Leitsatz (amtlich)
1. Kriegsgefangenschaft iS des AVG § 28 Abs 1 Nr 1 ist ein Gewahrsam in feindlicher Gewalt wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband. Die eine Kriegsgefangenschaft auslösende Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband bestimmt sich allein nach BVG § 3. Vorschriften des Heimkehrer- und des Kriegsgefangenenentschädigungsrechts über die Kriegsgefangenschaft und den militärähnlichen Dienst finden im Rahmen des AVG § 28 Abs 1 Nr 1 keine Anwendung.
2. Die in AVG § 28 Abs 1 Nr 2 für die Anrechnung von Internierungszeiten als Ersatzzeiten verlangte Heimkehrereigenschaft muß dem Versicherten wegen der Internierung zukommen. Kriegsereignisse iS des HkG § 1 Abs 3 als Ursache solcher Internierungen sind nur Ereignisse, die unmittelbar mit der Kriegsführung zusammenhängen; dazu rechnen nicht der durch die Besetzung Deutschlands herbeigeführte Zustand und die späteren Maßnahmen der Besatzungsmächte. Der Ausschluß der Inlandsinternierungen in HkG § 1 Abs 3 ist nicht verfassungswidrig.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; BVG § 3 Fassung: 1950-12-20; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1965-06-09; HkG § 1 Abs. 3 Fassung: 1953-08-17
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. November 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die 1924 geborene Klägerin erhält seit November 1969 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Es ist streitig, ob dabei eine Haftzeit als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 AVG anzurechnen ist.
Die Klägerin war bis 30. April 1945 in Berchtesgaden als Stenotypistin beim Reichssicherheitsdienst (RSD) beschäftigt, der als selbständige Polizeibehörde des Reiches dem Schutze Hitlers, seiner Regierung und ihrer Gäste diente. Am 13. September 1945 hatte die amerikanische Besatzungsmacht die Klägerin nach einem Verhör ohne Angabe von Gründen in Haft genommen. Die in Lagern in Bayern vollzogene Haft hatte bis zum 17. Juli 1946 gedauert.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte zur Anrechnung der Zeit von Oktober 1945 bis Juli 1946 verurteilt (Urteil vom 9. August 1971). Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Klage dagegen aus folgenden Gründen abgewiesen (Urteil vom 14. November 1972, abgedruckt Breithaupt 1973, 207): Die Haftzeit sei keine Kriegsgefangenschaft i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG gewesen. Dieser Begriff sei entsprechend dem herkömmlichen völkerrechtlichen Verständnis so auszulegen wie in § 24 des Heimkehrergesetzes (HkG), dem Vorläufer der Vorschrift. § 1 Abs. 1 HkG verlange die Gefangennahme wegen Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband. Nach § 1 Satz 1 der Durchführungs-VO zum Heimkehrergesetz (DVO-HkG) gelte als Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband der Dienst bei nichtmilitärischen Organisationen und Dienststellen zu Zwecken der Unterstützung der Wehrmacht während des Krieges. Ihren Dienst als Stenotypistin beim RSD habe die Klägerin weder ausschließlich noch überwiegend zu solchen Zwecken geleistet. Daran könne Satz 2 Nr. 8 von § 1 DVO-HkG nichts ändern. Wenn es dort heiße, als Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband gelte insbesondere (Nr. 8) der Dienst in der Polizei, werde gleichwohl polizeilicher Dienst "zu Zwecken der Unterstützung der Wehrmacht während des Krieges" gefordert; dieser Zweck werde nicht unwiderlegbar vermutet. Ob die Bestimmungen des Kriegsgefangenentschädigungsgesetzes (KgfEG) den Begriff der Kriegsgefangenschaft in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG mitbeeinflussen könnten, bleibe dahingestellt; die Klägerin könne nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 dieses Gesetzes einem Kriegsgefangener gleichgestellt werden. Dafür fehle der ursächliche Zusammenhang des Gewahrsams mit einem Kriegsereignis; sie sei -viel leicht voreilig und grundlos - vorwiegend aus politischen Gründen inhaftiert worden (§ 1 Abs. 2 der 3. DVO zum KgfEG). Die Anrechnung als Internierungszeit i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG scheitere daran, daß die Klägerin kein Heimkehrer i. S. des § 1 HkG sei; nach dessen Absatz 1 komme ihr mangels Kriegsgefangenschaft diese Eigenschaft nicht zu; § 1 Abs. 2 HkG sei, auch nach den Behauptungen der Klägerin, schon vom Tatbestand her nicht erfüllt.
Das LSG hat die Revision zugelassen, weil die Auslegung des § 1 Satz 2 DVO - HkG eine Rechtsfrage von grundsätzliche Bedeutung betreffe.
Mit der Revision beantragt die Klägerin,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit von Oktober 1945 bis Juni 1946 als Ersatzzeit anzurechnen.
Sie rügt in erster Linie eine unrichtige Auslegung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG iVm § 1 Abs. 1 HkG und § 1 DVO-HkG. Sie habe sich in Kriegsgefangenschaft befunden, weil der Dienst beim RSD ein militärähnlicher Dienst und Ursache ihrer Haft gewesen sei. Dem LSG stimmt sie darin zu, den militärähnlichen Dienst nicht nach den Vorschriften des BVG sondern denen des Heimkehrerrechts zu bestimmen. Bei der gebotenen weiten Auslegung komme es jedoch nicht darauf an ob die Leistung der in § 1 Satz 2 Nr. 1 bis 10 DVO-HkG bezeichneten Dienste, hier bei der Polizei (Nr. 8), auch im Einzelfall die Unterstützung der Wehrmacht bezweckt habe; der Gesetzgeber habe auf die erhöhte Gefahr der Gefangennahme bei solchen Dienstleistungen abgestellt. Zudem erfülle sie alle Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 a KgfEG. Das LSG habe unter Verletzung der §§ 103, 128 SGG kurzerhand aus dem Zeitpunkt der Verhaftung auf politische Gründe geschlossen und zu Unrecht einen ursächlichen Zusammenhang mit Kriegsereignissen verneint; es hätte sich über die allgemeine Behandlung des RSD informieren und den Sachverhalt näher klären müssen. Hilfsweise rügt die Klägerin Rechtsfehler bei der Auslegung des § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG. Abgesehen davon, daß sie Heimkehrer nach § 1 Abs. 1 HkG sei, habe das LSG ihre Heimkehrereigenschaft nach § 1 Abs. 3 HkG nicht geprüft; Kriegsereignisse i. S. dieser Vorschrift seien entgegen der Meinung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) auch Maßnahmen der Besatzungsmächte nach Abschluß der Kampfhandlungen; daß § 1 Abs. 3 HkG Internierungen in der Bundesrepublik nicht mit einbeziehe, sei mit Art. 3 Grundgesetz (GG) unvereinbar.
Die Klägerin weist daraufhin, daß sie bei Anrechnung der Haftzeit als Ersatzzeit auch die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Zurechnungszeit (Halbbelegung) erfülle.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Das LSG hat im Ergebnis zu Recht eine Kriegsgefangenschaft i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG verneint. Die Rechtsprechung des BSG hat bereits klargestellt, daß dieser im Gesetz nicht erläuterte Begriff im völkerrechtlichen Sinne zu verstehen ist (SozR Nr. 25 und 47 zu § 1251 RVO). Kriegsgefangenschaft i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG ist danach ein Gewahrsam in feindlicher Gewalt wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband. Das LSG hat allerdings offengelassen, ob Kriegsgefangenschaft darüber hinaus noch bei dem Personenkreis des § 2 Abs. 2 KgfEG (Neufassung vom 2.9.1971, BGBl I S. 1545) anzuerkennen ist. Das ist zu verneinen. In § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG wird nicht auf das KgfEG Bezug genommen; es ist daher nicht zulässig, auch Personen einzubeziehen, die nach § 2 Abs. 2 KgfEG nur "als Kriegsgefangene i. S. dieses Gesetzes - KgfEG gelten" (vgl. SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO; Koch/Hartmann, AVG, § 28 B I 2 d). Ob die Klägerin die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 (Nr. 1 a) KgfEG erfüllt, ist somit unerheblich.
Nicht folgen kann der Senat der Auffassung, daß sich die - eine Kriegsgefangenschaft auslösende - Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband nach § 1 DVO-HkG (vom 13.7.1950, BGBl I 327) bestimmt. Maßgebend ist vielmehr die Abgrenzung des militärähnlichen Dienstes in § 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Das folgt aus Entstehung, Zusammenhang und Sinn des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Soweit diese Vorschrift die Kriegsgefangenschaft betrifft, hat sie zwar § 24 HkG als Vorläufer; § 24 HkG ist jedoch nicht der einzige Vorläufer (Koch/Hartmann aaO und 2. Aufl., Anm. B 6 zu §§ 31 AVG, 1263 RVO aF; Verbandskommentar, § 1251 RVO, Anm. 1 und 14); im übrigen wurde in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG für die Kriegsgefangenschaft die Verknüpfung mit der Heimkehrereigenschaft und damit dem HkG bewußt gelöst (Jantz/Zweng, Rentenversicherung S. 93 zu § 1251 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S. 674 h). Jetzt enthält § 28 Abs. 1 Nr. 1 nur noch Bezugnahmen auf das BVG; sie beziehen sich im Wortlaut zwar auf die Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes selbst; es wäre aber nicht verständlich, für eine anschließende Kriegsgefangenschaft den sie auslösenden militärischen oder militärähnlichen Dienst nach anderen Vorschriften als den §§ 2 und 3 BVG zu bestimmen. Das widerspräche dem mit dem § 1251 RVO, § 28 AVG verfolgten Bestreben, in den Sozialgesetzen (hier: BVG und Rentenversicherungsgesetze) eine Übereinstimmung der Personenkreise und eine Rechtsvereinfachung zu erreichen (Begründung des Regierungsentwurfs, vgl. Verbandskommentar 6. Aufl., § 1251 RVO, Anm. 1). Aber auch vom Sinn des § 28 AVG, Ersatz für Beitragsausfall zu gewähren, ist nur eine Auslegung vertretbar, welche die Zugehörigkeit zu militärischen oder militärähnlichen Verbänden gleich versteht, einerlei, ob die Dienstzeit selbst oder die spätere Gefangenschaft als Ersatzzeit in Rede steht.
Hiervon ausgehend kann die Haftzeit der Klägerin keine Kriegsgefangenschaft i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG sein, weil in § 3 BVG weder der Dienst im RSD noch allgemein der Dienst in der Polizei als militärähnlicher Dienst anerkannt wird. Ob eine Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband i. S. des § 1 Satz 2 (Nr. 8) DVO-HkG besteht, ist deshalb nicht zu prüfen. Das gilt auch mit Rücksicht auf Art. 2 § 9 AnVNG; selbst wenn die Haftzeit als Kriegsgefangenschaft i. S. des HkG (§§ 1, 24) zu werten wäre, könnte sie als Ersatzzeit alten Rechts nach Art. 2 § 9 AnVNG nur bei der Wartezeit, nicht aber bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden (SozR Nr. 8 zu § 1258 RVO und Nr. 1 zu § 11 VuVO).
Die Haftzeit ist ferner keine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 2 AVG. Unter diese Vorschrift fallen die Zeiten der Internierung, wenn der Versicherte Heimkehrer i. S. des § 1 HkG ist. Dem Versicherten muß dabei die Heimkehrereigenschaft wegen der Internierung zukommen (SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO; Brackmann aaO S. 675). Deshalb ist hier allein § 1 Abs. 3 HkG maßgebend. Danach gelten als Heimkehrer ua Deutsche, die im ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegsereignissen außerhalb der Bundesrepublik und des Landes Berlin interniert worden sind (die andere Alternative kommt hier nicht in Betracht). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin nicht erfüllt. Kriegsereignisse iS des § 1 Abs. 3 HkG - und desgleichen iS des § 2 Abs. 2 Nr. 1 KgfEG - sind nach der ständigen Rechtsprechung des BVerwG, die der Senat für zutreffend hält (BVerwG 5, 64, 67; 6, 232; 13, 312, 315; 16, 252, 253; 36, 86, 88), nur Ereignisse, die unmittelbar mit der Kriegsführung zusammenhängen. Dazu rechnen nicht der durch die Besetzung Deutschlands herbeigeführte Zustand und die späteren Maßnahmen der Besatzungsmächte. Das LSG hat kein unmittelbar mit der Kriegsführung zusammenhängendes Ereignis festgestellt, das für die Haftzeit ursächlich gewesen sein könnte. Die Verfahrensrügen der Klägerin lassen keine Verletzung der §§ 103, 128 SGG erkennen; es fehlen Ausführungen, die auf ein die Klägerin betreffendes konkretes Kriegsereignis hindeuten. Davon abgesehen setzt § 1 Abs. 3 HkG Internierungen außerhalb der Bundesrepublik und des Landes Berlin voraus. Diese gebietsmäßige Abgrenzung ist entgegen der Auffassung der Klägerin nicht verfassungswidrig. Das hat bereits der 1. Senat des BSG entschieden (Urteil vom 3.5.1968, 1 RA 73/67); weil es sich bei den Internierungen innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik um unterschiedlich regelbare Sachverhalte handele. Im Erlaß des Bundesarbeitsministers vom 25. Juli 1958, BABl 1958 417, wird der Ausschluß der Inlandsinternierungen mit dem Bestreben begründet, die Fälle des sog. automatischen Arrestes auszuschließen. Auch dieser Grund rechtfertigt die Differenzierung. Das gilt gerade für den Fall der Klägerin, in dem nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG ebenfalls politische Gründe für die Inhaftierung (Festnahme und Festhaltung) maßgebend gewesen sind. Das LSG war der Überzeugung, daß die Klägerin als hauptamtliche Mitarbeiterin des RSD von der Besatzungsmacht zunächst einmal als politisch belastet angesehen wurde. Mit ihren Inhaftierungen (dem automatischen Arrest) wollte die Besatzungsmacht aber ua umfangreiche politische Überprüfungen ermöglichen (BVerwG 9, 102, 104).
Das BSG hat in SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO dargelegt, daß § 1251 RVO - und das gilt auch für § 28 AVG - keine Lücke enthält, soweit danach Inlandsinternierungen aus politischen Gründen (Zeiten des automatischen Arrestes) nicht den Ersatzzeiten zugerechnet werden.
Hiernach ist die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen