Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör. Gerichtskunde. Überraschungsentscheidung
Leitsatz (amtlich)
Zu den Auswirkungen der Verletzung des rechtlichen Gehörs in Parallelsachen.
Orientierungssatz
1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör iS der §§ 62, 128 Abs 2 SGG ist verletzt, wenn für eine vorhandene Gerichtskunde oder eine gerichtliche Tatsachenwürdigung bisher keine Hinweise vorhanden waren (vgl BSG vom 15.7.1982 - 5b RJ 86/81 = SozR 1500 § 62 Nr 11, BSG vom 15.10.1986 - 5b RJ 24/86 = SozR 1500 § 62 Nr 20). Das Gebot, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren und das Verfahren fair zu gestalten, zwingt das Gericht, seine Sachkunde zu offenbaren und unter Berücksichtigung der daraufhin ggf erfolgenden Reaktionen seine Überzeugung zu gewinnen.
2. Wegen der unvorhersehbaren Verletzung des rechtlichen Gehörs in einer Parallelsache können sachgerechte verfahrensrechtliche Reaktionen von einem Beteiligten nicht erwartet werden. Anders kann er dagegen in dem später von demselben Senat des LSG aufgrund der ihm inzwischen bekannten Gerichtskunde entschiedenen Fall handeln. Aus der prinzipiellen Bindung des Revisionsgerichts an die tatrichterlichen Feststellungen, die nur dann nicht für das BSG maßgebend sind, wenn sie mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen werden, erklären sich dann unterschiedliche revisionsgerichtliche Entscheidungen bei Sachverhalten, die von der materiell-rechtlichen Seite betrachtet die gleiche Ausgangslage haben.
Normenkette
GG Art 103 Abs 1; SGG §§ 62, 128 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.04.1986; Aktenzeichen L 15 Kn 141/83) |
SG Aachen (Entscheidung vom 31.10.1983; Aktenzeichen S 2 Kn 85/82) |
Tatbestand
Der im Jahre 1933 geborene Kläger beansprucht die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit.
Knappschaftlich versichert war der Kläger während seiner Beschäftigung im Bergbau bis 1974 als Berglehrling, Knappe und zuletzt als Hauer in der Aus- und Vorrichtung. 1975 wurde er im Rahmen einer berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation zum Bagger- und Baumaschinenführer ausgebildet. Diesen Beruf verrichtete er bis 1979. Dann mußte er die Tätigkeit als Baumaschinenführer aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Anschließend arbeitete er als Kraftfahrer. Seit Juli 1981 ist er arbeitslos. Die im Dezember 1981 beantragte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. Juli 1982 ab. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 18. Oktober 1982).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Soweit der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrt hat, ist die Klage abgewiesen worden (Urteil vom 31. Oktober 1983). Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 8. April 1986). Es ist von einer bisherigen Berufstätigkeit des Klägers als Baumaschinenführer ausgegangen und hat ihn der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet. Er könne weder Arbeiten in einem anerkannten oder sonstigen Ausbildungsberuf noch tariflich so bewertete Tätigkeiten verrichten. Eine zumutbare Verweisungstätigkeit im außerknappschaftlichen Bereich, der der Kläger nach seinem körperlichen Leistungsvermögen noch gewachsen wäre, sei nicht ersichtlich. Sie werde von den Beteiligten auch nicht vorgetragen. Der Kläger könne im Bergbau noch als Verwieger 1 arbeiten. Jedoch scheitere die Verweisung daran, daß dem Kläger insoweit der Arbeitsmarkt verschlossen sei.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung der §§ 46 Abs 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG), 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO), 103, 128 Abs 1 Satz 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie des Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) iVm den §§ 62, 128 Abs 2 SGG.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG vom 8. April 1986 ganz sowie das Urteil des SG vom 31. Oktober 1983 teilweise aufzuheben und die Klage auch insoweit abzuweisen, als die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit begehrt wird, hilfsweise, das Urteil des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht zu.
Das angefochtene Urteil des LSG kann auf der von der Beklagten gerügten Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen. Das LSG ist davon ausgegangen, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Klägers ließen noch eine Tätigkeit als Verwieger 1 im Rheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbau zu, auf die er zumutbar verwiesen werden könne. Gleichwohl hat das LSG festgestellt, eine zumutbare Verweisungstätigkeit im außerknappschaftlichen Bereich, der der Kläger nach seinem körperlichen Leistungsvermögen noch gewachsen sei, sei nicht ersichtlich. Sie werde von den Beteiligten auch nicht vorgetragen. Dazu macht die Beklagte geltend, sie sei von dieser offenkundig auf Gerichtskunde beruhenden Begrenzung überrascht worden. Hätte das LSG seine Kenntnis in das Verfahren eingeführt, dann hätte sie Beweis dafür angetreten, daß der Kläger als Verwieger bzw als Wiegepförtner zB in der Auto- oder sonst in der Metallindustrie sowie in der Papierindustrie eingesetzt werden könne.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör iS der §§ 62, 128 Abs 2 SGG ist verletzt, wenn für eine vorhandene Gerichtskunde oder eine gerichtliche Tatsachenwürdigung bisher keine Hinweise vorhanden waren (vgl Bundessozialgericht - BSG - in SozR 1500 § 62 Nrn 11 und 20). Zu der Feststellung, eine Verweisungstätigkeit im außerknappschaftlichen Bereich sei nicht ersichtlich, ist das LSG ohne Beweisaufnahme gelangt; denn die bezüglich des Verwiegers durchgeführten Ermittlungen beschränkten sich auf derartige Arbeitsplätze im Rheinisch-Westfälischen Steinkohlenbergbau. Nur aufgrund eigener Sachkunde kann das Gericht zu der Erkenntnis gelangt sein, außerhalb des Steinkohlenbergbaus gebe es keine dem Verwieger 1 nach Art und Anforderungen vergleichbare Beschäftigung. Zu diesem Schluß zwingen die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils; denn das LSG hat einerseits den Kläger als fähig angesehen, die für zumutbar gehaltene Tätigkeit des Verwiegers 1 im Steinkohlenbergbau auszuführen, andererseits aber jede Einsatzmöglichkeit im außerknappschaftlichen Bereich innerhalb des zulässigen Verweisungsrahmens verneint. Von dieser Gerichtskunde ist die Beklagte überrascht worden. Das LSG hätte den Beteiligten, insbesondere der Beklagten vor seiner abschließenden Entscheidung Gelegenheit geben müssen, zu der beabsichtigten Tatsachenfeststellung, außerhalb des Bergbaus gebe es keine Verwieger oder die entsprechenden Arbeitsplätze seien nicht vergleichbar, Stellung zu nehmen. Das ist nicht geschehen. Auf dieser Verletzung des nach Art 103 Abs 1 GG geschützten und in den §§ 62, 128 Abs 2 SGG konkretisierten Anspruchs auf rechtliches Gehör kann das angefochtene Urteil beruhen, denn möglicherweise hätte die Beklagte durch ihren Vortrag und daraufhin durchgeführte Beweiserhebungen das Gericht vom Gegenteil überzeugt.
Schon wegen dieses Verfahrensmangels mußte das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Darüberhinaus hat die Beklagte eine weitere Verletzung des rechtlichen Gehörs gerügt, auf der die Entscheidung des LSG ebenfalls beruhen kann. Es hat ausgeführt, nach der Auskunft des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau seien über einen längeren Zeitraum von 10 Jahren Stellen für Verwieger 1 ausschließlich an eigene Angehörige der Betriebe vergeben worden. Die Arbeitgeber hätten somit von der an sich bestehenden Möglichkeit, derartige Stellen mit Betriebsfremden zu besetzen, keinen Gebrauch gemacht. Die Auskunft des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau sei als repräsentativ für den Steinkohlenbergbau im Bundesgebiet anzusehen. "Nach aller Erfahrung des Senats" unterschieden sich die Arbeitsbedingungen und die Personalpolitik in den Regionen des Steinkohlenbergbaus im Bundesgebiet kaum wesentlich voneinander.
Das LSG hat also die Auskunft des Unternehmensverbandes Ruhrbergbau, die auf einer Befragung der Mitglieder dieses Verbandes basiert, als repräsentativ für den gesamten Steinkohlenbergbau im Bundesgebiet angesehen. Dabei hat sich das Berufungsgericht ausdrücklich auf eigene Erfahrungen berufen, auf die die Beteiligten - soweit erkennbar - nicht vorher hingewiesen worden sind. Gestützt also auch auf diese Erfahrungen ist das LSG zu dem Schluß gelangt, der Arbeitsmarkt sei verschlossen, sofern ein Betriebsfremder sich um eine Anstellung als Verwieger 1 bemühe. Auf dieser Verletzung des rechtlichen Gehörs kann das angefochtene Urteil beruhen.
Wenn das LSG die Verhältnisse im Ruhrbergbau, dem mit Abstand größten Steinkohlenrevier des Bundesgebietes als repräsentativ für sämtliche Betriebe mit Verwieger 1-Stellen in der Bundesrepublik ansieht, so überschreitet es damit nicht die Grenzen des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung in § 128 Abs 1 Satz 1 SGG. Insoweit wird auf das ebenfalls die Verweisung auf Tätigkeiten eines Verwiegers 1 betreffende und zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom heutigen Tage in dem Rechtsstreit 5a RKn 16/86 verwiesen, in welchem sich die Verfahrensrügen der Beklagten auf den knappschaftlichen Bereich beschränkten. In beiden Fällen hat es das LSG von seinem Standpunkt aus nicht für erforderlich gehalten, für diesen Bereich eine weitere Sachaufklärung durchzuführen, weil es auf einschlägige eigene Erfahrungen zurückgreifen konnte. Das Gebot, den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren und das Verfahren fair zu gestalten, zwingt das Gericht, diese Sachkunde zu offenbaren und unter Berücksichtigung der daraufhin ggf erfolgenden Reaktionen seine Überzeugung zu gewinnen.
Die beiden vom erkennenden Senat am 20. August 1987 entschiedenen, vom Sachverhalt in materiell-rechtlicher Hinsicht gleichgelagerten Prozesse unterscheiden sich dadurch, daß derselbe Senat des LSG zunächst den Fall des Klägers entschieden hat. Im Unterschied zur späteren Entscheidung war die Beklagte bei diesem früheren Urteil noch von der Gerichtskunde überrascht worden, die das LSG mit zur Grundlage seiner Überzeugungsbildung gemacht hat. Auf die darin liegende Verletzung des rechtlichen Gehörs hätte die Beklagte im zeitlich später entschiedenen Rechtsstreit 5a RKn 16/86 angemessen reagieren können. Sie hätte Beweis dafür antreten können, daß die Verhältnisse im Ruhrbergbau zB sich nicht auf den Braunkohlen- oder Kalibergbau übertragen lassen und es dort möglicherweise zumutbare Verweisungstätigkeiten mit einem offenen Arbeitsmarkt gibt. Wegen der unvorhersehbaren Verletzung des rechtlichen Gehörs im Falle des Klägers konnten sachgerechte verfahrensrechtliche Reaktionen von der Beklagten nicht erwartet werden. Anders hätte sie dagegen in dem später von demselben Senat des LSG aufgrund der ihr inzwischen bekannten Gerichtskunde entschiedenen Fall handeln können. Aus der prinzipiellen Bindung des Revisionsgerichts an die tatrichterlichen Feststellungen, die nur dann nicht für das BSG maßgebend sind, wenn sie mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen werden, erklären sich die unterschiedlichen revisionsgerichtlichen Entscheidungen bei Sachverhalten, die von der materiell-rechtlichen Seite betrachtet die gleiche Ausgangslage haben.
Anders als im Rechtsstreit 5a RKn 16/86 mußte daher in Falle des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen