Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Überschreiten des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung. ursächlicher Zusammenhang von Einwirkungen des Wehrdienstes mit psychogener Gangstörung. objektive Beweislosigkeit
Orientierungssatz
1. Zur Verletzung von § 128 SGG im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob einer psychogenen Gangstörung echter Krankheitswert zuzumessen und deshalb der ursächliche Zusammenhang zwischen diesen psychogenen Störungen und den Einwirkungen des Wehrdienstes zu bejahen ist.
2. Objektive Beweislosigkeit kann erst dann angenommen werden, wenn sämtliche Möglichkeiten der Beweiserhebung ausgeschöpft sind.
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 15.05.1962) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Bei dem Kläger war nach mehrfachen ärztlichen Begutachtungen auf Grund des Wehrmachtfürsorge- und -versorgungsgesetzes (WFVG) durch Bescheid vom 31. August 1942 "Bänderschwäche beider Knie- und Fußgelenke" als Wehrdienstbeschädigung im Sinne der Verschlimmerung anerkannt und Versehrtengeld nach Stufe III bewilligt worden. Ohne erneute ärztliche Untersuchung erhielt er auf Grund des Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (KBLG) - Bescheid vom 5. Juli 1948 - wegen der gleichen, durch schädigende Einwirkungen im Sinne des KBLG hervorgerufenen Schädigungsfolgen Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. Nachdem der Kläger die Anerkennung von Schmerzen an der Wirbelsäule als weitere Schädigungsfolgen beantragt hatte, holte das Versorgungsamt (VersorgA) die Gutachten der Nervenklinik und der Orthopädischen Klinik der Universität M vom 12. April und 30. Mai 1951 ein und erteilte auf Grund des § 30 Abs. 4 KBLG den Bescheid vom 24. Juli 1951, mit dem es den Bescheid vom 5. Juli 1948 aufhob, weil sich seine Voraussetzungen als unzutreffend erwiesen hätten. Durch Umanerkennungsbescheid vom gleichen Tage bezeichnete es die Schädigungsfolgen als "Bänderschwäche beider Knie- und Fußgelenke", verschlimmert durch schädigende Einwirkungen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und gewährte vom 1. September 1951 an Rente nach einer MdE um 25 v. H.
Auf die Berufung des Klägers nach altem Recht hat das Oberversicherungsamt (OVA) Beweis erhoben ua durch Einholung von ärztlichen Gutachten durch Oberregierungsmedizinalrat Dr. W (vom 3. Juni 1952) und Prof. Dr. K/Dr. B (vom 11. Mai 1953) und hat durch Urteil vom 17. Juni 1953 das Rechtsmittel des Klägers zurückgewiesen.
Mit dem Rekurs nach altem Recht, welcher nach Einführung der Sozialgerichtsbarkeit als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG) übergegangen ist, hat der Kläger die zusätzliche Anerkennung eines Wirbelsäulenschadens und die Gewährung von Rente nach einer MdE um 70 v. H. beantragt. Er hat weitere Unterlagen vorgelegt, u. a. ärztliche Gutachten und Äußerungen des Oberregierungsmedizinalrats Dr. W (vom 30. Dezember 1958 und 15. Juni 1959) sowie des Dr. H (vom 12. Dezember 1959). Das Berufungsgericht hat Beweis erhoben ua durch Einholung ärztlicher Gutachten von Prof. Dr. L (Orthopädische Klinik der Universität M) vom 22. Juli 1959 mit Ergänzung vom 18. Juli 1960 und von Prof. Dr. K (Nervenklinik der Universität M) vom 28. Oktober 1960 mit Ergänzung vom 29. Dezember 1961 und Erläuterung in der mündlichen Verhandlung vom 15. Mai 1962. Der Beklagte hat das Gutachten des Prof. Dr. St (Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität K) und Oberarzt Prof. D vom 21. Februar 1961 beigebracht. Durch Urteil vom 15. Mai 1962 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen, weil als Schädigungsfolge nur die verschlimmerte Bänderschwäche an beiden Fuß- und Kniegelenken berücksichtigt werden könne, diese aber die Erwerbsfähigkeit nach dem Gutachten des Prof. Dr. K nur um 25 v. H. herabsetze. Ein ursächlicher Zusammenhang der Skoliose mit der Bänderschwäche bestehe nicht. Die Gangstörung sei psychogen. Diese Störung könne als Wehrdienstbeschädigung nicht anerkannt werden, weil die medizinische Wissenschaft und Erfahrung auf dem Gebiete der Psychiatrie zur Beurteilung von Neurosen keine herrschende Meinung enthalte und mithin bei dem derzeitigen Stande der medizinischen Wissenschaft der ursächliche Zusammenhang der psychogenen Komponente mit dem Wehrdienst nicht mit der vom Gesetz geforderten Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG in München zurückzuverweisen.
Er rügt mit näherer Begründung eine mangelnde Sachaufklärung, eine fehlerhafte Beweiswürdigung, Verstoß gegen die Denkgesetze und eine Verletzung der Kausalitätsnorm.
Der Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1962 als unzulässig zu verwerfen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das LSG hat das Rechtsmittel zwar nicht zugelassen. Es findet aber deshalb statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und vorliegt. Die Revision ist auch begründet.
Das Berufungsgericht hat den angefochtenen Umanerkennungsbescheid vom 24. Juli 1951 für rechtmäßig erachtet und hat festgestellt, dass das Wirbelsäulenleiden und die Gangstörung nicht ursächlich auf Einwirkungen des Wehrdienstes zurückzuführen seien. Hiergegen richtet sich die Revision mit der Rüge einer unzureichenden Sachaufklärung und einer Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung.
Die Rüge einer Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist begründet. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; in seinem Urteil hat es die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Ein Mangel des Verfahrens in bezug auf die Beweiswürdigung liegt dann vor, wenn das Gericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten hat; insoweit kommt insbesondere ein Verstoß gegen Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder Denkgesetze in Betracht (BSG 2, 236, 237).
Wie die Revision zutreffend rügt, hat das Berufungsgericht zu Unrecht angenommen, bei der Vielzahl der Lehrmeinungen und Richtungen in der Psychiatrie könne nicht mit der für eine Überzeugungsbildung des Gerichts ausreichenden Wahrscheinlichkeit dargetan werden, dass die Gangstörung auf Einwirkungen des Wehrdienstes (Überanstrengung bei Märschen) zurückgeführt werden müsse. Denn dies lässt sich aus dem Gutachten des Prof. Dr. K vom 28. Oktober 1960 mit Nachtrag vom 29. Dezember 1961 und Ergänzung im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 15. Mai 1962 - auch im Hinblick auf das Gutachten des Prof. Dr. St D - nicht folgern. Insoweit sind die Grundsätze der objektiven Beweislosigkeit (BSG 6, 70 ff) nicht richtig angewendet, was die Revision noch erkennbar rügt. Objektive Beweislosigkeit kann erst dann angenommen werden, wenn sämtliche Möglichkeiten der Beweiserhebung ausgeschöpft sind. Über die hier zu entscheidende Frage, ob der psychogenen Gangstörung echter Krankheitswert zuzumessen und deshalb entsprechend der Rechtsprechung des BSG (BSG 10, 209 ff) der ursächliche Zusammenhang zwischen diesen psychogenen Störungen und den Einwirkungen des Wehrdienstes zu bejahen ist, sind bisher nur Prof. Dr. K und Prof. Dr. St gehört worden. Letzterer hat den Kläger nicht gesehen, sondern sein Gutachten nach Aktenlage erstattet. Prof. Dr. K hat die Rechtsprechung des BSG anerkannt und aus ihr die notwendigen Folgerungen gezogen. Prof. Dr. St hingegen berücksichtigte nicht die Rechtsprechung des BSG zur Frage neurotischer Störungen. Er verkennt zudem die Rolle des Sachverständigen als Gehilfen des Richters, wenn er eine rein rechtliche Frage, nämlich die endgültige Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang, aus der Beurteilung des Richters in die des Arztes überführen will, wobei er den unterschiedlichen Kausalitätsbegriff im naturwissenschaftlichen und im versorgungsrechtlichen Sinne nicht deutlich genug beachtet. Dieses Gutachten geht von "gültigen Bestimmungen" für die Beurteilung des Ursachenzusammenhanges bei einer psychogenen Symptomverstärkung aus und verweist insoweit auf das Grundsatzgutachten "Die Neurose", herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung im Jahre 1960. Abgesehen davon, dass es sich bei dem Grundsatzgutachten nicht um "gültige Bestimmungen", sondern auch um ein "Gutachten" handelt, bestehen für die Beurteilung des Ursachenzusammenhanges keine "gültigen Bestimmungen", die gesetzlich niedergelegt sind. Zwar genügt nach § 1 Abs. 3 BVG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, sein Begriff ist gesetzlich aber nicht bestimmt. Erst das BSG hat in ständiger Rechtsprechung den Ursachenbegriff im Sinne des Versorgungsrechts festgelegt (s. BSG 1, 150, 156; 268 ff). Bei dieser Lage kann das Gutachten von Prof. Dr. St/Prof. D für die Annahme einer objektiven Beweislosigkeit nicht verwertet werden.
Der Senat verkennt nicht die Schwierigkeit der Beweisfragen, welche sich bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen neurotischen Störungen und Einwirkungen des Wehrdienstes ergeben. Insoweit sei auf das Urteil des 4. Senats vom 7. April 1964 (BSG SozR RVO § 1246 Bl. Aa 26 Nr. 38) und des 11. Senats vom 1. Juli 1964 - 11/1 RA 158/61 - verwiesen. Die "Simulationsnähe" zahlreicher Neurosen fordert bei der Feststellung der anspruchsbegründenden Tatbestandsmerkmale einen strengen Maßstab. Diese Schwierigkeiten entheben aber das Gericht nicht der Pflicht, den Sachverhalt ebenfalls insoweit aufzuklären, damit es eine ausreichende Grundlage für seine Entscheidung erhält. Wenn das LSG hier schon glaubte, eine herrschende Ansicht bestehe in der Psychiatrie über den Ursachenzusammenhang psychogener Störungen mit schädigenden Einwirkungen des Kriegsdienstes nicht, so war doch durch die Rechtsprechung des BSG klargestellt, dass jedenfalls das Gutachten von Prof. Dr. S im Hinblick auf seine Voraussetzungen und Gedankenführung vorliegend nicht berücksichtigt werden konnte. Das Berufungsgericht hätte entsprechend seiner richterlichen Aufgabe die unterschiedlichen medizinischen Meinungen, und zwar nicht etwa Lehrmeinungen im allgemeinen, sondern ärztliche Meinungen - möglichst auf Grund eigener Untersuchung - in diesem Einzelfall ermitteln und aus ihnen dann diejenigen herausnehmen müssen, welche nach seiner richterlichen Überzeugung den Verhältnissen des hier zu entscheidenden Einzelfalls am ehesten gerecht werden. Das LSG hätte sich also gedrängt fühlen müssen, ein oder notfalls mehrere weitere psychiatrische Gutachten einzuholen, bevor es den Grundsatz der objektiven Beweislosigkeit hätte anwenden dürfen. Denn erst wenn das Gericht trotz sorgfältiger Ermittlungen und bei gebotener kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse eine Vortäuschung der Störung, die Möglichkeit, sie zu überwinden, oder ihre Unerheblichkeit für die Erwerbsfähigkeit nicht ausschließen kann, so wäre von dem Kläger die Folge des Nichtfestgestelltseins des ursächlichen Zusammenhangs zu tragen.
Da sonach der gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens, nämlich eine Verletzung des § 128 SGG gegeben ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen, ohne dass auf die weiter erhobenen Rügen eingegangen zu werden brauchte. Der Senat hat von einer Entscheidung über das geltend gemachte Wirbelsäulenleiden abgesehen, weil es nicht ausgeschlossen ist, dass sich für den ursächlichen Zusammenhang dieses Leidens in dem weiteren Verfahren und durch die für erforderlich gehaltene Sachaufklärung durch Einholung von ärztlichen Gutachten neue Gesichtspunkte ergeben.
Die Entscheidung der Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt sind, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.
Fundstellen