Leitsatz (amtlich)
Zur Zulässigkeit und ermessensfehlerfreien Ausübung des im Rentenbescheid vorbehaltenen Widerrufs (Anschluß an BSG 1971-02-25 12 RJ 436/69 = SozR Nr 11 zu § 1744 RVO).
Normenkette
SGG § 77; RVO § 1744 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. April 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Witwenrente der Klägerin nach den Ruhensbestimmungen der §§ 1278, 1279 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgrund eines in einem rechtsverbindlichen Bescheid aufgenommenen Vorbehalts neu berechnen darf.
Der Ehemann der Klägerin half als selbständiger Landwirt einem Nachbarn beim Dreschen. Er verunglückte dabei so schwer, daß er im August 1951 verstarb. Im Bescheid vom 24. Juni 1952 kürzte die Beklagte die Witwenrente wegen gleichzeitigen Bezugs einer Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Im September und Oktober 1964 teilte die Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft der Beklagten mit, daß die Leistung aus der Unfallversicherung aufgrund eigener Beitragsleistung gewährt werde; nach dieser Rechtsansicht werde - vorbehaltlich der Stellungnahme des Unfallversicherungsausschusses - seit 26. Oktober 1964 verfahren. Die Beklagte erklärte hierauf der Klägerin mit Bescheid vom 18. Dezember 1964: "Die Witwenrente wird ... unter dem Vorbehalt, daß der Unfallversicherungsausschuß der Rechtsauffassung der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft zustimmt, ab 26. Oktober 1964 voll gezahlt. Andernfalls müßten die überzahlten Rentenbeträge zurückgefordert werden".
Mit dem jetzt angefochtenen Bescheid vom 9. Oktober 1967 berechnete die Beklagte die Witwenrente unter Anwendung der Ruhensbestimmungen des § 1278 Abs. 3 Nr. 2 und des § 1279 RVO neu.
Im Klageverfahren legte die Beklagte die Fotokopie eines Schreibens der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft O und M vor, in welchem mitgeteilt wird, daß sich die im Bezugsschreiben der Beklagten vom 17. Januar 1968 vertretene Rechtsauffassung nicht bestätigt habe. Der Bundesverband der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften habe vielmehr in einem Schreiben vom 4. Dezember 1964 die Auffassung vertreten, daß die Gewährung von Rentenleistungen für einen infolge nachbarschaftlicher Hilfeleistungen eingetretenen Unfall nicht auf eigener Beitragsleistung beruhe.
Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) geht davon aus, daß die nur das Ruhen der Versichertenrente betreffende Vorschrift des § 1278 Abs. 3 Nr. 2 RVO im Rahmen des für die Witwenrente maßgebenden § 1279 RVO anwendbar sei. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts (SG) sei der bei der Nachbarschaftshilfe verunglückte Ehemann der Klägerin durch die Unfallversicherung des Unterstützten geschützt gewesen, so daß die Unfallwitwenrente nicht auf einer eigenen Beitragsleistung des Versicherten i.S. des § 1278 Abs. 3 Nr.2 RVO beruht habe. Der Bescheid vom 18. Dezember 1964 sei daher zu Unrecht ergangen.
Die Beklagte sei jedoch nicht berechtigt, diesen begünstigenden Verwaltungsakt wieder aufzuheben, weil die eingetretene Bindungswirkung nicht durchbrochen werden dürfe. Der Vorbehalt sei nicht rechtmäßig, weil die Beklagte in eigener Zuständigkeit hätte entscheiden müssen, ob die Verletztenrente auf eigener Beitragsleistung beruhe. Sie könne sich nicht auf eine Bindung des Vorbehalts berufen, weil er - da die Beklagte selbst über die Voraussetzungen des § 1278 Abs. 3 Nr. 2 RVO hätte entscheiden müssen - nicht pflichtgemäßem Verwaltungsermessen entsprochen habe. Aber selbst wenn der vorbehaltene Widerruf rechtmäßig wäre, könnte die Beklagte davon keinen Gebrauch machen, weil sie die ungekürzte Rente drei Jahre lang gewährt habe.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie hält den Vorbehalt für rechtmäßig.
Da § 1278 Abs. 3 Nr. 2 RVO bereits die Gewährung einer Rente aus der Unfallversicherung voraussetze, werde die Entscheidung, ob Eigen- oder Fremdversicherung vorliege, die für die Berufsgenossenschaft im Rahmen der §§ 633 ff RVO von Bedeutung sei, dem Rentenversicherungsträger vorgegeben. Diese Feststellung müsse zur Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen dem Unfallversicherungsträger vorbehalten bleiben. Die Beklagte habe mit dem Bescheid vom Oktober 1967 den Widerruf auch ausüben dürfen. Die Klägerin habe aufgrund des Bescheides vom Dezember 1964 von Anfang an damit rechnen müssen, daß die Rente über den 26. Oktober 1964 hinaus ruhen würde. Die Beklagte habe sich auf die Rechtsauffassung der Landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft, wie sie in den Mitteilungen vom 8. September und 23. Oktober 1964 zum Ausdruck gekommen sei, verlassen dürfen. Die Tatsache, daß der Unfallversicherungsausschuß bereits am 4. Dezember 1964 eine endgültige Entscheidung gefällt hatte, sei der Beklagten von der Berufsgenossenschaft nicht mitgeteilt worden und habe daher auch bei Bescheiderlaß nicht bekannt sein können.
Schließlich habe die Tatsache, daß die Beklagte erst "gut zweieinhalb Jahre" später von der endgültigen Entscheidung des Unfallversicherungsausschusses Kenntnis erlangt habe, den Widerruf nicht gehindert. Das Allgemeininteresse daran, daß eine im Zweifel zugunsten des Versicherten unter Vorbehalt gewährte Leistung später vorbehaltsgemäß der Rechtslage angepaßt werde, gehe - auch nach Ablauf des bezeichneten Zeitraumes - zumindest für die Zukunft dem Vertrauensschutzinteresse des Leistungsempfängers vor.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts und des Sozialgerichts Bayreuth vom 21.April 1970 und 23. Juli 1968 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie macht sich die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils zu eigen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet. Der Rechtsauffassung des LSG ist - jedenfalls im Ergebnis - beizupflichten.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß der im Bescheid vom Dezember 1964 enthaltene Ausspruch, daß die Witwenrente der Klägerin vom 26. Oktober 1964 an nicht mehr den Ruhensbestimmungen nach den §§ 1278, 1279 RVO unterliegt und daher ab diesem Zeitpunkt in voller Höhe ausgezahlt wird, der Bindungswirkung i.S. des § 77 SGG fähig ist (ebenso BSG-Urteil vom 31.1.1967 - 4 RJ 213/65 - SozR Nr. 10 zu § 1278 RVO). Dem LSG ist auch darin zuzustimmen, daß gesetzliche Vorschriften im vorliegenden Streitfall eine Durchbrechung der Bindungswirkung nicht gestatten (ebenso BSG-Urteil vom 31.1.1967 aaO). Dies wird von der Revision nicht bestritten.
Die Beklagte war auch nicht aufgrund des im Bescheid vom Dezember 1964 aufgenommenen Vorbehalts zum Erlaß des angefochtenen Bescheids berechtigt.
Der Senat schließt sich der Auffassung an, daß sich eine Verwaltungsbehörde in der Regel den Widerruf eines Verwaltungsaktes nicht vorbehalten darf, wenn sie zum Erlaß eines bestimmten Verwaltungsaktes gesetzlich verpflichtet ist. Andernfalls würde die Verwaltung ihre Verpflichtung zu uneingeschränkter Leistung umgehen (vgl. BGH in RzW 1964, 516; 1969, 209; 1969, 568; Jung in DVBl 1957, 708 ff; Münch in JZ 1964, 121 ff; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 9. Aufl., S. 210; für den Sozialrechtsbereich vgl. BSG 7, 226, 228; 19, 100; 20, 287, 288; 30, 218, 219; ebenso Bogs in SGb 1963, 33, 39 und Haueisen in BABl 1966, 511, 516). Das BSG hat für das Rentenversicherungsrecht Vorbehalte zugelassen, wenn der Versicherungsträger künftigen und außerhalb seines Einwirkungsbereichs liegenden Umständen, welche für den Fortbestand und das Ausmaß einer Leistungszusage maßgebend sind, nur durch einen entsprechenden Leistungsvorbehalt Rechnung tragen kann, so bis zur endgültigen Klärung der medizinischen Befunde bei einer Verdachtsdiagnose (BSG 17, 295, 297), mangels genügender Glaubhaftmachung der anspruchsbegründenden Tatsachen (BSG 20, 287, 288) und bei der Gewährung des Übergangsgeldes für den Fall einer Änderung in der Zahl oder im Einkommen der vom Versicherten unterhaltenen Familienangehörigen vor Beginn der Wiederherstellungsmaßnahmen (Urteil des 4. Senats in SozR Nr. 15 zu § 1241 RVO). Diesen Ausnahmefällen ist gemeinsam, daß der Vorbehalt die nach Bescheiderlaß mögliche Änderung einer für die Leistungszusage rechtserheblichen Tatsache betrifft.
Im Gegensatz hierzu betrifft der Vorbehalt im Bescheid vom 18. Dezember 1964 die in dem Bescheid entschiedene Rechtsfrage, ob die Verletztenrente i.S. des § 1278 Abs.3 Nr. 2 RVO auf eigener Beitragsleistung des Versicherten beruhte. Es ist zweifelhaft, ob ein solcher Vorbehalt rechtens ist, der nur eine rechtliche Entscheidung aufschieben sollte, die vor Erlaß des Bescheides vom Versicherungsträger getroffen werden konnte. Doch kann dies hier offen bleiben. Selbst wenn die Beklagte sich die Herabsetzung der Witwenrente im Bescheid vom Dezember 1964 hätte vorbehalten können, um auch die Rechtsauffassung des Unfallversicherungsausschusses mitzuberücksichtigen, so hätte sie hier mit der Ausübung des Vorbehalts nicht bis zum Oktober 1967 warten dürfen. Nach so langer Zeit hat es nicht mehr ihrem pflichtgemäßen Verwaltungsermessen entsprochen, von dem Widerrufsvorbehalt Gebrauch zu machen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 25.2.1971 - 12 RJ 436/69 = NJW 1971, 912 mit weiteren Nachweisen).
Das LSG hat zutreffend angenommen, daß der Erklärung auch eines zulässig vorbehaltenen Widerrufs zeitliche Grenzen gesetzt sind. Nach der Rechtsprechung des BSG aaO sind diese Grenzen um so enger, je länger der Versicherungsträger den mit dem Widerrufsvorbehalt versehenen Verwaltungsakt hat bestehen lassen. Die Klägerin hat hier die volle Witwenrente drei Jahre lang, nämlich vom 24. Oktober 1964 bis einschließlich Oktober 1967, fortlaufend bezogen. Wenn die Revision der Klägerin keinen Vertrauensschutz zugestehen will, verkennt sie, daß sich die Klägerin durch die jahrelange Leistung der Rente aufgrund des im Jahre 1964 ergangenen Bescheides in ihren Lebensbedürfnissen auf dessen Fortbestand einrichten durfte. Der Eindruck, daß die Rentenhöhe damals richtig festgestellt worden ist, mußte bei ihr entstehen und verstärkt werden, als die Beklagte die Rente nach dem 7., 8. und 9. Rentenanpassungsgesetz ohne Einschränkung und Hinweis auf den Vorbehalt anpaßte. Das jahrelange Unterlassen der Richtigstellung der Rente fällt in den Bereich der Beklagten. Sie kann sich nicht darauf berufen, daß die Berufsgenossenschaft ihr die bereits am 4. Dezember 1964 - und damit noch vor Erlaß des Bescheides vom 18. Dezember 1964 - getroffene endgültige Entscheidung des Unfallversicherungsausschusses nicht mitgeteilt habe; denn im vorausgegangenen Schriftwechsel zwischen beiden Versicherungsträgern ist eine derartige Benachrichtigung durch die Berufsgenossenschaft nicht vereinbart worden. Die Beklagte hatte daher von sich aus alsbald und in regelmäßigen Abständen bei der Berufsgenossenschaft nachzufragen, ob sich der Unfallversicherungsausschuß mittlerweile entschieden habe. Im übrigen wäre bei Durchführung der in den Akten am 27. November 1964 verfügten Kontrollen der Bescheid vom 18. Dezember 1964 möglicherweise unterblieben oder von dem Vorbehalt wäre alsbald Gebrauch gemacht worden.
Unter diesen Umständen entspricht der erst im angefochtenen Bescheid vom Oktober 1967 ausgeübte Widerruf nicht mehr einem pflichtgemäßen Verwaltungsermessen und ist daher - unabhängig von seiner Zulässigkeit - rechtswidrig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen