Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Januar 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der am 16. Februar 1906 geborene Kläger war bis zum Beginn des letzten Krieges als Bankangestellter beschäftigt. Nach Kriegsausbruch war er zunächst bei der Wehrmacht, dann beim Zollgrenzschutz und zuletzt wieder bis zum 2. Mai 1944 bei der Wehrmacht. Mit Verfügung vom 4. Mai 1944 wurde er zum langfristigen Notdienst (§ 1 der Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938 – RGBl I 1441) herangezogen und dem Chef der Sicherheitspolizei und des SD der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Stuttgart, zur Dienstleistung zugewiesen, wo er zuletzt den Rang eines „Staffel-Unterscharführers auf Kriegsdauer” bekleidete. Anschließend befand er sich noch kurze Zeit bei der Kriminalpolizeidienststelle Backnang. Nach deren Auflösung begab er sich nach Waiblingen. Dort wurde er am 20. Juni 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht festgenommen. In der Folgezeit wurde er in verschiedenen Lagern, u. a. in Aldingen, Moosburg und Ludwigsburg, festgehalten, bis er am 24. September 1947 entlassen wurde.
Bei der Berechnung seines Altersruhegeldes rechnete die Beklagte u. a. eine Ersatzzeit vom 1. Mai 1940 bis 8. Mai 1945 und dann wieder Pflichtbeiträge vom 15. November 1947 an, während sie die Zwischenzeit vom 1. Juni 1945 bis 14. November 1947 unberücksichtigt ließ. Hiergegen erhob der Kläger Klage mit der Begründung, er sei allein aufgrund seines militärähnlichen Notdienstes gefangen gehalten worden und habe sich deshalb in Kriegsgefangenschaft im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) befunden. Er beantragte, die Zeit vom 20. Juni 1945 bis 24. September 1947 als Ersatzzeit rentensteigernd anzurechnen. Diese Klage wies das Sozialgericht (SG) Stuttgart durch Urteil vom 1. März 1972 ab. Die hiergegen eingelegte Berufung blieb erfolglos.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg war in seinem Urteil vom 29. Januar 1974 ebenfalls der Auffassung, der Begriff der Kriegsgefangenschaft in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG sei nicht entsprechend § 2 der Neufassung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes (KgfEG) vom 2. September 1971 (BGBl I 1545), sondern völkerrechtlich zu verstehen. Danach liege Kriegsgefangenschaft nur vor, wenn jemand wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband in die Gewalt des Feindes geraten sei. Hieran habe es beim Kläger gefehlt. Zwar sei dem SG nicht darin zu folgen, daß eine Kriegsgefangenschaft schon deshalb nicht in Betracht komme, weil der Kläger erst nach der Einstellung der Feindseligkeiten festgenommen worden sei. Die gesamten Umstände sprächen jedoch dafür, daß er wegen seiner Tätigkeit bei der Gestapo verhaftet und festgehalten worden sei. Der Kläger gebe dies auch selbst zu, wenn er angebe, seine Festnahme gehe auf eine Denunziation zurück. Die Angehörigen der Gestapo seien nach den späteren Vorschriften des Alliierten Kontrollrates für Deutschland und der Amerikanischen Militärregierung (Kontrollratsdirektiven Nr. 24 vom 12. Januar 1946 und Nr. 38 vom 12. Oktober 1946) besonderen Maßnahmen unterworfen worden. Daß der Kläger, wie später auch im Spruchkammerverfahren festgestellt worden sei, als Dolmetscher zum technischen Büropersonal gehört habe und daher nicht unter den von dem Württembergisch-Badischen Landesgesetz Nr. 104 „zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus” vom 5. März 1946 (Regierungsblatt Württemberg-Baden 1946, 71 ff) betroffenen Personenkreis gefallen sei, ändere nichts daran, daß er zunächst wegen des Verdachtes der Zugehörigkeit zur Gestapo festgenommen und festgehalten worden sei.
Dafür spreche nicht zuletzt der Umstand, daß die im Gesetz vom 5. März 1946 enthaltene Unterscheidung zwischen eigentlichen Angehörigen einer Organisation und dem technischen Büropersonal in den Vorschriften der Besatzungsmächte nicht enthalten gewesen sei. Erst recht sei nicht kurz nach der Kapitulation nach dieser Unterscheidung verfahren worden. Die Behauptung des Klägers, er sei aus militärischen Gründen festgehalten worden, müsse deshalb als widerlegt angesehen werden. Wenn er nach seinen Angaben zeitweise mit Kriegsgefangenen zusammen festgehalten worden sei, so stehe dies seiner Verhaftung und Festhaltung aus anderen Gründen nicht im Wege. Es sei allgemein und gerichtsbekannt, daß eine säuberliche Trennung der verschiedenen Personengruppen insbesondere in der ersten Zeit nach der Kapitulation nicht immer erfolgt sei. Eine Gesetzeslücke, die vom Senat ausgefüllt werden könne, bestehe nicht. Daraus, daß der Gesetzgeber den § 28 Abs. 1 AVG in Kenntnis der Probleme der nach Kriegsende zu Unrecht inhaftierten Personen formuliert habe, müsse geschlossen werden, daß er diesen Personenkreis bewußt nicht habe aufnehmen wollen. Die Zeit der Internierung könne schließlich auch nicht nach anderen Vorschriften als Ersatzzeit angerechnet werden.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 29. Januar 1974 sowie das Urteil des SG Stuttgart vom 1. März 1972 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung ihres Bescheides vom 8. Februar 1971 zu verurteilen, ihm ein höheres Altersruhegeld zu gewähren und dabei die Zeit vom 20. Juni 1945 bis 24. September 1947 als Ersatzzeit anzurechnen.
Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG. Dieser sei weniger nach den Grundsätzen des Völkerrechts oder ähnlichen Vorschriften auszulegen, sondern vor allem nach seinem Sinn und Zweck. Eine derartige teleologische Untersuchung habe das LSG aber nicht angestellt, vielmehr zu Unrecht den Schutzzweck der Norm so eingeschränkt, daß der Kläger zu Unrecht hiervon ausgenommen worden sei. Im übrigen könne eine etwaige Unklarheit über den wahren Rechtsgrund der Festnahme nicht zu Lasten des Klägers gehen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
da der sog. automatische Arrest nach dem Gesetz und der dazu ergangenen Rechtsprechung keine Ersatzzeit darstelle.
II.
Die Revision ist nicht begründet.
Nach den Feststellungen des LSG läßt sich nicht nachweisen, daß der Kläger wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnliehen Verband als Kriegsgefangener festgehalten worden sei; vielmehr ist er wegen seiner Tätigkeit bei der Gestapo inhaftiert gewesen. Hieran ist der Senat nach § 163 SGG gebunden, da in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht sind.
Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Zeit, in der ein Versicherter nach 1945 von einer der drei westlichen Besatzungsmächte aus politischen Gründen, d. h. auf Grund der damaligen Entnazifizierungsvorschriften, im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik in Gewahrsam gehalten wurde (sogenannter automatischer Arrest), keine Ersatzzeit nach § 1251 RVO (vgl. SozR Nr. 47 zu § 1251 RVO). Insbesondere ist Kriegsgefangenschaft i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG (= § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO) nur ein Gewahrsam in feindlicher Gewalt wegen der Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband. Die eine Kriegsgefangenschaft auslösende Zugehörigkeit zu einem militärähnlichen Verband bestimmt sich allein nach § 3 BVG. Die Vorschriften des Heimkehrer- und des Kriegsgefangenenentschädigungsrechts über die Kriegsgefangenschaft und den militärähnlichen Dienst finden im Rahmen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG keine Anwendung. Das ist bereits vom 11. Senat des BSG eingehend und erschöpfend in BSG 36, 171 ff ausgeführt. Von dieser Rechtsprechung abzuweichen, besteht kein Anlaß. Mit Recht ist ihr das LSG gefolgt.
Nach der Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten (BT-Drucks. II/2437 S. 71) sollte der neue § 1256 RVO (jetzt § 1251 RVO und § 28 AVG) die in den verschiedenen Sondergesetzen enthaltenen Ersatzzeitenregelungen zusammenfassen. Davon wurde auch § 24 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (HkG) vom 19. Juni 1950 (BGBl I 221) erfaßt, wonach die Zeiten der Kriegsgefangenschaft (§ 1 Abs. 1 und 2 HkG) und der Internierung (§ 1 Abs. 3 HkG) in den Rentenversicherungen als Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit und die Erhaltung der Anwartschaft galten. Das HkG vom 19. Juni 1950 stammte noch aus der Zeit vor der Beendigung des Besatzungsregimes für die Bundesrepublik Deutschland durch den sogenannten Überleitungsvertrag (Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten) vom 26. Mai 1952 idF des „Pariser Protokolls” über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Oktober 1954 (vgl. die Bekanntmachung vom 30. März 1955 – BGBl II 301 ff –), der am 5. Mai 1955 in Kraft getreten ist (BGBl II 628). In § 1 Abs. 3 HkG ist aber bewußt eine Zivilinternierung, die im Bundesgebiet stattgefunden hat, nicht für ausreichend erachtet worden, um zur Anerkennung als Heimkehrer zu führen, vielmehr muß es sich um eine solche handeln, die im „Ausland” (ursprüngliche Fassung) bzw. „außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin” (spätere Fassung) stattgefunden hat. Damit sollten die Fälle des sogen. automatischen Arrestes in der Bundesrepublik von den Vergünstigungen des HkG ausgeschlossen werden (Draeger, Heimkehrer-Recht, 2. Aufl. 1953 S. 117). Nur in Fällen unbilliger Härte konnten Ausnahmen nach § 28 a HkG zugelassen werden. Die Gründe hierfür sind offensichtlich. Die Unterzeichnung des HkG konnte erst erfolgen, nachdem die Alliierte Hohe Kommission keinen Einspruch erhoben hatte (vgl. Draeger, Heimkehrer-Recht nach dem Stande vom 15. Juni 1956, Aufl. 1956 S. 5). Die Militärregierungen hätten keine Notwendigkeit dafür anerkannt, daß den von ihnen aus politischen Gründen in der Bundesrepublik Deutschland Inhaftierten ganz allgemein die Vergünstigungen des Heimkehrer-Rechts gewährt wurden. Wie bereits im Erlaß des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 25. Juli 1958, Bundesarbeitsblatt 1958, 417, ausgeführt ist, entsprach der Ausschluß der vom sogenannten automatischen Arrest Betroffenen von den Vergünstigungen des § 1251 RVO somit dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers bei Erlaß der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze im Jahre 1957. Hätte er eine Änderung eintreten lassen wollen, so wäre dies durch eine entsprechende gesetzliche Maßnahme geschehen.
An dieser historischen Entwicklung scheitert die von der Revision gewünschte „teleologische Gesetzesinterpretation”. Der Ausschluß der Zeiten der Zivilinternierung von der Anrechenbarkeit als Ersatzzeit ohne Rücksicht darauf, ob sie berechtigt war oder nicht, war vom Gesetz beabsichtigt. Er kann nicht dadurch umgangen werden, daß § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG erweiternd ausgelegt wird. An diese bestehende gesetzliche Regelung sind die Gerichte gebunden.
Der von der Revision noch geltend gemachte Verstoß gegen Vorschriften des Grundgesetzes liegt nicht vor. Die Anrechnung von Ersatzzeiten beruht nicht auf einer eigenen Beitragsleistung. Der Gesetzgeber war und ist nicht verpflichtet, jede Inhaftierung aus politischen Gründen durch Zubilligung einer entsprechenden Ersatzzeit in der Rentenversicherung zu entschädigen. Deshalb hat es der Senat z. B. auch abgelehnt, bei einem Deutschen, der aus politischen Gründen von 1934 bis 1937 in Litauen inhaftiert war, eine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 5 AVG anzunehmen (vgl. BSG 35, 99).
Somit war die Revision mit der Kostenfolge aus § 193 SGG als unbegründet zurückzuweisen.
Unterschriften
Dr. Wannagat, Burger, Dr. Schubert
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 22.11.1974 durch Hoppe Amtsinspektor als Urk. Beamter der Gesch.Stelle
Fundstellen