Leitsatz (amtlich)
Eine Rentenantragstellerin, die in West-Berlin wohnt und über ihren in der DDR berufstätigen Ehemann bei einem dortigen Krankenversicherungsträger familienversichert ist, hat im Falle der Ablehnung ihres - bei der LVA Berlin gestellten - Rentenantrags die Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner selbst zu tragen.
Leitsatz (redaktionell)
Befreiung von der Beitragspflicht nach RVO § 381 Abs 3 S 2 Nr 3:
Rentenantragsteller sind nur dann von der Beitragspflicht nach RVO § 381 Abs 3 S 2 Nr 3 befreit, wenn bei der für sie zuständigen Krankenkasse (RVO § 257a Abs 1 S 3) ohne die Versicherung nach RVO § 165 Abs 1 Nr 3 beziehungsweise RVO § 315a ein Anspruch auf Familienkrankenpflege bestände.
Normenkette
RVO § 381 Abs. 3 S. 2 Nr. 3 Fassung: 1969-07-27; BGB § 242; RVO § 165 Abs. 6 Fassung: 1967-12-21, § 257a Abs. 1 S. 3 Fassung: 1967-12-21, § 165 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1967-12-21, § 315a Fassung: 1967-12-21
Tenor
Auf die Revision der beklagten Krankenkasse werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 17. Januar 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Januar 1972 aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. Juli 1971 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. August 1971 wird abgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin, die in West-Berlin wohnt, beantragte am 12. Juni 1971 bei der Landesversicherungsanstalt B Rente wegen Berufsunfähigkeit. Nach endgültiger Ablehnung des Rentenantrags (Bescheid vom 7. September 1971) forderte die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse B von der Klägerin für die Zeit vom 12. Juni bis zum 31. Oktober 1971 Beiträge zur Krankenversicherung der Rentner (KVdR).
Die Klägerin bestreitet ihre Beitragspflicht: Sie sei über ihren Ehemann, einen bei der Deutschen Reichsbahn der DDR beschäftigten Lokomotivführer, bei einem Versicherungsträger der DDR (SVK Eisenbahn) familienversichert; nach § 381 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien Rentenbewerber, die ohne die Zugehörigkeit zur KVdR Anspruch auf Familienkrankenpflege hätten, von der Zahlung von KVdR-Beiträgen befreit. Die Beklagte hält die genannte Vorschrift nur für anwendbar, wenn der Familienhilfeanspruch bei einem hiesigen Versicherungsträger bestehen würde.
Das Sozialgericht (SG) ist der Auffassung der Klägerin beigetreten. Das Landessozialgericht (LSG) hat zwar die fragliche Vorschrift mit der Beklagten im Falle der Klägerin nicht für anwendbar gehalten, aber die Beitragsforderung der Beklagten gleichwohl als unbegründet angesehen: Treu und Glauben verböten der Beklagten, von der Klägerin Beiträge zu fordern, nachdem sie die - bei einem Versicherungsträger der DDR bestehende - Krankenversicherung ihres Ehemannes als eine Versicherung "nach anderen gesetzlichen Vorschriften" (§ 165 Abs. 6 RVO) anerkannt und ihn deshalb nicht zu KVdR-Beiträgen wegen seines eigenen Rentenantrags herangezogen habe (Urteil vom 17. Januar 1973).
Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt und geltend gemacht: Der Fall der Klägerin sei mit dem ihres Ehemannes nicht vergleichbar; während für ihn ein Versicherungsträger der DDR zuständig sei, sei die Klägerin bei der Beklagten versichert gewesen und hätte deren Leistungen in Anspruch nehmen können; dafür müsse sie auch Beiträge zahlen, da die Beklagte nicht, wie § 381 Abs. 3 Nr. 3 RVO voraussetze, die Familienhilfekasse der Klägerin sei. Im übrigen hätten die Gerichte auch nach dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht die Befugnis, eine gesetzliche Rechtsfolge durch eine vermeintlich "angemessenere" zu ersetzen. Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidungen die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen: Sie sei während der fraglichen Zeit bei einem Versicherungsträger der DDR umfassend versichert gewesen und habe auch keine Leistungen der Beklagten in Anspruch genommen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ist der angefochtene Beitragsbescheid rechtmäßig; die Klägerin hat für die fragliche Zeit (12. Juni bis 31. Oktober 1971) KVdR-Beiträge an die Beklagte zu zahlen.
Nach § 315a RVO sind Personen, die - wie die Klägerin - eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter beantragt haben, ohne die Voraussetzungen für den Bezug der Rente zu erfüllen, bis zum Ablauf des Monats, in dem die Ablehnung des Rentenantrags endgültig geworden ist (hier: bis Ende Oktober 1971), Mitglieder der nach § 257a RVO zuständigen Krankenkasse. Die Versicherungsbeiträge haben sie nach § 381 Abs. 3 Satz 2 RVO allein zu tragen, sofern nicht eine der dort genannten Ausnahmen vorliegt, von denen hier nur die Nr. 3 in Betracht kommt: Danach sind Rentenbewerber von der Beitragszahlung befreit, wenn ohne die Versicherung nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO - oder die ihr gleichzustellende nach § 315a RVO - Anspruch auf Familienkrankenpflege bestände; dann soll nämlich die Krankenkasse, die sonst Familienkrankenpflege hätte gewähren müssen, ohne daß ihr dafür besondere Beiträge zugeflossen wären, auch die im wesentlichen gleichartigen Leistungen der KVdR beitragsfrei erbringen (§ 257a Abs. 1 Satz 3 RVO). Eine Beitragsbefreiung nach § 381 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 RVO setzt mithin voraus, daß eine Krankenkasse, die ohne das Eintreten der KVdR als Familienhilfekasse nach § 205 RVO leistungspflichtig gewesen wäre, die Durchführung der KVdR übernimmt (SozR Nr. 33 zu § 381 RVO).
Eine solche Kasse ist der für den Ehemann der Klägerin zuständige Versicherungsträger in der DDR nicht, selbst wenn seine Leistungen nach Art und Umfang denen der Familienkrankenpflege nach § 205 RVO entsprechen sollten. Der Bundesgesetzgeber hat dem Versicherungsträger in der DDR nicht die Durchführung der KVdR nach § 257a RVO übertragen können, weil er damit die territorialen Grenzen der eigenen Staatsgewalt überschritten hätte (vgl. BSG 32, 174, 175). War aber für die Klägerin ein nach § 257a Abs. 1 Satz 3 RVO zuständiger Versicherungsträger nicht vorhanden, dann konnte wegen des untrennbaren Zusammenhangs dieser Zuständigkeitsvorschrift mit der Beitragsbefreiung nach § 381 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 RVO auch letztere im Falle der Klägerin nicht Platz greifen. Zuständig war für ihre KVdR vielmehr, wie auch das LSG richtig erkannt hat, die Beklagte als die für den Wohnort der Klägerin zuständige Ortskrankenkasse (§ 257a Abs. 4 RVO). Da diese aber der Klägerin ohne den Eintritt der KVdR keine (beitragsfreie) Familienhilfe zu leisten gehabt hätte, brauchte sie auch die KVdR nicht beitragsfrei zu gewähren.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, auf den das LSG seine Entscheidung gestützt hat. Die im bürgerlichen Recht (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -) dem Schuldner auferlegte Verpflichtung, seine Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben es erfordern - entsprechend hat sich der Gläubiger bei Ausübung seiner Rechte zu verhalten -, gilt zwar als ungeschriebener Rechtsgrundsatz auch im öffentlichen Recht, insbesondere für die Versicherungsträger bei Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten und der Geltendmachung ihrer Ansprüche. Im vorliegenden Fall verstößt die Heranziehung der Klägerin zu den streitigen Versicherungsbeiträgen jedoch nicht gegen Treu und Glauben. Sie ist namentlich für sie keine "unzumutbare Härte", wie das LSG meint. Wenn die Klägerin - auch nach Ansicht des LSG - während der fraglichen Zeit bei der Beklagten versichert war, bei ihr also vollen Versicherungsschutz genoß, der nicht an die Stelle einer beitragsfreien Familienversicherung trat, dann konnte die Beklagte für die Gewährung des Versicherungsschutzes ein Äquivalent in Gestalt von Beiträgen erwarten. Daß die Klägerin diesen Schutz nicht in Anspruch nahm und dafür wegen ihrer Mitversicherung bei ihrem Ehemann persönlich kein Bedürfnis zu haben glaubte, ändert nichts. Andere Rentenbewerber in vergleichbarer Lage könnten durchaus Wert auf eine Versicherung bei einem in West-Berlin ansässigen Versicherungsträger legen, zumal sie diese Versicherung bei einem Erfolg des Rentenantrags (mit dem die Antragsteller in der Regel rechnen werden) wirtschaftlich nicht belastet. Sie könnten deshalb den Ausschluß aus der KVdR mit Recht als eine Benachteiligung gegenüber anderen Personen ansehen, die - wie sie - eine Rente bei einem Berliner oder bundesdeutschen Versicherungsträger beantragt haben.
Nicht beitreten kann der Senat dem LSG ferner darin, daß die Beklagte sich mit der Erhebung der streitigen Beitragsforderung in Widerspruch zu ihrem eigenen früheren Verhalten gesetzt habe, als sie nämlich die Versicherung des Ehemanns der Klägerin bei einem Versicherungsträger der DDR als eine Versicherung "nach anderen gesetzlichen Vorschriften" (§ 165 Abs. 6 RVO) anerkannt und ihn deshalb als versicherungsfrei in der KVdR angesehen habe. Ob dieses Vorgehen der Beklagten rechtmäßig war, ist hier nicht zu entscheiden. Jedenfalls ergab sich daraus nicht, wie das LSG meint, die "notwendige Konsequenz", nunmehr auch die Klägerin, die ja im Gegensatz zu ihrem von der Beklagten als versicherungsfrei angesehenen Ehemann bei der Beklagten versichert war, beitragsfrei zu lassen. Ein widersprüchliches Verhalten der Beklagten (i.S. eines venire contra factum proprium) liegt mithin nicht vor.
Da die Beitragsforderung der Beklagten nach allem zu Recht besteht, hat der Senat die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Klage gegen den angefochtenen Beitragsbescheid abgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen