Leitsatz (redaktionell)
1. Trägt ein Umanerkennungsbescheid den Zusatz "Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt", so ist eine Nachuntersuchung zum Zwecke der Erteilung eines Berichtigungsbescheides und die Erteilung eines solchen Bescheides zulässig. Eine Unterrichtung des Rentenberechtigten über die Gründe der ärztlichen Nachuntersuchung kann nicht uneingeschränkt gefordert werden. Eine fehlende Belehrung macht jedenfalls die Aufforderung zur ärztlichen Nachuntersuchung und diese selbst nicht rechtswidrig.
2. Auf das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung können die Grundsätze des im Zivilprozeß unzulässigen "Ausforschungsbeweises" nicht angewandt werden.
3. Das VersorgA darf trotz des Vermerks im Umanerkennungsbescheid "Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt" eine solche nach Ablauf der Frist des BVG § 86 Abs 3 aF ohne vorherige Belehrung des Versorgungsberechtigten über deren Zweck vornehmen und deren Ergebnis verwerten.
Normenkette
KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; BVG § 86 Abs. 3 Fassung: 1956-06-06
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 14. Februar 1963 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erhielt Versorgung wegen "Lungenstecksplitter links und geringer Brustfellverschwartung links" nach dem Wehrmachtfürsorge- und Versorgungsgesetz - WFVG - (Bescheid vom 22. April 1946 - Versehrtengeld nach Stufe I -), der Sozialversicherungsdirektive - SVD - Nr. 27 (Benachrichtigung vom 14. August 1947 - Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - um 30 v. H. -) und nach dem Bundesversorgungsgesetz - BVG - (ebenfalls Rente nach einer MdE um 30 v. H.) auf Grund des ohne ärztliche Untersuchung erteilten Umanerkennungsbescheides vom 8. Oktober 1951, in dem vermerkt ist: "Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt". Maßgebend waren das Gutachten des Vertragsarztes Dr. St vom 22. Februar 1946 und eine Röntgenaufnahme der Lunge vom 26. Juni 1945.
Nach Anhörung des ärztlichen Dienstes veranlaßte das Versorgungsamt (VersorgA) die Nachuntersuchungen durch die Fachärzte für innere Krankheiten Dr. K vom 13. März 1956 und Regierungsmedizinalrat Dr. Sch vom 24. Januar 1958 mit neuen Röntgenaufnahmen und erteilte mit Zustimmung des Landesversorgungsamtes (LVersorgA) auf Grund des § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) den Berichtigungsbescheid vom 16. Mai 1958. Es führte aus, die Leidensbezeichnung Lungenstecksplitter links beruhe zweifellos auf einer Fehldeutung eines alten verkreideten tuberkulösen Herdes. Die Bescheide vom 22. April 1946, 14. August 1947 und 8. Oktober 1951 entsprächen nicht der Sachlage und seien bei ihrem Erlaß zweifellos tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen. In Abänderung dieser Bescheide werde "Reizlose Brustwandfarbe und geringe Zwerchfell-Rippenverklebung links" als Schädigungsfolge, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen, anerkannt. Die MdE betrage vom 1. August 1945 an weniger als 25 v. H.. Die Rentenzahlung wurde mit Ablauf des Juni 1958 eingestellt. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1958).
Der Kläger hat Klage erhoben und unter anderem eine ärztliche Bescheinigung des Lagerarztes vom 6. Juni 1945 und eine Bescheinigung des praktischen Arztes Dr. S vom 15. Juli 1958 vorgelegt. Durch Urteil vom 3. Februar 1959 hat das Sozialgericht (SG) die Verwaltungsbescheide aufgehoben: Die Versorgungsverwaltung habe wegen des Vermerks im Umanerkennungsbescheid "Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt", den Kläger nicht mehr ärztlich untersuchen lassen und das Ergebnis der Nachuntersuchung, weil sie rechtswidrig gewesen sei, nicht verwenden dürfen.
Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Beweis erhoben durch Einholung weiterer ärztlicher Gutachten und hat durch Urteil vom 14. Februar 1963 das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Auf Grund der Beweiserhebungen hat es festgestellt, daß zweifellos zur Zeit der ersten Anerkennung der Schädigungsfolgen ein Lungenstecksplitter nicht vorgelegen habe, so daß die Anerkennung zweifelsfrei unrichtig gewesen sei. Die Versorgungsverwaltung sei auch berechtigt gewesen, die Nachuntersuchung anzuordnen, durchzuführen und deren Ergebnis zu verwerten, weil sich der Vermerk im Umanerkennungsbescheid nur auf das Umanerkennungsverfahren beziehe und mit Ablauf des 30. September 1954 wirkungslos geworden sei. Im Hinblick hierauf habe die Versorgungsverwaltung - entgegen dem Urteil des 9. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. November 1962 - 9 RV 162/59 - den Kläger nicht auf die zeitliche Begrenzung des Vermerks und die Grundlage der Nachuntersuchung hinzuweisen brauchen. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil es der Frage, ob ein Beschädigter nach dem 30. September 1954 über den Grund der Nachuntersuchung belehrt werden müsse, wenn der Umanerkennungsbescheid den Vermerk trage, eine Nachuntersuchung sei nicht mehr vorgesehen, mit Rücksicht auf das Urteil des BSG vom 28. November 1962 grundsätzliche Bedeutung beimesse.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 3. Februar 1959 zurückzuweisen.
Er rügt mit näherer Begründung, die Versorgungsverwaltung hätte den Kläger nach dem Urteil des 9. Senats vom 28. November 1962 auf die Grunde zur Nachuntersuchung hinweisen müssen. Dies gelte auch für eine Nachuntersuchung nach Ablauf der Vierjahresfrist. Der Kläger sei nicht verpflichtet gewesen, sich nachuntersuchen zu lassen. Die Versorgungsverwaltung dürfe aus dem Ergebnis der unzulässigerweise vorgenommenen Nachuntersuchung keine Folgerungen zum Nachteil des Klägers ziehen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält die Zulassung der Revision für unzulässig, weil die als Zulassungsgrund bezeichnete Rechtsfrage im vorliegenden Verfahren für die Entscheidung bedeutungslos sei. In der Sache selbst hält er das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Kläger hat die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) form - und fristgerecht eingelegt. Das nach § 164 SGG zulässige Rechtsmittel ist nicht begründet.
Die Ausführungen der Beklagten über die Unzulässigkeit der Zulassung greifen nicht durch. Vielmehr ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (statt anderen: BSG 10, 240 ff) nur eine offenbar gesetzwidrig erfolgte Zulassung der Revision rechtsunwirksam und bindet das Revisionsgericht nicht. Eine solche offenbare Gesetzwidrigkeit liegt nicht vor, wie der Kläger zutreffend dargelegt hat. Das LSG hat sich mit der Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 28. November 1962 (9 RV 162/59) auseinandergesetzt. Dort ist unter anderem ausgeführt:
"Der Senat neigt zu der Auffassung, daß die Versorgungsbehörde auch nach Ablauf der Vierjahresfrist des § 86 Abs. 3 BVG den Versorgungsberechtigten jedenfalls dann über den veränderten Grund der Nachuntersuchung unterrichten muß, wenn zuvor streitig war, ob eine Nachuntersuchung nach § 86 Abs. 3 BVG wegen eines früher ausgesprochenen Verzichts auf Nachuntersuchung angeordnet werden konnte."
Dieser Ansicht hat sich das LSG nicht angeschlossen. Es kann unerörtert bleiben, ob es etwa aus diesem Grunde die Revision hätte zulassen sollen. Denn wenn das angefochtene Urteil im Zusammenhang mit der Entscheidung des SG gelesen wird, so könnte mit der Revision folgender Gedankengang in ihm erkennbar sein: Die Versorgungsverwaltung hätte nach der Ansicht des 9. Senats des BSG kein Recht gehabt, den Kläger ohne weiteres nachuntersuchen zu lassen; da die Nachuntersuchung rechtswidrig gewesen sei, dürfe die Verwaltung auch deren Ergebnis nicht zu Lasten des Klägers verwenden. Im Hinblick hierauf verstößt die Zulassung der Revision jedenfalls nicht offenbar gegen das Gesetz.
Das Urteil des 9. Senats des BSG vom 28. November 1962 (9 RV 162/59) ist für die Entscheidung des vorliegenden Falles ohne Bedeutung. Der 9. Senat hatte darüber zu entscheiden, ob der damalige Kläger einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer ärztlichen Untersuchung ohne triftigen Grund im Sinne des § 63 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht nachgekommen war. Hier aber steht die Rechtmäßigkeit eines Berichtigungsbescheides nach § 41 VerwVG im Streit. Nach dieser Vorschrift können Bescheide über Rechtsansprüche zuungunsten des Versorgungsberechtigten von der zuständigen Verwaltungsbehörde durch neuen Bescheid nur geändert oder aufgehoben werden, wenn ihre tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses außer Zweifel steht. Mithin handelt es sich um ganz andere Rechtsfragen. Die oben wiedergegebenen Ausführungen aus der Entscheidung des 9. Senats sind nebenbei gemacht und tragen das Urteil nicht, sie sind ein "obiter dictum". Dies hat der 9. Senat auch mit dem an den angeführten Satz unmittelbar anschließenden Zusatz klargestellt, welcher lautet:
"Diese Frage brauchte der Senat jedoch nicht zu entscheiden, da der Sachverhalt - im Rahmen des hier anhängigen Verfahrens - hierzu keine Veranlassung bietet."
Entgegen der Auffassung des SG und der Revision kann eine Unterrichtung des Rentenberechtigten über die Gründe für eine ärztliche Nachuntersuchung nicht uneingeschränkt gefordert werden. Vielmehr kommt es auf die Umstände des einzelnen Falles an. Jedenfalls muß auch der Verwaltung nachgelassen werden, mit ihrer Belehrung zu warten, bis der Rentenberechtigte sich gegen die Vorladung zur ärztlichen Nachuntersuchung wendet oder zu ihr nicht erscheint. Eine fehlende Belehrung macht jedenfalls die Aufforderung zur ärztlichen Nachuntersuchung und diese selbst nicht rechtwidrig. Dies hat das SG zu Unrecht aus der in BSG 6, 175 ff, insbesondere 180 abgedruckten Entscheidung des 11. Senats entnommen. Vielmehr ergibt sich schon aus dieser Entscheidung und erst recht aus den an sie anschließenden, in BSG 11, 237 ff, 15, 17 ff abgedruckten Entscheidungen, daß eine Nachuntersuchung auch während der Vierjahresfrist des § 86 Abs. 3 BVG sehr wohl Rechtswirkungen, nämlich nach § 62 BVG haben kann.
Zu Unrecht hat auch die Revision geglaubt, im Anschluß an die Entscheidung des SG die Rechtswidrigkeit einer Nachuntersuchung mit dem Hinweis auf die Unzulässigkeit des "Ausforschungsbeweises" begründen zu können. Hiermit wird im Zivilprozeß der Beweis bezeichnet, der aufs Geratewohl oder zu Erforschungszwecken auf bloße Vermutungen hin angetreten ist, ohne daß der Beweisführer für seine Behauptung ausreichende Anhaltspunkte anführt, und bei dem die Beweisaufnahme erst die Grundlage zu neuen Behauptungen abgeben soll. Einer solchen Beweisantretung darf von den Gerichten der Zivilgerichtsbarkeit nicht stattgegeben werden (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., § 115 I 3 d, S. 561, 562). Diese Grundsätze des Zivilprozesses aber können für das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung nicht gelten, weil die leitenden Grundsätze des Verwaltungsverfahrens andere sind als die des Zivilprozesses. Die Verwaltungsbehörden haben die aus ihrer öffentlichen Aufgabe und Funktion entspringende Pflicht, in ihrem Bereich für einen dem Gesetz entsprechenden Zustand zu sorgen und gesetzwidrige Zustände zu vermeiden oder zu beseitigen; dabei ist es gleichgültig, ob sich dies zugunsten oder zuungunsten des Berechtigten auswirkt. Daraus ergibt sich für die Versorgungsverwaltung auch die Verpflichtung, nach dem Gesetz ungerechtfertigte Leistungen zu unterbinden. Die Verwaltung hat deshalb jederzeit die erforderlichen Nachforschungen anzustellen, um die Rechtslage mit der wahren Sachlage in Übereinstimmung zu halten. Dabei hat der Versorgungsberechtigte bei der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken (vgl. §§ 16 bis 19 VerwVG). Infolgedessen ist es nicht angängig, auf dieses Verfahren die Grundsätze des im Zivilprozeß unzulässigen "Ausforschungsbeweises" anzuwenden.
Es kann auch keine Rede davon sein, daß die Verwaltung hier von ihrem Recht, den Sachverhalt aufzuklären, mißbräuchlich Gebrauch gemacht hat. Denn im vorliegenden Fall war nach den ursprünglich anerkannten Schädigungsfolgen ein körperlicher Befund entschädigt worden, welcher sich im Laufe der Jahre durch die Vorgänge im Körper, insbesondere die Reaktionen im Lungengewebe, verändern konnte. Bei einem solchen reversiblen Schaden ist eine Nachprüfung stets gerechtfertigt. Die Vorladung zu einer ärztlichen Nachuntersuchung entspricht in Fällen der vorliegenden Art der Amtspflicht der Versorgungsverwaltung. Auch aus diesem Grunde sind gegen die Rechtmäßigkeit der Nachuntersuchung Bedenken nicht herzuleiten.
Die Versorgungsverwaltung war entgegen der Ansicht des SG und der Revision auch berechtigt, das Ergebnis der zulässigerweise von Nachuntersuchung zu verwerten. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kann eine ärztliche Untersuchung, welche innerhalb von vier Jahren nach dem Inkrafttreten des BVG (§ 86 Abs. 3 BVG) durchgeführt worden ist, Wirkungen nach anderen gesetzlichen Vorschriften, insbesondere nach § 62 BVG, haben; nur auf § 86 Abs. 3 BVG darf die Neufeststellung auf Grund einer solchen ärztlichen Nachuntersuchung nicht gestützt werden (BSG 6, 175 ff; 11, 237 ff; 15, 17 ff). Wenn das SG aus der in BSG 6, 175 ff, insbesondere S. 180, abgedruckten Entscheidung etwas anderes herausgelesen hat, so kann dieser Auffassung nicht gefolgt werden. Dort ist jedenfalls nur ausgeführt worden, das Ergebnis einer ärztlichen Nachuntersuchung könne zuungunsten des Berechtigten nicht "nach § 86 Abs. 3 BVG" verwertet werden, wenn im Umanerkennungsbescheid vermerkt ist: "Nachuntersuchung ist nicht beabsichtigt". (Siehe im übrigen dazu die bereits oben angeführten Entscheidungen BSG 11, 237 ff; 15, 17 ff.) Vorliegend kann auch keine Rede davon sein, daß mit der Verwertung des Ergebnisses der ärztlichen Nachuntersuchung etwa in die geschützte Geheimsphäre des Berechtigten eingegriffen worden sei.
Mithin hat das Berufungsgericht zu Recht angenommen, die Verwaltung habe den Kläger nachuntersuchen lassen dürfen und sie habe auch das Ergebnis dieser Untersuchung verwerten dürfen Es hat im Anschluß hieran festgestellt, daß ein Lungenstecksplitter von vornherein zweifellos zu Unrecht beim Kläger als Schädigungsfolge anerkannt worden ist. Gegen diese Feststellung sind begründete Revisionsrügen nicht vorgebracht worden. Sie bindet nach § 163 SGG das Revisionsgericht. Auf Grund dieser nicht angefochtenen Feststellung hat das LSG zutreffend die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Berichtigungsbescheides bejaht und dementsprechend unter Abänderung des Urteils des SG die Klage abgewiesen. Daher erweist sich die Revision als unbegründet und mußte, wie geschehen, zurückgewiesen werden.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen