Orientierungssatz

Zur Klärung der Frage, ob nach den einschlägigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen das angeschuldigte Ereignis die wahrscheinliche Ursache des bestehenden Gesundheitsschadens ist, hat sich das Gericht des Urteils fachkundiger Sachverständiger zu bedienen. Maßgebend ist hierfür grundsätzlich die herrschende medizinische Lehrmeinung, soweit sie sich auf gesicherte Erkenntnisse stützen kann. Andererseits ist es nicht Aufgabe des Gerichts, sich mit voneinander abweichenden medizinischen Lehrmeinungen im einzelnen auseinanderzusetzen und darüber zu entscheiden, welche von ihnen richtig ist. Das Gericht überschreitet jedoch die Grenzen seines Rechtes, die Beweise frei zu würdigen, wenn es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe in medizinischen Fragen über die Beurteilung ärztlicher Gutachter hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Januar 1977 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Netzhautablösung des Klägers auf dem linken Auge die Folge eines Arbeitsunfalles ist.

Der 1914 geborene Kläger erlitt am 20. August 1971 einen landwirtschaftlichen Arbeitsunfall. Als er mit dem Traktor eine Straßenrinne überfuhr, schlug er mit dem Kopf gegen das eiserne Gestänge des Führerhauses und zog sich dabei eine Beule am Kopf zu. Er hatte einige Tage Kopfschmerzen. Außerdem trat eine Verschlechterung des Sehvermögens auf dem linken Auge ein; auf dem rechten Auge ist der Kläger seit seiner Kindheit blind. Am 24. August 1971 stellte der Augenarzt Dr. F eine Netzhautveränderung am linken Auge fest, die er für unfallbedingt hielt. Am 31. August 1971 wurde in der Universitätsaugenklinik M eine Bulbusumschnürung vorgenommen, woraufhin sich die Netzhaut wieder anlegte und der Kläger am 20. September 1971 entlassen wurde. Am 16. November 1971 wurde der Kläger erneut wegen einer wiederum aufgetretenen Netzhautablösung in die Universitätsaugenklinik M aufgenommen und am 24. November 1971 zum zweiten Mal operiert. Bei der Entlassung am 8. Dezember 1971 lag die Netzhaut wieder überall an; die Sehschärfe des linken Auges blieb jedoch eingeschränkt.

Nachdem Prof. Dr. G von der Universitätsaugenklinik M einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Netzhautablösung verneint hatte, lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab (Bescheid vom 12. April 1972). Das Sozialgericht (SG) hat ein Gutachten von ... Dr. E und eine Stellungnahme hierzu von Prof. Dr. G herangezogen, sowie Zeugen zu den Einzelheiten des Unfallherganges, der Unfallverletzung und der danach aufgetretenen Beschwerden vernommen. Mit Urteil vom 21. März 1974 hat es die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen des Zustandes nach Netzhautablösung Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) weitere Gutachten von Prof. Dr. B/Dr. S (Universitätsaugenklinik Bonn) sowie Oberarzt Dr. F und Dr. W (Universitätsaugenklinik H/Saar) eingeholt. Mit dem angefochtenen Urteil vom 26. Januar 1977 hat es sodann das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Dem Unfallereignis könne weder für die Entstehung noch für eine Verschlimmerung der am linken Auge des Klägers aufgetretenen Netzhautablösung iS einer mitwirkenden Ursache wesentliche Bedeutung beigemessen werden. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit sei vielmehr als wesentliche Ursache allein die Disposition des Klägers anzusehen. Netzhautablösungen träten in der Regel ohne äußere Einwirkungen schicksalsmäßig auf. Durch einen Unfall könnten sie nur dann entstehen oder bei vorhandener Disposition vorzeitig ausgelöst dh verschlimmert werden, wenn eine äußere Einwirkung nachgewiesen sei, die nach Art und Schwere geeignet war, eine Netzhautablösung zu verursachen. Das sei nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft und der sozialgerichtlichen Rechtsprechung nur dann der Fall, wenn eine direkte Einwirkung auf den Augapfel, etwa mit deutlich sichtbaren Verletzungszeichen wie Bindehautblutung, Vorderkammerblutung, Linsenluxation und dergleichen nachweisbar sei. Die Frage des Ursachenzusammenhangs zwischen indirektem Trauma und Netzhautablösung werde in der medizinischen Wissenschaft unterschiedlich beurteilt. Während einzelne Gutachter, wie zB Prof. Dr. G, einen solchen Zusammenhang grundsätzlich ablehnten, werde von anderen die Auffassung vertreten, ein indirektes Trauma könne zwar am gesunden Auge eine Netzhautablösung nicht herbeiführen, bei einem disponierten Auge sei dies jedoch möglich. Nach einer sogenannten Mittelmeinung könnten indirekte Traumen und Erschütterungen nur dann als Ursache von Netzhautablösungen angesehen werden, wenn dabei Knochenbrüche im Schädel und eindeutige Gehirnerschütterungen aufgetreten seien. Heute werde jedoch in der medizinischen Wissenschaft ganz überwiegend die Auffassung vertreten, daß sich das indirekte Trauma als vollkommen wirkungslos bei der Auslösung einer Netzhautablösung erwiesen habe. Selbst nach der sogen. Mittelmeinung lasse sich ein Ursachenzusammenhang auch iS einer wesentlich mitwirkenden Teilursache nicht begründen. Mit Sicherheit habe der Kläger sich nämlich keine Knochenbrüche am Schädel zugezogen. Am Nachmittag des 20. August und am folgenden Tage habe er arbeiten können. Erst am 21. August 1971 gegen 16.00 Uhr habe er die Arbeit einstellen müssen. Schwerwiegende Schädelverletzungen würden vom Kläger selbst auch nicht behauptet. Ob er eine Gehirnerschütterung davon getragen habe, könne dahinstehen, weil diese allein einen Ursachenzusammenhang nicht wahrscheinlich mache. Das Gutachten des Dr. E lasse wesentliche Punkte unerörtert. Prof. Dr. B/Dr. S hielten entgegen der Lehrmeinung die vom Kläger erlittene Kopfverletzung für ausreichend, die Netzhautablösung herbeizuführen. Dabei ließen die Gutachter unberücksichtigt, daß mit Sicherheit keine Knochenbrüche im Schädel aufgetreten seien. Ihr Gutachten sei widersprüchlich und daher nicht überzeugend, weil das von ihnen gefundene Ergebnis in Widerspruch zu der von ihnen selbst vertretenen Lehrmeinung stehe. In besonderem Maße gelte das auch für das Gutachten Dr. F/Dr. W, die sich im allgemeinen der in Deutschland vertretenen Lehrmeinung, wie sie Prof. Dr. G wiedergegeben habe, angeschlossen hätten, gleichwohl aber der Meinung seien, wegen der Brückensymptome könne für eine gewisse Teilkausalität plädiert werden. Solche Brückensymptome könnten aber nur dann von Bedeutung sein, wenn die erforderlichen Grundvoraussetzungen, nämlich Knochenbrüche im Schädel, erfüllt seien.

Zur Begründung seiner von dem LSG zugelassenen Revision trägt der Kläger ua vor: Das LSG habe für seine Auffassung nur das Gutachten von Prof. Dr. G gelten lassen. Es habe sich zwar kritisch mit den verschiedenen Lehrmeinungen zur Netzhautablösung auseinandergesetzt, dabei aber den konkreten Fall vergessen. Es habe die richterliche Überzeugungskraft über die tatsächlichen Feststellungen der Sachverständigen gesetzt. Es habe sich eines der schriftlichen Gutachten herausgegriffen und die anderen als nicht überzeugend und falsch abgetan, ohne einen der Sachverständigen überhaupt anzuhören, obwohl doch alle Gutachter den Kläger intensiv untersucht gehabt hätten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Januar 1977 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Mai 1972 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Entschädigung nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften aus Anlaß des Ereignisses vom 20. August 1971 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Das LSG habe sich sehr ausführlich mit den vorliegenden Gutachten befaßt und sei aus dem Ergebnis aller Beurteilungen der Sachverständigen zu seiner Entscheidung gekommen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gem. § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte (§ 160 Abs 1 und 3 SGG), sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Klägers führt nicht zu Erfolg. Das angefochtene Urteil des LSG ist nicht zu beanstanden.

Im vorliegenden Verfahren ist lediglich darüber zu entscheiden, ob dem Kläger Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen UV zustehen, weil die Netzhautablösung seines linken Auges ursächlich auf das Ereignis vom 20. August 1971 zurückzuführen ist. Die Beklagte hat nach dem entscheidenden Teil ihres ablehnenden Bescheides vom 12. April 1972 (nicht 12. Mai 1972) Entschädigungsansprüche zwar abgelehnt, weil ein landwirtschaftlicher Arbeitsunfall nicht vorliege bzw. nicht nachgewiesen sei. Aus der Begründung geht jedoch eindeutig hervor, daß die Ablehnung erfolgt ist, weil ein ursächlicher Zusammenhang nicht besteht. Ferner hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 21. März 1974 (Bl. 74 d. SG-Akten) ausdrücklich erklärt, es sei bei ihr entschieden, daß die Fahrt des Klägers am 20. August 1971 seinem landwirtschaftlichen Unternehmen gedient habe. Dies sei unstreitig und werde von der Beklagten nicht bestritten. Damit hat sie die haftungsbegründende Kausalität bejaht, dh einen Arbeitsunfall iS von § 548 iVm §§ 776 ff Reichsversicherungsordnung (RVO) anerkannt.

Entschädigungsansprüche stehen einem Verletzten aber nur zu, wenn Gesundheitsstörungen die Folge eines Arbeitsunfalles sind (haftungsausfüllende Kausalität). Zutreffend hat das LSG daher anhand der in der gesetzlichen UV geltenden Kausalitätslehre die Zusammenhangsfrage geprüft. Danach muß der Arbeitsunfall die wesentliche Bedingung für den Eintritt des Körperschadens gewesen sein. War er nur eine Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn, hat er den Körperschaden jedoch nicht wesentlich mitbewirkt, so ist er nicht Ursache im Rechtssinn, sondern allenfalls rechtlich bedeutungslose Gelegenheitsursache. Auch bei vorhandener Krankheitsanlage kann ein Unfallereignis andererseits wesentliche Ursache in diesem Sinne sein (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: April 1977 S 488 k II, l). Ausreichend, aber auch erforderlich ist es, daß dieser ursächliche Zusammenhang der Gesundheitsstörung mit dem Unfallereignis wahrscheinlich ist (vgl ua BSG in SozR Nr 20 zu § 542 RVO aF mN; Brackmann aaO S 244 l). Wahrscheinlich kann ein ursächlicher Zusammenhang jedoch nur sein, wenn das angeschuldigte Ereignis überhaupt geeignet ist, den vorhandenen Gesundheitsschaden hervorzurufen. Ist das nicht der Fall, so ist der Unfall schon im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne nicht Ursache. Die haftungsausfüllende gehört ebenso wie die haftungsbegründende Kausalität zu den Anspruchsvoraussetzungen. Läßt sie sich daher nicht nachweisen, so geht das nach dem Grundsatz der objektiven Beweislosigkeit zu Lasten des Verletzten. Diesen trifft im sozialgerichtlichen Verfahren die Feststellungslast (vgl ua BSGE 35, 216, 218 mwN). Diese Rechtsgrundsätze hat das LSG nicht verkannt; sie werden auch von der Revision nicht angezweifelt.

Die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem schädigenden Ereignis und einem Gesundheitsschaden in dem og Sinne besteht, ist in erster Linie nach medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilen. Im Rahmen seiner richterlichen Überzeugungsbildung hat das Gericht alles erforderliche zu tun, um diese Frage zu klären (§§ 103, 128 SGG), wobei es sich des Urteils fachkundiger Sachverständiger zu bedienen hat, um mit deren Hilfe festzustellen, ob nach den einschlägigen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen das angeschuldigte Ereignis die wahrscheinliche Ursache des bestehenden Gesundheitsschadens ist. Maßgebend ist hierfür grundsätzlich die herrschende medizinische Lehrmeinung, soweit sie sich auf gesicherte Erkenntnisse stützen kann. Andererseits ist es nicht Aufgabe des Gerichts, sich mit voneinander abweichenden medizinischen Lehrmeinungen im einzelnen auseinanderzusetzen und darüber zu entscheiden, welche von ihnen richtig ist. Das Gericht überschreitet jedoch die Grenzen seines Rechtes, die Beweise frei zu würdigen, wenn es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe in medizinischen Fragen über die Beurteilung ärztlicher Gutachter hinweggeht und seine eigene Auffassung an deren Stelle setzt. Es hält sich dagegen im Rahmen seines Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es seine Entscheidung auf stichhaltige Erwägungen und auf eine ausreichende medizinische Beweisgrundlage stützt (BSG Beschl. v. 4. Juli 1958 - 11 RV 200/58 in KOV 1958, Rspr Nr 864).

Das LSG hat sich, was die Revision einerseits einräumt (Schriftsatz vom 1. März 1977), andererseits bestreitet (Schriftsatz vom 4. Juni 1977), kritisch mit den verschiedenen Gutachten auseinandergesetzt und im einzelnen dargelegt, weshalb es der von Dr. E und Prof. B/Dr. S sowie Dr. F/Dr. W vertretenen Auffassung, die Netzhautablösung auf dem linken Auge des Klägers sei ursächlich auf den Unfall vom 20. August 1971 zurückzuführen, nicht gefolgt ist. Es hat nicht, wie die Revision meint, nur das Gutachten von Prof. G gelten lassen, sich nur dieses herausgegriffen und die anderen Gutachten als nicht überzeugend abgetan. Es hat vielmehr neben den im anhängigen Verfahren erstatteten Gutachten auch weitere wissenschaftliche Untersuchungen zu der hier entscheidenden Frage des Zusammenhangs von indirektem Trauma und Netzhautablösung berücksichtigt und gewertet; insbesondere die neueste Veröffentlichung von Gramberg/Danielsen (BG 1975 S 366) sowie die von Podzun (Der Unfallsachbearbeiter, Stand: Juni 1977 Nr 114 S 5 ff) mitgeteilten einschlägigen Entscheidungen und Gutachten. Die Revision vermag insoweit keinen Verstoß gegen das freie Beweiswürdigungsrecht (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) zu rügen; ein solcher ist auch nicht erkennbar. Weshalb das LSG die Gutachter hätte anhören müssen, begründet die Revision ebenfalls nicht. Soweit damit die Möglichkeit gemeint ist, gem. § 411 Abs 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO) das Erscheinen eines Sachverständigen anzuordnen, damit er sein schriftliches Gutachten erläutert, steht auch dieses im freien richterlichen Ermessen und ist nur erforderlich, wenn das Gericht nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen sich dazu hätte gedrängt fühlen müssen (BSGE 2, 84). Allein die Tatsache, daß einzelne Sachverständige in schriftlichen Gutachten abweichende Auffassungen vertreten haben, zwingt das Gericht jedoch nicht, diese oder alle Gutachter persönlich anzuhören. Weshalb sich das LSG hier dennoch zu einer solchen Maßnahme hätte gedrängt fühlen müssen, trägt die Revision nicht vor. Ihre diesbezügliche Rüge ist deshalb nicht hinreichend substantiiert, zumal über die tatsächlichen Umstände keine Zweifel bestehen und die Sachverständigen, die den Kläger unt ersucht haben, ihre Anamnesen und Untersuchungsbefunde mitgeteilt haben. Ihre schriftlichen Gutachten lassen in keiner Weise erkennen, daß sie einen ursächlichen Zusammenhang aus besonderen Gründen des Einzelfalles bejaht haben, die Prof. G und das LSG nicht berücksichtigt hätten und die deshalb das LSG zu einem anderen Beweisergebnis hätten bringen müssen.

Da das angefochtene Urteil des LSG somit aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist, muß die Revision des Klägers mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückgewiesen werden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654595

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