Entscheidungsstichwort (Thema)
Kieferanomalie als Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne
Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Frage des Anspruchs auf Ersatz der vollen Kosten einer kieferorthopädischen Behandlung bei Kindern.
2. Die Richtlinien des Bundesausschusses der Zahnärzte und KK für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kassenzahnärztliche Versorgung haben keine normative Kraft; sie sind jedoch insofern von Bedeutung, als sich die Verwaltung dadurch bindet, dh kieferorthopädische Maßnahmen als Naturalleistung zu gewähren hat, wenn die in den Richtlinien genannten Kieferanomalien vorliegen.
3. Nicht jede Abweichung von der morphologischen Idealnorm des Kiefers stellt schon einen regelwidrigen Körperzustand iS des versicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffs dar; ein solcher regelwidriger Körperzustand ist nur dann gegeben, wenn der Kiefer in einer seiner wesentlichen Funktionen, nämlich dem Beißen, dem Kauen oder dem Artikulieren der Sprache beeinträchtigt wird.
4. Bei einer Funktionsstörung des Gebisses liegt jedenfalls dann Behandlungsbedürftigkeit und damit eine Krankheit im versicherungsrechtlichen Sinne vor, wenn keine begründete Aussicht besteht, daß sich die gestörte Funktion auch ohne ärztliche Hilfe normalisiert.
Normenkette
RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1967-12-21
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. November 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) verpflichtet ist, dem Kläger für seinen Sohn K die beantragte kieferorthopädische Behandlung zu gewähren.
Aufgrund eines von dem Kassenzahnarzt S am 27. Januar 1969 aufgestellten kieferorthopädischen Behandlungsplans war für den 1959 geborenen Sohn des Klägers eine kieferorthopädische Behandlung mit einer voraussichtlichen Dauer von drei bis vier Jahren und einem Kostenaufwand von 1.032,50 DM wegen "verengten Oberkiefers, starker Torsion der Zähne 1/1 und Diastemas, Aufwanderung ( V, 6, (6, teilweisen Kreuzbisses vorn und ungesicherten Neutralbisses bei distaler Verzahnung III/III" vorgesehen. Hierzu teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie gewähre zu den Kosten dieser Behandlung einen Zuschuß von 200,- DM. Am 28. August 1969 beantragte der Kläger die Übernahme der Gesamtkosten der kieferorthopädischen Behandlung durch die Beklagte. Er verwies hierzu auf ein Schreiben des Gesundheitsamtes A vom 29. Juli 1969, wonach die vorgeschlagene Behandlung dringend notwendig sei, weil bei seinem Kinde eine erhebliche Kieferanomalie und eine dadurch bedingte Fehlstellung der Zähne im Bereich des Ober- und Unterkiefers bestehe, durch die nicht nur die Kaufähigkeit stark eingeschränkt werde, sondern erfahrungsgemäß auch vorzeitig Schäden im Bereich der Zähne, des Zahnfleisches und des Magen-Darmkanals hervorgerufen würden.
Während der behandelnde Zahnarzt meinte, es handele sich um eine Erkrankung im Sinne der Reichsversicherungsordnung (RVO), vertrat der Chefarzt des Instituts für physikalische Therapie und Röntgeninstituts der AOK für den Stadtkreis K, Dr. Dr. A, nach Besichtigung des Kiefermodells gegenüber der Beklagten die Auffassung, die vorgesehene Regulierung stelle eine Maßnahme der vorbeugenden Gesundheitsfürsorge dar. Daraufhin lehnte die Beklagte die Übernahme der Gesamtkosten durch Bescheid vom 2. Dezember 1969 ab.
Der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Kosten der kieferorthopädischen Behandlung des Sohnes des Klägers im Wege der Familienhilfe zu tragen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten unter Neufassung des Tenors des SG zurückgewiesen. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Senats hat es die Kieferanomalie als regelwidrigen Körperzustand im Sinne der RVO angesehen. Zwar gebe es praktisch keinen in jeder Beziehung als einwandfrei zu bezeichnenden Kiefer. Ein regelwidriger Körperzustand liege jedenfalls dann vor, wenn der Kiefer seine natürlichen Funktionen, nämlich das Beißen, Kauen und Artikulieren der Sprache, nicht im normalen Umfange zu erfüllen vermöge. Eine unter dem normalen Umfang liegende Erfüllung der natürlichen Kieferfunktionen liege bereits dann vor, wenn auch nur eine der genannten drei Funktionen deutlich behindert sei. Das sei im vorliegenden Fall gegeben, wie sich aus den insoweit übereinstimmenden Beurteilungen des Gesundheitsamts A einerseits und des Dr. Dr. A andererseits ergebe. Daß dieser in der wesentlichen Beeinträchtigung der natürlichen Funktionen des Kiefers bestehende regelwidrige Körperzustand einer Heilbehandlung zugänglich sei, werde von keinem der Beteiligten bestritten.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Es handele sich bei der Behandlung des Sohnes des Klägers nicht um eine Heilbehandlung, sondern um eine vorbeugende Maßnahme zur Krankheitsverhütung. Die fachärztliche Beurteilung des Instituts für physikalische Therapie und Röntgeninstituts sei durch das amtsärztliche Gutachten nicht widerlegt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. November 1971 und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 24. Juni 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Verfahren vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO i. V. m. § 205 RVO haben Versicherte für bestimmte unterhaltsberechtigte Angehörige Anspruch auf Krankenpflege, die u. a. ärztliche und zahnärztliche Behandlung umfaßt, vom Beginn der Krankheit an. Voraussetzung für den Anspruch auf Krankenpflege ist mithin eine Krankheit. Die RVO selbst enthält keine Legaldefinition dieses Rechtsbegriffs.
Im zahnmedizinischen Bereich ist nach § 1 Abs. 2 des Zahnheilkundegesetzes (ZHG) vom 31. März 1952 (BGBl I 221) Krankheit jede von der Norm abweichende Erscheinung im Bereich der Zähne, des Mundes und der Kiefer einschließlich der Anomalien der Zahnstellung und des Fehlens von Zähnen. Wie der Senat jedoch in BSG 11, 102, 111 f ausgeführt hat, verfolgt diese Vorschrift einen anderen Zweck als die Bestimmungen der RVO. Diese weite Fassung des ZHG kann mithin nicht auf den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung übertragen werden. Es ist vielmehr von dem Krankheitsbegriff der RVO auszugehen.
Im Anschluß an die ständige Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts - RVA - (AN 1916, 341; 1920, 319; 1937, 265), die der des Preußischen Oberverwaltungsgerichts entspricht (Preuß-VerwBl Jahrgang 23, 602), hat der Senat als Krankheit einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand angesehen, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (BSG 13, 134; 26, 240; 30, 151). Als regelwidrig hat der Senat einen Körperzustand beurteilt, der von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm abweicht (BSG 26, 240, 242). Der seinerseits nicht leicht zu umschreibende Begriff der "Gesundheit" ist dabei für die Rechtspraxis ausreichend mit dem Zustand gleichzusetzen, der dem Einzelnen die Ausübung der körperlichen Funktionen ermöglicht (vgl. BSG 30, 151, 153).
Wie der Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom selben Tage - 3 RK 93/71 - entschieden hat, ist von der Funktionstauglichkeit her auch der Krankheitswert von Kiefer- und Zahnanomalien zu beurteilen. Nicht jede Abweichung von der morphologischen Idealnorm des Gebisses, der Kiefer sowie des Mundes und des Rachenraumes stellt schon eine "Regelwidrigkeit" im Sinne des aufgezeigten Krankheitsbegriffs dar. Kann jedoch der Kiefer eine seiner wesentlichen Funktionen, nämlich das Beißen, Kauen und Artikulieren der Sprache nicht in befriedigendem Umfang erfüllen, liegen also Funktionsstörungen vor, dann ist ein regelwidriger Körperzustand gegeben. Das hat auch das LSG zutreffend erkannt.
Eine Krankheit im Rechtssinne (so RVA u. a. in AN 1936, GE 4992 S. IV 332, 1937, GE 5115 S. IV 265) oder eine Krankheit im Sinne der Krankenversicherung (so RVA in AN 1920, 320) liegt allerdings nur dann vor, wenn der regelwidrige Körperzustand eine Behandlung bedarf. Diese Behandlungsbedürftigkeit hat der Senat dann bejaht, wenn ein regelwidriger Körperzustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, mindestens aber gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann oder wenn ärztliche Behandlung erforderlich ist, um Schmerzen oder sonstige Beschwerden zu lindern (BSG 13, 134; 26, 240, 243; 28, 114, 115).
Hiernach entfällt das Bedürfnis nach Behandlung, wenn begründete Aussicht besteht, daß die gestörte Körperfunktion sich auch ohne ärztliche Hilfe normalisiert. Eine Kiefer- oder Zahnstellungsanomalie ist somit nicht behandlungsbedürftig, wenn eine Selbstregulierung der Fehlstellung der Zähne hinreichend wahrscheinlich ist.
Besteht diese begründete Aussicht aber nicht, so erfordert die Anomalie zahnärztliche Behandlung schon dann, wenn auf diese Weise die Beeinträchtigung einer oder mehrerer der genannten Funktionen des Kiefer- und Zahnsystems ganz oder teilweise behoben werden kann. Das Ziel der Herstellung oder Wiederherstellung der Funktionstauglichkeit rechtfertigt bereits für sich allein das Behandlungsbedürfnis.
Inwieweit die Ergänzung der Richtlinien für eine ausreichende zweckmäßige und wirtschaftliche kassenzahnärztliche Versorgung vom 23. August 1971, Bundesanzeiger 1972 Nr. 167 S. 1 die vom Bundesausschuß der Zahnärzte und Krankenkassen beschlossen und vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung am 25. August 1972 bekanntgegeben wurde, den vorstehend entwickelten Rechtsgrundsätzen entspricht und insbesondere den Kreis der Kiefer- und Zahnfehlstellungen mit Krankheitswert richtig abgrenzt, braucht der Senat nicht zu entscheiden. Abgesehen davon, daß diese Richtlinien den vorliegenden Sachverhalt schon deswegen nicht erfassen, weil die kieferorthopädische Behandlung des Kindes des Klägers vor ihrem Inkrafttreten abgeschlossen war, sind sie auch nicht in der Lage, das gesetzliche Leistungsrecht der RVO zu ändern (vgl. dazu Schlüter aaO S. 471 unter Hinweis auf Langkeit in Pharmazeutische Zeitung 1970, 1450). Den Richtlinien zur Sicherung der kassenzahnärztlichen Versorgung kommt keine normative Bedeutung zu (vgl. zu einem ähnlichen Sachverhalt BSG 6, 252 und Urt. v. 30. September 1966 - 9 RV 1006/63 - in Breith. 1967, 235, 236 mit weiteren Nachweisen sowie BSG in SozR Nr. 5 zu § 5 VwZG). Sie sind insofern von Bedeutung, als sich die Verwaltung dadurch selbst bindet, d. h. wenn die in den Richtlinien genannten Kieferanomalien vorliegen, ist die Kasse auf jeden Fall verpflichtet, kieferorthopädische Maßnahmen als Sachleistung gem. § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO zu gewähren.
Nach den Feststellungen des LSG, die sich auf Sachverständigengutachten stützen, lagen bei dem Sohne des Klägers deutliche Kaufunktionsstörungen vor, nämlich ein offener Biß, also die Unmöglichkeit beim Kieferschluß, die vorderen Zähne in normale Scherenbißstellung (Okklusion) zu bringen. Durch die Heilbehandlung nach dem kieferorthopädischen Behandlungsplan konnte die Entwicklung des Kiefers, insbesondere der zweiten Zähne, so beeinflußt werden, daß ein geschlossener Biß entsteht und nunmehr der Kiefer seine natürliche Beiß- und Kaufunktion wieder zu erfüllen vermag. Das LSG hat es ausgeschlossen, daß sich die gestörte Körperfunktion durch die natürliche Entwicklung auch ohne ärztliche Hilfe normalisiert. Es lag mithin Behandlungsbedürftigkeit in dem oben genannten Sinn vor. Die gegen diese Feststellung des LSG erhobenen Einwände greifen nicht durch. Es ist nicht ersichtlich, daß das Berufungsgericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) überschritten hat.
Nach alledem hat der Kläger einen Anspruch gegen die Beklagte auf kieferorthopädische Behandlung seines Sohnes als Sachleistung. Diese kann von dem Kassenzahnarzt S, der seine Bereitschaft hierzu durch die Aufstellung des kieferorthopädischen Behandlungsplans erklärt hat, durchgeführt werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen