Entscheidungsstichwort (Thema)

Kriegsopferversorgung. MdE-Grad Sachverständigenanhörung. bestimmter Arzt. Sachaufklärungspflicht

 

Orientierungssatz

Eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht und von SGG § 109 liegt vor, wenn das Gericht bei der Feststellung, ob eine psychogene Gangstörung als Schädigungsfolge zur Festsetzung eines höheren MdE-Grades berechtigt, die beantragte Anhörung eines orthopädischen Sachverständigen unterläßt, obwohl aufgrund einer ärztlichen Aussage feststeht, daß eine abschließende orthopädische Begutachtung notwendig sei, bevor ein psychiatrisches Gutachten ergehen könne.

 

Normenkette

SGG §§ 109, 162 Abs. 1 Nr. 2, § 103

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 28.11.1967)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. November 1967 insoweit aufgehoben, als es nicht die Anerkennung einer psychogenen Gangstörung als Schädigungsfolge betrifft.

In diesem Umfange wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger bezieht Versorgung wegen gesundheitlicher Schädigungen, welche er während des zweiten Weltkrieges erlitten hat. Aufgrund des Wehrmachtfürsorge- und -versorgungsgesetzes (WFVG) und des Bayerischen Körperbeschädigtenleistungsgesetzes (KBLG) war "Bänderschwäche beider Knie und Fußgelenke" als Wehrdienstbeschädigung anerkannt und Versehrtengeld nach Stufe III bzw. Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. bewilligt worden (Bescheide vom 31. August 1942 und 5. Juli 1948). Gestützt auf Gutachten der Nervenklinik und der Orthopädischen Klinik der Universität M hob das Versorgungsamt aufgrund des § 30 Abs. 4 KBLG durch Bescheid vom 24. Juli 1951 die frühere Rentenbewilligung auf, weil sich ihre Voraussetzungen als unzutreffend erwiesen hätten. Durch Umanerkennungsbescheid vom gleichen Tage bezeichnete es die Schädigungsfolgen als "Bänderschwäche beider Knie- und Fußgelenke", verschlimmert durch schädigende Einwirkungen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und gewährte vom 1. September 1951 an Rente nach einer MdE um 25 v. H. Berufung nach altem Recht an das Oberversicherungsamt (OVA) und der Rekurs nach altem Recht, welcher nach Einführung der Sozialgerichtsbarkeit als Berufung auf das Landessozialgericht (LSG) übergegangen war, hatten keinen Erfolg - Urteil des Bayerischen LSG vom 15. Mai 1962. Auf die Revision des Klägers hat der erkennende Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Urteil vom 20. August 1964 die Entscheidung des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, weil hinsichtlich der geltend gemachten psychogenen Gangstörung das LSG den Grundsatz der objektiven Beweislosigkeit und die Rechtsprechung des BSG zum ursächlichen Zusammenhang zwischen neurotischen Störungen und Einwirkungen des Wehrdienstes (BSG 10, 209, SozR RVO § 1246 Nr. 38) verkannt hatte.

Wegen des Sachverhalts im einzelnen wird auf das Urteil des Senats vom 20. August 1964 Bezug genommen.

Im weiteren Verfahren hat das LSG Beweis erhoben. Prof. Dr. P, Direktor der deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie hat im Gutachten vom 6. April 1965 eine stationäre Beobachtung von 10 bis 14 Tagen in einer orthopädischen Klinik, in welcher der Kläger noch nicht gewesen war, empfohlen und die orthopädischen Kliniken der Universitäten Marburg und Köln benannt. Nach Abschluß dieser Untersuchungen wollte er seine endgültige Stellungnahme abgeben. Daraufhin hat das LSG das Gutachten der orthopädischen Klinik München, in welcher der Kläger schon früher untersucht worden war, vom 22. Dezember 1965 eingeholt, welche ohne stationäre Beobachtung ihre frühere Auffassung hinsichtlich der auf orthopädischem Gebiete anzuerkennenden Schädigungsfolgen als Bänderschwäche und der MdE mit 25 v. H. aufrechterhalten hat. Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 8. Februar 1966 gerügt, daß das LSG die Orthopädische Klinik München gehört hatte, obwohl diese schon früher ein Gutachten abgegeben habe. Nach weiteren Stellungnahmen des Prof. Dr. P hat der Kläger mit Schriftsatz vom 10. November 1967 gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Anhörung des derzeitigen Ordinarius für Orthopädie die Universität Köln beantragt. Durch Urteil vom 28. November 1967 hat das LSG den Umanerkennungsbescheid des Versorgungsamtes (VersorgA) vom 24. Juli 1951 dahin abgeändert, daß eine psychogene Gangstörung weitere Schädigungsfolge im Sinne der Entstehung ist, und den Beklagten verurteilt, vom 1. September 1951 Rente nach einer MdE um 40 v. H. zu gewähren; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen: Der psychogenen Gangstörung komme echter Krankheitswert zu. Die MdE durch dieses psychische Leiden sei ebenso hoch, wie die durch die organische Schädigung angenommene, also nach dem früher eingeholten Gutachten des Prof. Dr. K 25 v. H., so daß sich bei einer Addition der beiden Beeinträchtigungen eine MdE von insgesamt 40 v. H. ergebe. Das noch geltend gemachte Wirbelsäulenleiden sei nach der Ansicht der Orthopädischen Klinik keine Schädigungsfolge, ebenso nicht der außerdem geltend gemachte Zustand nach Knieaußenbandplastik. Zur Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 SGG bestehe kein Anlaß, weil im früheren Verfahren bereits nach dieser Vorschrift der Oberregierungsmedizinalrat a. D. Dr. W gehört worden sei; es seien keine besonderen Gründen vorgetragen oder erkennbar, welche die Anhörung eines weiteren ärztlichen Sachverständigen des gleichen Fachgebiets rechtfertigen könnten.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt sinngemäß,

anstelle der MdE von 40 v. H. eine solche von 70, mindestens aber 50 v. H. anzuerkennen,

hilfsweise,

die Sache unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine unzureichende Sachaufklärung, eine Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung und eine Verletzung des § 109 SGG. Er ist der Ansicht, der Senat könne aufgrund des Beweisergebnisses des zweiten Rechtszuges die MdE infolge der anerkannten Bänderschwäche und der nunmehr als Schädigungsfolge bezeichneten psychogenen Gangstörung mit 50 v. H. feststellen. Falls der Senat nicht selbst in der Sache entscheiden wolle, wird gerügt, das LSG habe aufgrund des § 109 SGG Prof. Dr. I von der Orthopädischen Universitätsklinik K als Sachverständigen hören müssen. Außerdem seien zu Unrecht die Beschwerden an der Wirbelsäule nicht als Schädigungsfolge anerkannt worden.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen LSG vom 28. November 1967 als unzulässig zu verwerfen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und verneint die gerügten Verfahrensfehler.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Der Kläger hat die Revision form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Sein Rechtsmittel ist zwar vom Berufungsgericht nicht zugelassen worden, es findet aber statt, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) gerügt wird und auch vorliegt (BSG 1, 150).

Wenn auch der Kläger mit dem "Hauptantrag" sich nicht gegen die Ablehnung des Wirbelsäulenschadens und der Operationsfolgen am rechten Kniegelenk gewendet hat, so hat er doch das Urteil des LSG insoweit nicht unangefochten gelassen und damit nicht rechtskräftig werden lassen. Vielmehr hat er diese Teile der Entscheidung in den Ausführungen zum "Eventualantrag" angegriffen. Infolgedessen liegt dem Senat als streitiger Anspruch derselbe Schädigungskomplex vor wie dem LSG und wie zur Zeit der ersten Entscheidung des Senats vom 20. August 1964. Die damals streitige psychogene Gangstörung als Schädigungsfolge ist zwar inzwischen dem Grunde nach anerkannt worden. Streit besteht aber noch über die MdE durch dieses Leiden. Insoweit rügt der Kläger neben einer Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung eine Verletzung des § 109 SGG. Es trifft zwar zu, daß früher aufgrund der entsprechenden Vorschrift des § 1681 der Reichsversicherung (RVO) aF ein Gutachten des Oberregierungsmedizinalrats a. D. W eingeholt worden ist. Im Hinblick aber darauf, daß dieses Gutachten schon lange zurückliegt und vor allem im Hinblick auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. P, der Kläger möge stationär in einer orthopädischen Klinik beobachtet und untersucht werden, welche mit dem Streitfall noch nicht befaßt worden sei, liegen hinreichende Umstände vor, welche die Anhörung eines orthopädischen Sachverständigen aufgrund des § 109 SGG rechtfertigen (BSG SozR SGG § 109 Nr. 14). In seinem Schriftsatz vom 8. Februar 1966 hat der Kläger auf diese besonderen Umstände, welche die Anhörung einer anderen Klinik rechtfertigen, hingewiesen und hat diese in seinem förmlichen Antrag nach § 109 SGG im Schriftsatz vom 10. November 1967 wiederholt. Damit ist dieser Antrag ordnungsgemäß gestellt worden. Er ist auch gerechtfertigt, weil Prof. Dr. P überzeugend dargetan hat, daß eine neue abschließende orthopädische Begutachtung notwendig ist, bevor der Psychiater sein Gutachten abgeben kann. Wenn dann das LSG dieser Anregung des Sachverständigen, insbesondere auch bei den offenbar nach dessen Ansicht bestehenden Schwierigkeiten, das Krankheitsgeschehen auch in orthopädischer Hinsicht zu erkennen und zu beurteilen, nicht gefolgt ist, sondern das ohne Beobachtung aufgrund einmaliger Untersuchung. erstattete Gutachten der früher mit dem Fall bereits befaßten Orthopädischen Klinik der Universität M eingeholt hat, so hat es nicht nur den Sachverhalt nicht zur Genüge aufgeklärt, sondern auch die Vorschrift des § 109 SGG verletzt.

Da sonach der gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens gegeben ist, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen, ohne daß auf die weiter erhobenen Rügen eingegangen zu werden brauchte. Der Senat hat von einer Entscheidung über das geltend gemachte Wirbelsäulenleiden abgesehen, weil es nicht ausgeschlossen ist, daß sich für den ursächlichen Zusammenhang dieses Leidens in dem weiteren Verfahren und durch die für erforderlich gehaltene Sachaufklärung durch Einholung von ärztlichen Gutachten neue Gesichtspunkte ergeben.

Im weiteren Verfahren wird das Berufungsgericht durch das beantragte orthopädische Gutachten des Prof. Dr. I die Beeinträchtigung durch die Bänderschwäche beider Knie- und Fußgelenke sowie auch die Frage zu klären haben, ob die geltend gemachten Schäden an der Wirbelsäule Folgen von Einwirkungen i. S. des § 1 BVG sind. Außerdem wird dieser Sachverständige sich über die gesamte MdE auf seinem Fachgebiet zu äußern haben. Abschließend wäre dann noch der Sachverständige Prof. Dr. P entsprechend seiner eigenen Anregung und dem Antrag des Klägers aus § 109 SGG zu hören.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens - auch der Revisionsinstanz - bleiben dem Urteil vorbehalten, durch welches das Verfahren abgeschlossen wird.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648628

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