Leitsatz (redaktionell)

Die Verwaltungsbehörde kann sich in einem Bescheid rechtswirksam den Widerruf vorbehalten und von diesem Vorbehalt nach pflichtgemäßem Ermessen Gebrauch machen. Die Bindungswirkung des Bescheides umfaßt auch den Widerrufsvorbehalt; sie wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Bescheid fehlerhaft ist, es sei denn im Falle der Nichtigkeit.

 

Normenkette

BVG § 89 Fassung: 1950-12-20; SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts in Celle vom 16. Oktober 1958 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Dem Kläger, einem Spätheimkehrer, war durch Bescheid vom 11. Mai 1950 wegen eines mittleren Spätschadens nach Unterernährung, Narben an der rechten Brustseite und an den Beinen nach Splitterverletzung sowie Hauteiterung ohne Funktionsstörung auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um zuletzt 50 v.H. gewährt worden. Nach vorausgegangener ärztlicher Untersuchung erteilte die Versorgungsverwaltung am 17. Mai 1952 einen Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), in dem die bisherige Leidensbezeichnung im wesentlichen beibehalten und die Rente ebenfalls nach einer MdE. um 50 v.H. errechnet wurde. In dem Bescheid heißt es auf einem dem Bescheidvordruck angeklebten Stück Papier - von den Vorinstanzen mit "Fahne" bezeichnet-u.a.:

"Nach dem Ergebnis der versorgungsärztlichen Untersuchung vom 19.4.51 ist in Ihrem Schädigungsleiden eine wesentliche Besserung eingetreten, so daß die Minderung der Erwerbsfähigkeit nur noch mit 0 % zu bewerten ist. Als Spätheimkehrer erfolgt die Feststellung Ihrer Rente nach dem BVG jedoch zunächst unter Übernahme des bisher anerkannten Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 %, also unter Außerachtlassung des Ergebnisses der ärztlichen Begutachtung vom 19.4.51 (Verfügung des Landesversorgungsamts Niedersachsen in H vom 1.6.51 - IV a 60-40-00). Erneute Nachprüfung und Neufeststellung der Versorgungsbezüge (Minderung, Entziehung) bleibt für 1952/53 vorbehalten; sie erhalten darüber zu gegebener Zeit einen Bescheid".

Auf Grund einer erneuten ärztlichen Begutachtung teilte die Versorgungsverwaltung dem Kläger durch Bescheid vom 13. November 1952 mit, daß eine wesentliche Besserung eingetreten sei und daß ab 1. Januar 1953 nur noch "Narben am Körper nach Granatsplitterverletzung ohne Funktionsstörung" mit einer MdE. unter 25 v.H. als Schädigungsfolgen anzusehen seien; die Rente falle daher mit Ende Dezember 1952 weg. Nachdem der Widerspruch erfolglos geblieben war, hat der Kläger beim Sozialgericht (SG.) Hannover Klage erhoben. Das SG. hat den Beklagten durch Urteil vom 24. Mai 1956 unter Abänderung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger bis zum 30. Juni 1954 Rente nach einer MdE. um 50 v.H. und für die spätere Zeit um 30 v.H. zu gewähren: Die Versorgungsverwaltung habe die Zweijahresfrist des § 62 Abs. 2 BVG beachten müssen. Nach Ablauf dieser Frist sei nach den ärztlichen Unterlagen die Erwerbsfähigkeit noch um 30 v.H. gemindert. Das Landessozialgericht (LSG.) Niedersachsen in Celle hat diese Entscheidung auf die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 16. Oktober 1958 aufgehoben und die Klage abgewiesen: Der angefochtene Bescheid könne zwar weder auf § 62 Abs. 1 BVG noch auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt werden; er sei aber dennoch nicht rechtswidrig. In dem früheren Bescheid habe die Versorgungsverwaltung eine sogenannte "Schonungsrente" gewährt. Wenn auch eine solche im BVG nicht vorgesehen sei, so finde ihre Zuerkennung doch in § 89 BVG in Verbindung mit dem Erlaß des Niedersächsischen Ministers für Wirtschaft und Arbeit vom 30. April 1951 - II A 41 4000 - zur Durchführung des BVG unter Bezugnahme auf den Erlaß des Bundesministers für Arbeit (BMA) vom 31. März 1951 - BVBl. 1951 S. 171 - und einer Verfügung des Landesversorgungsamts Niedersachsen vom 1. Juni 1951 eine ausreichende Rechtsgrundlage. Die Versorgungsverwaltung habe sich an diese Vorschriften, insbesondere die Verfügung des Landesversorgungsamts Niedersachsen, gehalten. Der angefochtene Bescheid übe nur das in dem Umanerkennungsbescheid vorbehaltene Widerrufsrecht aus. Der Widerruf sei auch nicht fehlerhaft. Der über zwei Jahre nach Erlaß des SVD-Bescheides durchgeführten ärztlichen Begutachtung entsprechend habe die Entziehung der Rente schon im Interesse der Gleichstellung mit den sonstigen Rentenempfängern erfolgen müssen, zumal Eiweißmangelschäden z.Zt. des Entziehungsbescheides nach dem vom LSG. eingeholten ärztlichen Gutachten zweifellos nicht mehr vorhanden gewesen und die noch vorhandenen Gesundheitsstörungen keine Schädigungsfolgen seien. Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger beim Bundessozialgericht (BSG.) Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des Berufungsurteils vom 16. Oktober 1958 die Berufung des Beklagten gegen die Entscheidung des SG. Hannover vom 24. Mai 1956 aus den Gründen dieses Urteils als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts (§§ 1, 62, 86 Abs. 3, 89 BVG; §§ 77, 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Auffassung des Berufungsgerichts, der Bescheid vom 17. Mai 1952 habe auf Grund des § 89 BVG erlassen werden können, sei nicht haltbar. Einmal liege die nach § 89 Abs. 1 BVG für Einzelfälle erforderliche Zustimmung des BMA nicht vor. Der Abs. 2 dieser Vorschrift sei erst durch die 3. Novelle mit Wirkung vom 21. Januar 1954 in das BVG aufgenommen und könne deshalb nicht auf den oben angeführten Bescheid angewandt werden. Auch der oben angeführte Erlaß des Niedersächsischen Ministers für Wirtschaft und Arbeit und die sich auf diesen Erlaß beziehende Verfügung des Landesversorgungsamts Niedersachsen seien nicht geeignet, die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zu stützen, insbesondere ergebe sich aus ihnen nichts über die Zulassung einer "Schonungsrente". Aus diesen Gründen habe der Bescheid vom 17. Mai 1952 durch den angefochtenen Bescheid nicht zurückgenommen werden können (§ 77 SGG). Darüber hinaus habe aber die dem Kläger zugestellte Ausfertigung des Bescheides keine der Einschränkungen enthalten, von denen das Berufungsgericht ausgegangen sei. Die auf der Urschrift angebrachte "Fahne" habe er nicht erhalten. Der Kläger habe dieser Tatsache bis zur Entscheidung des LSG. keine Bedeutung beigemessen, da die Ergebnisse der Beweisaufnahme seinerzeit ergeben hätten, daß der Kläger die Spätfolgen der Dystrophie auch im Zeitpunkt der Bescheiderteilung vom 13. November 1952 noch keineswegs überwunden gehabt habe.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er führt aus, bei dem Bescheid vom 17. Mai 1952 handele es sich um einen Bescheid mit Widerrufsvorbehalt. Der auf einen Vorbehalt gestützte Widerruf sei rechtmäßig, wenn die Verwaltung von ihm - wie es in diesem Fall geschehen sei - nach pflichtgemäßem Ermessen Gebrauch gemacht habe. Auch nach dem Grundsatz von Treu und Glauben könne der Kläger aus dem begünstigenden Bescheid keinen Rechtsanspruch auf Weiterzahlung der erhöhten Bezüge herleiten.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist daher zulässig.

Die Revision ist aber nicht begründet.

Der Streit der Parteien geht um die Frage, ob die Versorgungsverwaltung zu der im angefochtenen Bescheid vorgenommenen Neufeststellung und damit zur Aufhebung des Bescheides vom 17. Mai 1952 befugt war.

Hinsichtlich des Inhalts dieses Bescheides hat das Revisionsgericht seiner Entscheidung die vom LSG. getroffenen tatsächlichen Feststellungen zugrunde gelegt. Der Kläger hat allerdings in seiner Revisionsbegründung erstmalig vorgetragen, daß die ihm zugestellte Ausfertigung nicht den Zusatz enthalten habe, aus dem sich der Widerrufsvorbehalt ergebe (die sogenannte "Fahne"). Das LSG. hat aber in dem angefochtenen Urteil den Inhalt "des Bescheides" schlechthin festgestellt; die Feststellungen beziehen sich somit sowohl auf die Urschrift als auch auf die dem Kläger zugestellte Ausfertigung. Da neue Tatsachen im Revisionsverfahren grundsätzlich nicht vorgebracht werden können, kommt der Behauptung des Klägers nur dann Bedeutung zu, wenn sie gleichzeitig eine Verfahrensrüge des Inhalts enthält, das Berufungsgericht habe bei ordnungsgemäßer Sachaufklärung (§ 103 SGG) die nunmehr vorgebrachte Tatsache von sich aus feststellen und berücksichtigen müssen. Eine solche in dem neuen Vorbringen unter Umständen zu erblickende Verfahrensrüge ist aber nicht ordnungsgemäß erhoben und kann schon aus diesem Grunde nicht berücksichtigt werden. Denn bei einer Rüge mangelnder Sachaufklärung durch das Berufungsgericht ist nach § 164 Abs. 2 SGG u.a. darzulegen, auf Grund welcher Umstände das LSG. sich hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen (vgl. BSG., in SozR. SGG § 164 Bl. Da 7 Nr. 24). Die Revision hat aber nicht dargetan, wodurch das Berufungsgericht sich hätte veranlaßt sehen müssen, ohne entsprechende Anregung des Klägers nachzuprüfen, ob - entgegen der Erfahrung - die dem Kläger zugestellte Ausfertigung etwa einen anderen Wortlaut als die Urschrift hatte. Da diese Rüge somit unbeachtlich ist, sind die Feststellungen des LSG. über den Inhalt des angefochtenen Bescheides, auch der dem Kläger zugestellten Ausfertigung, für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG).

Dem LSG. ist darin beizupflichten, daß weder § 62 Abs. 1 BVG, noch § 86 Abs. 3 BVG der Versorgungsverwaltung eine rechtliche Grundlage für den angefochtenen Bescheid boten. Insbesondere war die Versorgungsverwaltung nicht etwa nach § 86 Abs. 3 BVG zur Neufeststellung berechtigt. Wenn diese Feststellung auch "unter Außerachtlassung des Ergebnisses der ärztlichen Begutachtung" erfolgte, so wurde die vorher durchgeführte Untersuchung doch zumindest insofern berücksichtigt, als sie dazu führte, eine erneute Nachprüfung und Feststellung für die Jahre 1952/53 ausdrücklich vorzubehalten.

Boten somit diese Vorschriften des BVG der Versorgungsverwaltung keine gesetzliche Handhabe für die in dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Rentenentziehung, so wäre diese Entziehung doch dann gerechtfertigt, wenn sie - wovon auch das LSG. ausgegangen ist - durch einen rechtswirksamen Widerrufsvorbehalt im Bescheid vom 17. Mai 1952 vorbehalten war und die Versorgungsverwaltung von diesem Widerruf nach pflichtgemäßem Ermessen Gebrauch gemacht hat. Bei Prüfung der Frage, ob die Versorgungsverwaltung den Widerruf rechtswirksam vorbehalten hat, ist davon auszugehen, daß der Bescheid vom 17. Mai 1952 nicht angefochten und daher grundsätzlich verbindlich geworden ist. Diese Bindungswirkung umfaßt auch den Widerrufsvorbehalt als - zumindest in diesem Falle - wesentlichen Bestandteil des bescheidmäßigen Ausspruchs. Die Bindungswirkung wird auch noch nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Bescheid unter Umständen fehlerhaft ist. Sie würde nur dann nicht eingetreten sein, wenn die Fehlerhaftigkeit so schwerwiegend wäre, daß sie nicht zur Anfechtbarkeit, sondern zur Nichtigkeit geführt hätte. Daher hat sich die Überprüfung des Bescheides im Gegensatz zu der weitergehenden Überprüfung durch das LSG. lediglich darauf zu erstrecken, ob der Widerrufsvorbehalt in Verbindung mit dem übrigen Bescheid oder für sich allein nichtig und deshalb unbeachtlich ist. Das ist aber nicht der Fall. Ein solcher den gesamten Bescheid ergreifender Nichtigkeitsgrund könnte darin gesehen werden, daß der Bescheid im Gegensatz zur ärztlichen Begutachtung eine Rente zuerkannt hat, ohne daß eine Rechtsgrundlage hierfür vorhanden wäre. Das Berufungsgericht hat für die nach der ärztlichen Begutachtung nicht gerechtfertigte Rente dennoch in § 89 BVG in Verbindung mit dem Erlaß des BMA vom 31. März 1951, dem Erlaß des Niedersächsischen Ministers für Wirtschaft und Arbeit vom 30. April 1951 sowie der Verfügung des Landesversorgungsamts Niedersachsen vom 1. Juni 1951 eine Rechtsgrundlage gesehen. Ob das in diesem Einzelfall zutrifft, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls gibt § 89 BVG der Verwaltung grundsätzlich die Möglichkeit, Leistungen zu gewähren, die nach den Vorschriften des BVG an sich nicht zustehen. Ist aber grundsätzlich die Gewährung von "an sich" nicht zustehenden Leistungen im Wege des Härteausgleichs vorgesehen und nur im Einzelfall die Gewährung auf Grund einer unrichtigen Anwendung der gesetzlichen Vorschriften erfolgt, so hat dies nicht die Nichtigkeit, sondern lediglich die Anfechtbarkeit zur Folge. Nur in diesem Sinne ist auch der im allgemeinen Verwaltungsrecht zur Frage der Nichtigkeit bzw. der Anfechtbarkeit herausgebildete Grundsatz zu verstehen, daß ein Verwaltungsakt dann nichtig ist, wenn in ihm Leistungen gewährt werden, die "gesetzlich nicht vorgesehen sind". Dieses Ergebnis entspricht der im Verwaltungsrecht allgemein anerkannten Regel, daß Verwaltungsakte der staatlichen Organe die "Vermutung" der Gültigkeit in sich tragen und bei Fehlerhaftigkeit grundsätzlich anfechtbar und vernichtbar, nicht aber nichtig sind (vgl. z.B. BVerwGerE . I S. 67 (69); BGHZ. 4 S. 10). Würde man jede Gesetzwidrigkeit im Einzelfall als Nichtigkeitsgrund ansehen, so würde damit kein Unterschied mehr zwischen Anfechtbarkeit und Nichtigkeit bestehen, die aber vom Gesetzgeber ausdrücklich unterschieden werden (z.B. §§ 54, 55 SGG - vgl. Bundesverwaltungsger . a.a.O.). Ist somit der Bescheid vom 17. Mai 1952, soweit er überhaupt Rente gewährt, nicht nichtig, so ist auch die widerrufliche Gewährung schon deshalb nicht nichtig, weil es sich bei der Rentengewährung um eine Ermessensleistung handelte und bei derartigen Leistungen der Widerruf vorbehalten werden darf (vgl. z. B. Haueisen in NJW 1955 S. 1457 (1460); Jung in DVBl. 1957 S. 708 (709)).

Die Versorgungsverwaltung hat von dem rechtswirksam vorbehaltenen Widerruf auch nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen Gebrauch gemacht. Die Rente wurde, obwohl nach ärztlicher Beurteilung keine MdE. mehr vorlag, seinerzeit gewährt, um den Kläger als Spätheimkehrer in seiner ohnedies schwierigen Lage nicht vor eine plötzliche Rentenentziehung zu stellen und ihm dadurch das Einleben in die Nachkriegsverhältnisse zu erschweren. Wenn die Versorgungsverwaltung auf Grund einer erneuten ärztlichen Untersuchung, wonach die Eiweißmangelschäden nunmehr zweifellos abgeheilt und andere noch bestehende Gesundheitsstörungen keine Schädigungsfolgen waren, die im Rahmen ihres Ermessens liegende weitere Gewährung durch den angefochtenen Bescheid vom 13. November 1952 auf die Zeit bis Ende Dezember 1952, also auf sechs Monate begrenzte, hat sie damit das ihr bei Ausübung des Widerrufs obliegende pflichtgemäße Ermessen nicht überschritten.

Das Berufungsgericht hat nach alledem zu Recht das Urteil des SG. aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 13. November 1952 abgewiesen, so daß die Revision unbegründet und daher zurückzuweisen war (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325597

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