vom 29. Juni 1956 nachträglich anerkannt habe, bei seiner ersten Antragstellung im Dezember 1948 die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Waisenrente nach den damals gültigen Vorschriften der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 erfüllt; dies habe das VersorgA auch erkennen müssen und daher in entsprechender Anwendung des § 61 Abs. 3 BVG den Beginn der Rente mit dem Monat der ersten Antragstellung festsetzen müssen. Der Beklagte sei auch nicht nach der Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 8 zu § 40 VerwVG gehindert gewesen, diese Rechtsfolge in dem beantragten Berichtigungsbescheid auszusprechen; nach dieser VV solle die Gewährung von Versorgungsbezügen "in der Regel" nicht über den Zeitraum von vier Jahren hinaus rückwirkend erfolgen, im Falle des Klägers habe aber nicht ein Regelfall, sondern eine Ausnahme vorgelegen, die zur Überschreitung dieses Rahmens nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet habe.

Die hiergegen eingelegte Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Schleswig mit Urteil vom 29. April 1960 als unzulässig verworfen. In den Urteilsgründen ist ausgeführt, daß die Berufung gemäß § 148 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht zulässig sei, da sie Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe; der Beklagte habe auch nicht zutreffend einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG gerügt. Das Vorbringen des Beklagten, das SG habe die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen ohne zureichende Gründe aufgehoben, enthalte die Behauptung einer Verletzung materiellen Rechts, nicht aber die einer Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften. Die weitere Behauptung, es fehle an einer ordnungsgemäßen Begründung der Entscheidung, liege rein tatsächlich nicht vor. Auch die Rüge, das SG habe eine der Verwaltungsbehörde vorbehaltene Ermessensentscheidung getroffen, betreffe nicht einen Mangel im Verfahren; zwar handele es sich bei den angefochtenen Verwaltungsentscheidungen um solche, deren Erlaß im Ermessen der Behörde stehe und die daher nur im Rahmen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nachprüfbar seien; auch seien die Gerichte grundsätzlich nicht befugt, ihr eigenes Ermessen an die Stelle desjenigen der Verwaltung zu setzen. Dieser Grundsatz sei aber in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht anwendbar, wenn ein im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG fehlerfrei ausgeübtes Ermessen nur eine Entscheidung zulasse, jede andere aber mit Ermessensfehlern behaftet wäre. Hiervon sei das SG aber ausgegangen, als es den Beklagten zur rückwirkenden Gewährung der Waisenrente verurteilt habe, jedenfalls sei diese Entscheidung mit den erhobenen Verfahrensrügen nicht angreifbar.

Gegen dieses ihm am 22. Juni 1960 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 19. Juli 1960 Revision eingelegt, mit der er beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 29. April 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Mit ihrer - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 22. September 1960 - am 20. September 1960 eingegangenen Begründung rügt die Revision die Verletzung des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG sowie des Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes - GG -). § 40 Abs. 1 VerwVG ermächtige die Versorgungsverwaltung zu einer Entscheidung über die beantragte Berichtigung nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Die getroffene Entscheidung habe vom SG nur daraufhin nachgeprüft werden dürfen, ob die Verwaltung die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht habe. Einen solchen Ermessensfehlgebrauch habe sich die Versorgungsverwaltung hier aber nicht zu Schulden kommen lassen; sie habe einen Berichtigungsbescheid auch für die zurückliegende Zeit erteilt und sich hinsichtlich des Umfangs der Rückwirkung an die VV Nr. 8 zu § 40 VerwVG gehalten. Wenn das SG den Beklagten dennoch zu einer weiter zurückwirkenden Berichtigung verurteilt habe, so habe es sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Verwaltung gesetzt und damit gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 SGG) verstoßen. Dies sei aber ein wesentlicher Mangel des Verfahrens, da das SG ein Urteil erlassen habe, das nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nicht zulässig gewesen sei.

Der Vertreter des Klägers in den Vorinstanzen hat unter Vorlage eines Armutszeugnisses für die Mutter des Klägers nachgesucht, diesem für die Durchführung des Revisionsverfahrens das Armenrecht zu bewilligen und ihm einen Rechtsanwalt zu seiner Vertretung vor dem Senat beizuordnen; diesem Antrag ist stattgegeben worden.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist mithin zulässig.

Die Revision ist jedoch nicht begründet; denn das LSG hat im Ergebnis mit Recht die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Lübeck vom 9. Oktober 1959 als unzulässig verworfen.

Die Berufung des Beklagten gegen dieses Urteil betraf die Zahlung von Versorgungsbezügen für die Zeit vom 1. Dezember 1948 bis 31. August 1952 und damit Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume. Gemäß § 148 Nr. 2 SGG war sie daher nicht zulässig, es sei denn, daß das SG sie ausdrücklich zugelassen hätte (§ 150 Nr. 1 SGG), ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt worden wäre und vorgelegen hätte (§ 150 Nr. 2 SGG) oder der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung streitig gewesen wäre (§ 150 Nr. 3 SGG). Diese Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Zulässigkeit der Berufung haben hier indes nicht vorgelegen. Das SG hat in seinem Urteil ausgeführt, daß die Berufung gemäß § 150 Nr. 1 SGG nicht habe zugelassen werden können, weil die Sache keine grundsätzliche Bedeutung habe; auch die Frage des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne von § 150 Nr. 3 SGG war nicht streitig. Die Berufung hätte daher nur dann zulässig sein können, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt worden wäre und vorgelegen hätte. Diese Voraussetzung war jedoch nicht erfüllt. Zwar handelt es sich bei § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG entgegen der Ansicht des LSG um eine Vorschrift, die das Verfahren, nämlich die Zulässigkeit der gerichtlichen Nachprüfung von Ermessensentscheidungen, betrifft, ihre Verletzung stellt demnach einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Das SG hat hier diese Vorschrift aber nicht verletzt.

Die Revision geht in ihrer Rüge, das SG habe sein Urteil unter Verletzung des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG und des Grundsatzes der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) erlassen, von der Ansicht aus, die Entscheidung der Versorgungsbehörden über Anträge auf Erlaß von Berichtigungsbescheiden gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG könne von den Gerichten gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG immer nur daraufhin nachgeprüft werden, ob die Verwaltung die Grenzen ihres Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht habe. Diese Auffassung trifft jedoch nicht zu. Denn eine Ermessensfreiheit besteht dann nicht, wenn die Versorgungsbehörde auf den Antrag des Berechtigten in eine erneute Überprüfung der Sach- und Rechtslage eingetreten ist, wie sie es hier hinsichtlich der Frage, ob der Erzeuger des Klägers verschollen ist, getan hat (so im Ergebnis auch BSG 10, 248; 13, 48; 13, 86). Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit müssen deshalb die Entscheidungen der Versorgungsbehörde über solche Anträge in vollem Umfange - d. h. ohne Beschränkung darauf, ob ein Ermessensfehler im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG vorliegt - nachprüfen, wenn wie vorliegend eine erneute Überprüfung der Sach- und Rechtslage vorgenommen worden ist. Eine - allerdings eng begrenzte - Ermessensfreiheit der Behörde hinsichtlich ihrer Entscheidung über das Berichtigungsbegehren des Versorgungsberechtigten muß zwar dann bejaht werden, wenn angesichts eines offensichtlich unrichtigen, unschlüssigen oder querulierenden Vorbringens des Versorgungsberechtigten in eine neue Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht eingetreten werden soll. Ist die Behörde aber wie hier in eine solche Neuprüfung eingetreten, so ist sowohl hinsichtlich der Art und des Umfangs der erneuten Sachprüfung wie auch hinsichtlich der Entscheidung darüber, ob die früher getroffene Regelung rechtmäßig war oder nicht, kein Raum für die Ausübung des Ermessens. Denn hierbei handelt es sich dann nicht mehr um Entscheidungen, die eine Wahlmöglichkeit der Behörde zwischen verschiedenen, von der Rechtsordnung gleicherweise gebilligten Verhaltensweisen eröffnen (vgl. hierzu Klinger, Komm. zum VerwVG § 42 Anm. G I, 1; Bachof JZ 1955, 97, 98 unter II.). Die Sachaufklärung ist nach Art und Umfang von dem zwingenden Gebot bestimmt, diese vollständig durchzuführen (§ 12 VerwVG und die VV Nr. 1 hierzu). Bei der erneuten Beurteilung der Sach- und Rechtslage und damit der Rechtmäßigkeit des früheren Bescheides handelt es sich um einen reinen Akt der Rechtsfindung, der einem Ermessen nicht zugänglich ist. Hat sich aber die frühere Entscheidung auf Grund der Neuprüfung der Sach- und Rechtslage als unrichtig erwiesen, so gebietet der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) zwingend die Berichtigung der früheren, im Gegensatz zu Gesetz und Recht stehenden Entscheidung (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 13. Dezember 1962 - 8 RV 837/60).

Das SG ist daher, nachdem das VersorgA die Verschollenheitsfrage einer Neuprüfung unterzogen hat, nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet gewesen, auf die dahingehende Klage die Neuregelung des Versorgungsrechtsverhältnisses des Klägers, die das Versorgungsamt gemäß § 40 Abs. 1 VerwVG getroffen hatte, in vollem Umfange nachzuprüfen, ohne hierbei den Beschränkungen des § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG unterworfen zu sein. Daher liegt der von der Revision gerügte Verfahrensmangel nicht vor. Das LSG hat die Berufung - wenn auch aus anderen, teilweise unzutreffenden Gründen - im Ergebnis zu Recht als unzulässig verworfen. Der Revision des Beklagten mußte daher der Erfolg versagt bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380398

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