Entscheidungsstichwort (Thema)
Wesentliche Änderung. Vergleichsgrundlage. Gesamt-MdE. Teil-MdE
Orientierungssatz
1. Die Prüfung, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, erfordert nach § 48 Abs 1 S 1 SGB 10 - wie nach § 622 Abs 1 RVO aF - einen Vergleich zwischen den Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten rechtsverbindlichen Feststellung und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung (vgl BSG 1983-06-23 5a RKnU 2/82 = SozR 1300 § 48 Nr 5).
2. Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit einer Änderung in den Unfallfolgen ist von der bindend festgestellten Gesamt-MdE, und nicht von den für die einzelnen Körperschäden zur Bildung der Gesamt-MdE angenommenen Graden der MdE auszugehen.
Normenkette
SGB 10 § 48 Abs 1 S 1 Fassung: 1980-08-18; RVO § 622 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 18.08.1982; Aktenzeichen L 2 Ua 2127/81) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 30.09.1981; Aktenzeichen S 5 U 1575/78) |
Tatbestand
Der im Jahre 1955 geborene Kläger erlitt während seiner Tätigkeit als Karosseriebauer-Lehrling am 9. Dezember 1971 einen Arbeitsunfall. Die Berufsgenossenschaft (BG) für den Einzelhandel, die das Unternehmen, in dem der Kläger ausgebildet wurde, im Jahre 1974 an die beklagte Süddeutsche Eisen- und Stahl-BG überwiesen hat, gewährte dem Kläger zunächst eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH (Bescheid vom 6. Dezember 1972) und sodann eine Dauerrente nach einer MdE um 20 vH (Bescheid vom 27. Juni 1973). Als Unfallfolgen sind in beiden Bescheiden übereinstimmend anerkannt: Zustand nach mehreren Schädelbrüchen im Bereich beider Scheitelbeine, nach Bruch des rechten oberen Augenhöhlenrandes und Bruch des Oberkiefers rechts, gelegentliche witterungsbedingte Kopfschmerzen mit auftretendem Schwindelgefühl, Minderung der geistig-seelischen Belastbarkeit und Sehschwäche im oberen Bereich des rechten Auges mit Gesichtsfeldeinengung nach unten im nasalen Quadranten nach Schädelhirnverletzung. Durch Bescheid vom 27. Juni 1978 entzog die Beklagte die Dauerrente mit Ablauf des Monats Juli 1978, da die gelegentlichen witterungsbedingten Kopfschmerzen mit Schwindelgefühl nicht mehr nachweisbar seien und die Minderung der geistig-seelischen Belastbarkeit nicht mehr vorliege. Auf neurologischem Fachgebiet sei eine meßbare unfallbedingte MdE nicht mehr anzunehmen. Die im Bescheid enthaltene Feststellung, die MdE betrage 10 vH, hat die Beklagte im Berufungsverfahren zurückgenommen.
Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat den Entziehungsbescheid vom 27. Juni 1978 dem Antrag des Klägers entsprechend aufgehoben, da eine Besserung der Unfallfolgen nicht erwiesen sei (Urteil vom 30. September 1981). Auf neurologischem Gebiet sei zwar eine unfallbedingte MdE nicht mehr gegeben, auf augenärztlichem Gebiet sei jedoch eine Verschlimmerung eingetreten, die hierdurch bedingte MdE betrage 20 vH. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. August 1982) und zur Begründung ua ausgeführt: Die Entziehung der Dauerrente sei rechtmäßig, da eine wesentliche Besserung eingetreten sei (§ 622 Reichsversicherungsordnung -RVO- aF) und die unfallbedingte MdE nur noch 15 vH betrage. Die mit einer MdE um 15 vH bemessenen Unfallfolgen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet seien vollständig behoben. Auf augenärztlichem Gebiet sei zwar infolge einer zwischenzeitlich eingetretenen Verschlimmerung die MdE nunmehr mit 15 vH statt 10 vH anzunehmen. Da durch den Dauerrentenbescheid lediglich die aus den Teilminderungen gebildete Gesamt-MdE von 20 vH bindend geworden und im angefochtenen Entziehungsbescheid nach Rücknahme der Feststellung über eine verbliebene MdE von 10 vH keine ziffernmäßige Feststellung über die noch bestehende MdE getroffen worden sei, scheitere die Entziehung nicht daran, daß bei der Feststellung des MdE-Grades eine Abweichung von nur 5 vH unzulässig sei. Obgleich die Differenz zwischen der bisher festgestellten Gesamt-MdE um 20 vH und der verbliebenen MdE um 15 vH nur 5 vH betrage, liege in dem völligen Wegfall der Teil-MdE im neurologischen Bereich eine die Entziehung der Rente rechtfertigende wesentliche Besserung vor.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und trägt zur Begründung ua vor: Der Entziehungsbescheid begegne Bedenken hinsichtlich der Annahme einer wesentlichen Änderung der neurologischen Unfallfolgen. Ob die Verschlechterung im augenärztlichen Befund um 5 bis 10 vH eine nur mögliche, aber nicht nachgewiesene Besserung im neurologischen Befund ausgleiche, könne dahinstehen. Jedenfalls könne nicht davon ausgegangen werden, daß sich die Gesamt-MdE von 20 vH - bestehend aus 15 vH neurologisch und 10 vH augenärztlich - trotz Verschlechterung des augenärztlichen Befundes um mehr als 5 vH gebessert habe (s BSGE 32, 245, 249).
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 18. August 1982 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 30. September 1981 als unbegründet zurückzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Nach § 622 Abs 1 RVO in der vom LSG noch angewendeten, mit Wirkung vom 1. Januar 1981 jedoch aufgehobenen Fassung (s Art II § 4 Nr 1, § 40 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - SGB X- vom 18. August 1980, BGBl I 1469) war eine neue Feststellung zu treffen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Leistung maßgebend waren, eine wesentliche Änderung eingetreten war. Der im vorliegenden Fall anzuwendende § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X (s Art II § 40 Abs 2 SGB X; s Beschluß des Großen Senats des BSG vom 15. Dezember 1982 - GS 2/80 -, zur Veröffentlichung vorgesehen; BSG SozR 1300 § 48 Nr 2) schreibt vor, daß ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Die Prüfung, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist, erfordert nach dieser Vorschrift - wie nach § 622 Abs 1 RVO aF - einen Vergleich zwischen den Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten rechtsverbindlichen Feststellung ("beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung", s dazu BSG Urteil vom 23. Juni 1983 - 5a RKnU 2/82 - zur Veröffentlichung vorgesehen) und dem Zustand im Zeitpunkt der Neufeststellung (s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl, S 582h). Zur Entscheidung darüber, ob der Bescheid der Beklagten vom 27. Juni 1978 über die Entziehung der durch den Bescheid vom 27. Juni 1973 dem Kläger nach einer MdE um 20 vH gewährten Dauerrente wegen wesentlicher Änderung (Besserung) rechtmäßig ist, reichen die vom LSG unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Prüfung nach § 622 Abs 1 RVO aF getroffenen tatsächlichen Feststellungen aus. Entgegen der Auffassung des LSG ergeben diese Feststellungen jedoch keine die Entziehung der Dauerrente rechtfertigende wesentliche Änderung.
Im Zeitpunkt der Gewährung der Dauerrente durch den Bescheid vom 27. Juni 1973 lagen bei dem Kläger unfallbedingte Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem und auf augenärztlichem Gebiet vor. Bei der Bewertung der MdE wurden - nach den Feststellungen des LSG zutreffend - für die neurologisch-psychiatrischen Störungen eine (Teil-)MdE von 15 vH, für die Störungen auf augenärztlichem Gebiet eine (Teil-)MdE um 10 vH angenommen und daraus eine (Gesamt-)MdE um 20 vH gebildet. Bei der Entscheidung über die unfallbedingte MdE um 20 vH für die Dauerrente ist allein die im Bescheid vom 27. Juni 1973 festgestellte Gesamt-MdE - 20 vH - bindend geworden (s zum Schwerbehinderten- und Kriegsopferrecht BSG SozR 3100 § 62 Nr 21 mwN). Von dieser rechtsverbindlichen Feststellung ist folglich bei der Prüfung auszugehen, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Neufeststellung durch den Bescheid vom 27. Juni 1978 wesentlich geändert haben. Es erscheint dem Senat nicht gerechtfertigt, einerseits bei der bisherigen Feststellung der MdE - zutreffend - die durch die verschiedenen unfallbedingten Körperschäden verursachte MdE - in der Regel, wie auch hier, zuungunsten des Verletzten nicht selbständig und getrennt der Rentenfeststellung zugrunde zu legen, andererseits aber bei der Beurteilung der Wesentlichkeit einer Änderung nicht von der festgestellten Gesamt-MdE, sondern von den für die einzelnen Körperschäden zur Bildung der Gesamt-MdE angenommenen Grade der MdE auszugehen.
Eine Besserung von Unfallfolgen bedeutet nur dann eine wesentliche Änderung, wenn sich hierdurch der Grad der MdE um mehr als 5 vH senkt (BSGE 32, 245; Brackmann aaO S 583d, e mwN). Im vorliegenden Fall, in dem von einer festgestellten Gesamt-MdE um 20 vH im Dauerrentenbescheid auszugehen ist, läge demnach eine die Entziehung der Rente rechtfertigende wesentliche Änderung (Besserung) nur vor, wenn die unfallbedingte Gesamt-MdE infolge Besserung der Unfallfolgen um mehr als 5 vH auf 10 vH gesunken oder gänzlich weggefallen wäre. Das trifft jedoch nicht zu. Nach den Feststellungen des LSG waren im Entziehungszeitpunkt die unfallbedingten Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet zwar behoben, die unfallbedingten Gesundheitsstörungen auf augenärztlichem Gebiet hatten sich jedoch verschlimmert. Die unfallbedingte Gesamt-MdE des Klägers betrug im Entziehungszeitpunkt noch 15 vH. Gegen diese Feststellungen des LSG sind von der Beklagten im Revisionsverfahren keine Einwendungen erhoben worden, sie sind für das BSG bindend (§ 163 SGG). Damit aber fehlt es an einer für die Rechtmäßigkeit der Rentenentziehung erforderlichen wesentlichen Änderung in Form einer Steigerung der MdE um mehr als 5 vH gegenüber der bindenden Feststellung der MdE um 20 vH im Dauerrentenbescheid.
Die Revision ist danach begründet. Das SG hat im Ergebnis zutreffend den Entziehungsbescheid der Beklagten aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG ist zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen