Orientierungssatz
Zur Zulässigkeit der Berufung in Angelegenheiten der Rentenversicherung gemäß SGG § 146.
Normenkette
SGG § 146 Fassung: 1958-06-25
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 28.01.1973; Aktenzeichen L 8 J 63/72) |
SG Berlin (Entscheidung vom 26.01.1972; Aktenzeichen S 27 J 1516/69) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 18. Januar 1973 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der im Jahre 1925 geborene Kläger war 1968 und 1969 mehrfach monatelang krank. Er beantragte im Januar 1969 bei der Beklagten Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 12. Mai 1969 ab; der Kläger sei noch nicht berufsunfähig. Sie bewilligte ihm vom 17. September 1969 bis zum 15. Oktober 1969 ein Heilverfahren und zahlte ihm für diese Zeit Übergangsgeld.
Das Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben, insbesondere durch Einholung von Gutachten der ärztlichen Sachverständigen Dr. H und Dr. J. Es hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Übergangsgeld für die Zeit vom 1. April 1969 bis 16. September 1969 und Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 16. Oktober 1969 bis November 1972 zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Kläger habe - so hat es ausgeführt - in der Zeit von September 1968 bis Dezember 1969 nur noch halbschichtig bis untervollschichtig arbeiten können, in der Zeit danach vollschichtig. Die Grundsätze des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit (BSG 30, 167 und 192) seien in Ausnahmefällen auch für vollschichtig Leistungsfähige anzuwenden. Die gesundheitlich bedingte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers sei so erheblich, daß eine ausreichende Zahl von Arbeitsplätzen für Behinderte seiner Art nicht vorhanden sei. Da aber mit einer Besserung seines Gesundheitszustandes zu rechnen sei, könne nur eine Rente auf Zeit zugesprochen werden.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten hinsichtlich des Übergangsgeldes als unzulässig verworfen (§ 146 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), im übrigen den Rechtsstreit an das SG zurückverwiesen. Zu letzterem hat es ausgeführt:
Das Verfahren vor dem SG leide an einem wesentlichen Mangel (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das SG habe in den Entscheidungsgründen nicht dargelegt, warum es der Meinung des Sachverständigen Dr. J gefolgt sei, daß der Kläger in der Zeit vom 16. Oktober bis 31. Dezember 1969 nur untervollschichtig habe arbeiten können, und nicht etwa dem insoweit anders lautenden Gutachten des Sachverständigen Dr. H (§ 128 Abs. 1 S. 2 SGG). Dieser Verstoß gegen das Prozeßrecht sei auch wesentlich, da es für die sachlich-rechtliche Beurteilung darauf ankomme, ob der Kläger noch vollschichtig einsetzbar sei bzw. gewesen sei. Anders als das SG (für die Zeit von Januar 1970) annehme, komme es nämlich bei den auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren männlichen Beschäftigten nur dann auf starke Einschränkungen des Leistungsvermögens an, wenn diese Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit neben einer zeitlichen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit bestehe. Im übrigen seien auch neue Tatsachen vorgetragen (§ 159 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es die Berufung als unzulässig verworfen hat und die Sache auch insoweit an das Sozialgericht Berlin zurückzuverweisen.
Das Urteil des LSG leide unter zwei Gesichtspunkten an einem wesentlichen Mangel.
Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Übergangsgeld bilde mit dem auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit einen einheitlichen prozessualen Anspruch, so daß die Berufung nicht hinsichtlich des einen zulässig, hinsichtlich des anderen unzulässig sein könne. Das LSG habe daher zu Unrecht die Berufung teilweise verworfen.
Im übrigen verstoße das angefochtene Urteil auch gegen § 150 Nr. 2 SGG. Wie das LSG selbst darlege, leide das Urteil des SG an dem Mangel, daß es nicht erkennen lasse, warum das Gericht der Auffassung des Dr. J hinsichtlich der zeitlichen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers in der Zeit bis zum 31. Dezember 1969 gefolgt sei. Dieser Mangel bestehe aber auch, soweit der Anspruch auf Übergangsgeld begründet werde.
Der Kläger beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Die Revision ist nicht statthaft. Von den Revisionsgründen des § 162 SGG kommt nur ein Verfahrensmangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) in Frage. Zwar hat die Beklagte zwei nach ihrer Meinung dem angefochtenen Urteil anhaftende Mängel gerügt. Sie liegen aber nicht vor.
Allerdings würde es einen Verfahrensmangel darstellen, wenn das LSG eine Sachentscheidung deshalb abgelehnt hätte, weil es die Berufung zu Unrecht für unzulässig gehalten hätte (BSG 1, 283). Das Urteil des LSG ist jedoch nicht zu beanstanden, soweit es die Berufung für unzulässig erklärt. Nach § 146 SGG können Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, die nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Das Urteil des SG hatte es mit zwei rechtlich selbständigen Ansprüchen zu tun, einmal mit dem Anspruch des Klägers auf vorgezogenes Übergangsgeld nach § 1241 Abs. 1 S. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Zeit bis zum 16. September 1969 und dann mit dem Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit nach dem 15. Oktober 1969. Daß beide Ansprüche sich in ihren Voraussetzungen ähneln, ändert nichts daran, daß sie voneinander zu unterscheiden sind. Die Statthaftigkeit der Berufung ist für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen (BSG 3, 135; 5, 222; 6, 11, 15; 10, 264). Deshalb ist sowohl hinsichtlich des Anspruches auf Übergangsgeld wie auch des auf Rente die Zulässigkeit der Berufung zu prüfen. Die Frage, ob jeweils der Anspruch im materiellen Sinne (so BSG 6, 11) oder der im prozessualen Sinne zu betrachten ist (so BSG 5, 222), kann dahinstehen; beide Begriffe decken sich hier.
Für die Prüfung, ob die Berufung zulässig ist, kommt es auf den Zeitpunkt ihrer Einlegung an, insbesondere für die Frage, ob es sich bei einer Rente oder einem vorgezogenen Übergangsgeld um Leistungen für bereits abgelaufene Zeiträume handelt (BSG SozR SGG Nr. 12 zu § 146). Zur Zeit der Einlegung der Berufung (24. März 1972) betraf das für die Zeit von April 1969 bis September 1969 zugesprochene Übergangsgeld lediglich einen solchen Zeitraum.
Die Berufung war auch nicht deshalb zulässig, weil der Anspruch auf Übergangsgeld in engem Zusammenhang mit dem Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit stand. Anerkannt ist in der Rechtsprechung, daß die Berufung hinsichtlich eines Anspruchs zulässig ist, gegen den die Berufung grundsätzlich ausgeschlossen ist, wenn dieser Anspruch abhängig ist von einem anderen bezüglich dessen die Berufung gegeben ist (BSG 14, 280). Voraussetzung ist also, daß die Berufung gegen den präjudiziellen Anspruch statthaft ist. Der Grund für diese ausnahmsweise Zulassung der Berufung liegt darin, daß sonst das Urteil der Vorinstanz über den abhängigen Anspruch rechtskräftig werden könnte, obwohl ihm durch die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts über den präjudiziellen Anspruch die Grundlage entzogen werden kann. Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor.
Im übrigen könnten auch hier ähnliche Erwägungen angestellt werden, wie sie der Senat in seinem Urteil vom 16. August 1973 (SozR RVO Nr. 35 zu § 1241) angestellt hat. Möglicherweise kann je nachdem, ob es sich um die Gewährung von Rente oder vorgezogenem Übergangsgeld handelt, eine unterschiedliche Betrachtung angebracht sein.
Die Berufung gegen das Urteil des SG hinsichtlich des Anspruches auf Übergangsgeld war auch nicht deshalb zulässig, weil das SG einen Verfahrensfehler begangen hat.
Nach § 150 Nr. 2 SGG ist die Berufung ungeachtet des § 146 SGG zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird. Die Beklagte hatte schon mit der Berufung darauf hingewiesen, daß das SG den Widerspruch zwischen dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H und dem des Dr. J nicht beachtet habe, der darin liege, daß nur Dr. J in der Zeit von September 1968 bis Dezember 1969 den Kläger für unfähig gehalten habe, vollschichtig zu arbeiten. Das LSG hat einen Verfahrensfehler darin erblickt, daß das SG nicht dargelegt habe, warum es der Meinung des Dr. J und nicht der des Dr. H gefolgt ist. Richtig ist, daß das Tatsachengericht im Urteil die Gründe angeben muß, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 128 Abs. 1 S. 2 SGG). Das SG hatte auch für den Anspruch auf vorgezogenes Übergangsgeld dieselben Voraussetzungen geprüft wie für den Anspruch auf Rente, so daß ein Mangel in der Tatsachenfeststellung beide Ansprüche berühren mußte. Trotzdem stellt die Äußerung des SG, der Kläger habe in der Zeit von September 1968 bis Dezember 1968 nur untervollschichtig arbeiten können, keine verfahrensfehlerhafte Tatsachenfeststellung dar. Die Frage, ob das Verfahren des SG an einem wesentlichen Mangel leidet, ist nämlich vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des SG aus zu beurteilen, also nicht von dem des Berufungsgerichtes aus (Peters-Sautter-Wolff, Komm. zum SGG, § 150 Anm. 3, III/62; BSG 2, 84). Nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des SG kam es aber nicht auf die Frage an, ob der Kläger in der Zeit von September 1968 bis Dezember 1969 vollschichtig oder untervollschichtig arbeiten konnte. Demnach bedurfte es keiner Auseinandersetzung darüber, welchem Gutachten in dieser Frage zu folgen sei. Das SG hat nämlich die Meinung vertreten, daß auch bei vollschichtig Tätigen die Grundsätze des Großen Senats des BSG zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit zu gelten hätten, wenn das Leistungsvermögen des Antragstellers so eingeschränkt sei, daß für ihn eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen nicht vorhanden sei. Diese Voraussetzung hat es bei dem Kläger bejaht. Dementsprechend hat es dem Kläger auch nicht nur Leistungen für die Zeit zugesprochen, in der er angeblich nur untervollschichtig arbeiten konnte, sondern auch für die Zeit danach. Wenn demgegenüber das LSG die Meinung vertritt, auf die sonstigen Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit komme es bei Vollzeitarbeitskräften nicht an, so kann diese Auffassung nicht bei der Frage von Bedeutung sein, ob sich das SG einen Verfahrensfehler hat zuschulden kommen lassen.
Da somit die Revision nicht statthaft ist, ist sie als unzulässig zu verwerfen (§ 169 S. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen