Leitsatz (redaktionell)

1* Der 8. Senat des BSG hat in seiner Entscheidung vom 1967-08-17 8 RV 113/67 = BSGE 27, 126 ausgeführt, daß die für die Feststellung des Versorgungsanspruchs maßgebenden Verhältnisse sich in Bezug auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit schon dann wesentlich geändert haben, wenn sich nach den späteren Verhältnissen die Erwerbsfähigkeit mindestens für die Dauer eines Monats um mindestens 10 % gegenüber früher geändert hat (vergleiche BSG 1968-02-14 8 RV 365/66 = Praxis 1968, 319 und BSG 1970-01-29 8 RV 55/68 = VdKMitt 1970, 118). Dieser Rechtsprechung ist auch der 9. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 1971-08-26 9 RV 436/68 = BSGE 33, 112) gefolgt. Ihr schließt sich der erkennende (10.) Senat an.

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1966-12-28

 

Tenor

1)

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. April 1969 abgeändert.

2)

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 3. Juli 1967 wird zurückgewiesen, soweit sie den Anspruch des Klägers auf eine höhere Rente für die Zeit vom 1. Dezember 1965 bis 28. Februar 1966 betrifft.

3)

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens vor dem Sozialgericht und Landessozialgericht zur Hälfte, die des Revisionsverfahrens in vollem Umfang zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger bezieht aufgrund des Bescheides vom 15. Dezember 1951 wegen der bei ihm als Schädigungsfolge anerkannten schmerzhaften Narbe an der rechten Ferse infolge Minensplitterverletzung Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 v.H.. Wegen einer Verschlimmerung dieser Schädigungsfolge mußte sich der Kläger einer Operation unterziehen und befand sich deshalb vom 25. Oktober bis 3. Dezember 1965 im Landkrankenhaus C in Behandlung. Er beantragte im Dezember 1965 die Erhöhung seiner Rente wegen dieser Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen. Nach Anhörung des Versorgungsarztes Dr. H (Gutachten vom 5. 4. 1966) lehnte die Versorgungsbehörde diesen Antrag mit Bescheid vom 16. Mai 1966 ab und erkannte nunmehr als Schädigungsfolgen "schmerzhafte Narbe an der rechten Ferse infolge Minensplitterverletzung des Fersenbeins sowie einige kleine belanglose Narben am äußeren Knöchel und an der Rückseite in der Nähe der Achillessehne nach Inzision" an. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 9.8.1966).

Das Sozialgericht (SG) hat in der mündlichen Verhandlung vom 3. Juli 1967, in welcher der Kläger beantragt hatte, ihm für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1965 Rente nach einer MdE von 50 v.H. und vom 1. Januar bis 31. März 1966 Rente nach einer MdE von 40 v.H. zu zahlen, als Sachverständigen den Facharzt für Chirurgie Dr. F gehört und mit Urteil vom gleichen Tage unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide vom 16. Mai 1966 und 9. August 1966 den Beklagten verurteilt, dem Kläger vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1965 Rente nach einer MdE um 50 v.H. und vom 1. Januar bis 28. Februar 1966 Rente nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das SG hat die Berufung zugelassen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 24. April 1969 das Urteil des SG aufgehoben, soweit der Beklagte zur Zahlung einer höheren Rente an den Kläger verurteilt worden war, und die Klage gegen den Bescheid vom 16. Mai 1966 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. August 1966 abgewiesen. Es hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, es sei nur noch streitig, ob die Zuerkennung der erhöhten Rente nach einer MdE um 50 bzw. 40 v.H. für die Zeit von Oktober 1965 bis Ende Februar 1966 zu Recht bestehe. Dem Kläger stehe für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 30. November 1965 keine höhere Rente zu, weil er erst im Dezember 1965 einen Verschlimmerungsantrag gestellt habe, so daß ihm frühestens von diesem Monat an gemäß § 60 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) die erhöhte Rente zustehen würde, wenn die Voraussetzungen des § 62 BVG erfüllt seien. Dies sei für die Zeit von Dezember 1965 bis Ende Februar 1966 zu verneinen. Eine wesentliche Änderung in den für die Feststellung des Versorgungsanspruchs maßgebend gewesenen Verhältnissen i.S. des § 62 BVG sei nicht eingetreten. Dabei gehe das LSG in tatsächlicher Hinsicht davon aus, daß die Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen etwa zu Beginn des Monats Oktober 1965 eingesetzt habe. Ferner sei davon auszugehen, daß diese Verschlimmerung nicht länger als bis zum Ende des Monats Februar 1966 gedauert habe. Diese Verschlimmerung der Schädigungsfolgen habe zunächst 20 v.H. und sodann 10 v.H. betragen. Dennoch sei eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen i.S. des § 62 BVG deshalb nicht anzunehmen, weil sie nicht nachhaltig gewesen sei. Der unbestimmte Rechtsbegriff "wesentlich" verlange nicht nur eine erhebliche Veränderung der MdE, sondern in zeitlicher Hinsicht auch eine Nachhaltigkeit der Verschlimmerung. Nachhaltig sei eine solche Verschlimmerung aber erst dann, wenn sie mindestens 6 Monate andauere. Insoweit könne das LSG der vom Bundessozialgericht (BSG) in Bd. 27,126 ff vertretenen Auffassung nicht folgen, wonach eine wesentliche Änderung i.S. des § 62 BVG in Bezug auf die Höhe der MdE schon vorliege, wenn sich die MdE um mindestens 10 v.H. für mindestens 1 Monat erhöht habe. Es müsse dabei bedacht werden, daß das BVG im Falle einer kurzfristigen Leidensverschlimmerung durch die Vorschriften über die Heilbehandlung und den Einkommensausgleich besondere Regelungen getroffen habe, die eine lückenlose Versorgung in gesundheitlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sicherstellten. Es sei zwar im vorliegenden Fall nicht zu verkennen, daß die Dauer der Leidensverschlimmerung von 5 Monaten in der Nähe des Zeitraumes liege, der als "nachhaltig" anzusehen sei; gleichwohl sei es notwendig, daß die Verschlimmerung sich über eine längere Zeit als nur 5 Monate erstrecke.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat gegen dieses ihm am 22. Mai 1969 zugestellte Urteil am 11. Juni 1969 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Er beantragt,

1.

das Urteil des Bayerischen LSG vom 24. April 1969 aufzuheben, soweit es auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG Bayreuth vom 3. Juli 1967 hinsichtlich der streitigen Rentenleistungen an den Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 1965 bis 28. Februar 1966 und der Erstattung der außergerichtlichen Kosten abgeändert hat, und die Berufung des Beklagten in gleichem Umfang zurückzuweisen;

2.

den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

In seiner Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, rügt der Kläger eine Verletzung des § 62 Abs. 1 BVG und bringt hierzu insbesondere vor, es sei nur noch streitig, ob ihm wegen der anerkannten Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen für die Zeit vom Dezember 1965 bis Ende Februar 1966 eine höhere Rente als nach einer MdE um 25 v.H. gewährt werden müsse. Das LSG habe den Begriff der "wesentlichen" Änderung der Verhältnisse i.S. des § 62 BVG verkannt, wenn es angenommen habe, daß eine Verschlimmerung des Leidenszustandes nur dann wesentlich sei, wenn sie mindestens 6 Monate angehalten habe. Insoweit bezieht sich der Kläger auf die Entscheidung des 8. und 10. Senats des BSG vom 27. Juli 1965 und 17. August 1967.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, daß das angefochtene Urteil materiell-rechtlich zutreffend ist.

Zur Darstellung seines Vorbringens wird auf seinen Schriftsatz vom 6. August 1969 verwiesen.

Der Beigeladene hält die Revision des Klägers für unbegründet und macht hierzu in seinem Schriftsatz vom 27. August 1969 nähere Ausführungen, auf die Bezug genommen wird.

Da die Beteiligten einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt haben, konnte der Senat gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheiden.

II

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG); die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch begründet.

Zwischen den Beteiligten ist nur noch streitig, ob dem Kläger wegen der Verschlimmerung der bei ihm anerkannten Schädigungsfolgen für den Monat Dezember 1965 Rente nach einer MdE um 50 v.H. und für die Zeit vom 1. Januar bis 28. Februar 1966 Rente nach einer MdE um 40 v.H. zusteht. Da der Kläger sich in der Revisionsinstanz auf diesen Zeitraum beschränkt hat, ist das Urteil des LSG insoweit rechtskräftig, als dadurch dem Kläger eine höhere Rente als nach einer MdE um 25 v.H. für die Zeit vom 1. Oktober bis 30. November 1965 versagt worden ist.

Dem Kläger steht eine höhere Rente für die Zeit vom 1. Dezember 1965 bis 28. Februar 1966 nur dann zu, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung des Anspruchs auf Versorgung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eingetreten ist (§ 62 Abs. 1 BVG). Das LSG hat hierzu unangegriffen und daher für den Senat bindend (§ 163 SGG) festgestellt, daß sich die bei dem Kläger anerkannten Schädigungsfolgen an der rechten Ferse verschlimmert haben; ferner ist es zu dem Ergebnis gelangt, daß diese Verschlimmerung von Oktober 1965 bis Ende Februar 1966 angedauert und zunächst eine Erhöhung der MdE des Klägers um 20 v.H., sodann von Ende Dezember 1965 an um 10 v.H. gerechtfertigt hat. Diese Feststellungen des LSG ergeben - in medizinischer Hinsicht - eine "wesentliche Änderung" i.S. des § 62 Abs. 1 BVG, denn nach der ständigen Rechtsprechung des BSG haben sich die für die Feststellung der MdE maßgebend gewesenen Verhältnisse schon dann wesentlich geändert, wenn sich gegenüber den früheren Verhältnissen die Erwerbsfähigkeit mindestens um 10 v.H. geändert hat (BSG 23, 192, 193; 27, 126). Das hat das LSG auch zutreffend erkannt. Jedoch kann dem LSG nicht gefolgt werden, wenn es die Auffassung vertritt, daß eine "wesentliche" Änderung der Verhältnisse i.S. des § 62 Abs. 1 BVG - in zeitlicher Hinsicht - nur dann vorliegt, wenn die Verschlimmerung der Schädigungsfolgen mindestens sechs Monate dauert.

Der erkennende Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 27. Juli 1965 (BSG 23, 192 ff) in Bezug auf die Hilflosigkeit gemäß § 35 BVG mit eingehender Begründung ausgesprochen, daß eine wesentliche Änderung i.S. des § 62 Abs. 1 BVG gegenüber den früheren Verhältnissen schon dann eingetreten ist, wenn nach den späteren Verhältnissen mindestens für die Dauer eines Monats Hilflosigkeit besteht. In Fortsetzung dieser Rechtsprechung hat der 8. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 17. August 1967 (BSG 27, 126 ff) ausgeführt, daß die für die Feststellung des Versorgungsanspruchs maßgebenden Verhältnisse sich in Bezug auf die MdE schon dann wesentlich geändert haben, wenn sich nach den späteren Verhältnissen die Erwerbsfähigkeit mindestens für die Dauer eines Monats um mindestens 10 v.H. gegenüber früher geändert hat; in diesen Fällen sei eine Neufeststellung vorzunehmen (siehe dazu auch Urteile des BSG vom 14. Februar 1968 - 8 RV 365/66 - und vom 29. Januar 1970 - 8 RV 55/68 -); dieser Rechtsprechung ist auch der 9. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 26. August 1971 (9 RV 436/68) gefolgt. Der 9. Senat des BSG hat sich in dieser Entscheidung ausführlich mit den vom Beklagten und Beigeladenen gegenüber der bisherigen Rechtsprechung des BSG zu dieser Frage erhobenen Bedenken befaßt und ist unter Würdigung aller rechtlichen Einwendungen zu der Auffassung gelangt, daß aus den Bestimmungen des BVG keine Gründe dafür entnommen werden können, daß eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i.S. des § 62 BVG bei einer Verschlimmerung in zeitlicher Hinsicht nur dann vorliegt, wenn diese länger als einen Monat anhält. Der erkennende Senat hält - in Übereinstimmung mit den vom 9. Senat des BSG in der zitierten Entscheidung dargelegten Gründen - die vom Beklagten und Beigeladenen gegen die von allen Senaten des BSG, die in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung entscheiden, erhobenen Bedenken für nicht durchgreifend.

Es muß dabei insbesondere darauf hingewiesen werden, daß die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs "wesentliche Änderung" in § 62 Abs. 1 BVG sich nicht an den einzelnen Leistungen des BVG nach deren unterschiedlicher Funktion und etwa daran orientieren kann, ob es sich um "primäre oder sekundäre" Leistungen handelt. Da die Vorschrift des § 62 Abs. 1 BVG für die Neufeststellung aller Versorgungsansprüche (§ 9 BVG) gilt, kann der Begriff der "wesentlichen Änderung" der Verhältnisse in Umfang und Wirkung für das BVG auch nur einheitlich verstanden werden, soweit im Gesetz keine besondere Regelung bei einzelnen Leistungen getroffen ist.

Ist aber davon auszugehen, daß die für die Feststellung des Versorgungsanspruchs maßgebenden Verhältnisse sich in zeitlicher Hinsicht schon dann wesentlich geändert haben (§ 62 Abs. 1 BVG), wenn eine Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen mindestens für die Dauer eines Monats nachgewiesen ist, so steht dem Kläger für die Zeit vom 1. Dezember 1965 bis zum 28. Februar 1966 eine höhere Rente als nach der in dem früheren Bescheid vom 15. Dezember 1951 festgesetzten MdE um 25 v.H. zu; die MdE des Klägers beträgt nämlich nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) im Antragsmonat Dezember 1965 (§ 60 BVG) 50 v.H. und in den Monaten Januar und Februar 1966 40 v.H.. Da das SG den Beklagten unter Abänderung des angefochtenen Bescheides verurteilt hatte, dem Kläger in dem hier noch streitigen Zeitraum jene erhöhten Renten zu zahlen, war somit die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG insoweit unbegründet.

Wegen der Verletzung des § 62 Abs. 1 BVG durch das LSG war auf die begründete Revision des Klägers das Urteil des LSG entsprechend abzuändern.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670520

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