Leitsatz (amtlich)

Einem Grubensteiger ist die Verrichtung der Tätigkeit eines Staubkarteiführers (Gruppe B des Tarifs der kaufmännischen Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus) zumutbar iS des RKG § 46.

Es bleibt offen, ob ein Reviersteiger auf diese Tätigkeit verwiesen werden kann.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. März 1964 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen

 

Gründe

I

Streitig ist, ob ein Steiger bei Beurteilung der Berufsunfähigkeit (§ 46 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -) auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers verwiesen werden kann.

Der Kläger ist seit 1919 im Bergbau beschäftigt. Über den Lehrhauer und Hauer stieg er - nach Besuch der Bergschule - zum Grubensteiger auf. Diese Tätigkeit übte er bis 1942 aus. Anschließend war er 39 Monate Reviersteiger. Von Dezember 1945 bis Januar 1946 war er wieder Grubensteiger. Nach weiteren 14 Monaten Reviersteigerzeit arbeitete er schließlich vom 1. April 1947 bis zum 30. September 1950 wieder als Grubensteiger. Seit dem Beginn des Bezugs der Knappschaftsrente alter Art, nämlich vom 1. Oktober 1950 an, arbeitete er bis zum 31. August 1952 als Ziegelmeister. Vom 1. September 1952 bis zum 31. Dezember 1958 war er kaufmännischer Angestellter (Gruppe C des Tarifs der kaufmännischen Angestellten des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaus), schließlich führte er vom 1. Januar 1959 bis zum 31. Juli 1962, dem Tag seiner Zurruhesetzung, die Staubkartei und wurde als kaufmännischer Angestellter der Gruppe B entlohnt.

Den Antrag des Klägers vom 16. Februar 1960, ihm die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Juli 1960 ab. Sie verwies den Kläger - ausgehend vom Beruf des Grubensteigers - auf die Tätigkeiten des Platz-, Hafen- und Bahnmeisters sowie auf die Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen: Es liege kein erzwungener Berufswechsel vom Reviersteiger zum Grubensteiger vor, so daß vom Grubensteiger als bisherigem Beruf des Klägers auszugehen sei. Der Kläger könne deshalb auf die Tätigkeiten des Platz-, Hafen- und Bahnmeisters sowie auf die kaufmännische Tätigkeit nach Tarifgruppe B verwiesen werden.

Mit Urteil vom 3. Juli 1962 hat das Sozialgericht (SG) die Bescheide der Beklagten aufgehoben und sie verurteilt, dem Kläger Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit vom Zeitpunkt der Antragstellung an zu gewähren. Das SG hat den Standpunkt vertreten, daß der Kläger - gleichgültig, ob bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit vom Beruf des Grubensteigers oder des Reviersteigers auszugehen sei - auf Meistertätigkeiten über Tage und auf die Tätigkeit eines kaufmännischen Angestellten der Tarifgruppe B nicht verwiesen werden könne.

Auf die Berufung der beklagten Knappschaft hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 5. März 1964 das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei nicht berufsunfähig, weil er sich im Rahmen von § 46 Abs. 2 RKG auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers (kaufmännischer Angestellter der Tarifgruppe B), die er in der streitigen Zeit ausgeübt habe, verweisen lassen müsse. Dabei sei es gleichgültig, ob vom Beruf des Grubensteigers oder dem des Reviersteigers auszugehen sei. Durch seine Tätigkeit als Führer der Staubkartei habe der Kläger mehr als die Hälfte des tariflichen Gehalts eines Reviersteigers verdient, wie eine Gegenüberstellung der entsprechenden tariflichen Gehälter beweise. Mit dem Übergang von dem Beruf des Reviersteigers zur Tätigkeit eines Staubkarteiführers (kaufmännischer Angestellter - Gruppe B) sei auch kein wesentlicher sozialer Abstieg verbunden. Zwischen beiden Tätigkeiten bestehe eine gewisse Verwandtschaft. Ein Versicherter könne bei seiner Arbeit in der Sicherheitsdienststelle, wozu die Staubkartei rechne, seine Kenntnisse und Erfahrungen als Steiger, das Vertrautsein mit den örtlichen Verhältnissen im Grubenbetrieb und das Wissen um die mit der Staubbelastung zusammenhängenden Fragen verwerten. Schon dieser Zusammenhang zwischen den hier zu vergleichenden Berufen spreche in gewisser Weise gegen einen wesentlichen sozialen Abstieg. Im übrigen habe der Kläger als Staubkarteiführer nicht etwa eine völlig untergeordnete Stellung, wie schon seine Eingruppierung als kaufmännischer Angestellter der Gruppe B erkennen lasse. Die Tätigkeit eines Staubkarteiführers habe eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, namentlich angesichts der intensiven Maßnahmen zur Bekämpfung des Gesteinstaubes und seiner gefährlichen Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Bergleute.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt.

Er rügt in verfahrensrechtlicher Hinsicht, in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sei auf mehrere Entscheidungen des erkennenden Senats und auf ein Schreiben des Kultusministers des Landes Nordrhein-Westfalen Bezug genommen worden, ohne daß ihm die Entscheidungen und das Schreiben des Kultusministers bekannt gewesen oder bekanntgemacht worden seien. Aus diesem Grunde könne er sich in seiner Revision mit den vorgenannten Urteilen und dem Schreiben des Kultusministers nicht auseinandersetzen. Zumindest sei es erforderlich, daß die betreffenden Akten beigezogen und ihm zugängig gemacht würden.

Das angefochtene Urteil sei auch insoweit fehlerhaft, als es seine Berufsunfähigkeit in der streitigen Zeit ablehne. Er brauche sich nicht auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers verweisen zu lassen. Weder einem Reviersteiger noch einem Grubensteiger sei es zuzumuten, Arbeiten zu verrichten, die von jeder kaufmännischen Hilfskraft oder auch von einem kaufmännischen Lehrling durchgeführt werden könnten, wie sich aus den bei den Akten befindlichen Unterlagen aus der Staubkartei ergebe. Noch deutlicher würde sich der Unterschied gezeigt haben, wenn das LSG sich die Tätigkeit eines Staubkarteiführers in der Praxis angesehen hätte. Es werde deshalb auch gerügt, daß das LSG es unterlassen habe, insoweit ein präsentes Beweismittel auszuschöpfen.

Die Hinweise auf die Lohn- und Gehaltsdifferenzen zwischen einem Revier- bzw. Grubensteiger einerseits und einem kaufmännischen Angestellten andererseits gingen fehl. Kein Unternehmen verwende normalerweise für eine solche Tätigkeit einen leistungsfähigen und gutbezahlten kaufmännischen Angestellten. Das soziale Ansehen eines Staubkarteiführers könne mit demjenigen eines Revier- bzw. Grubensteigers nicht verglichen werden. Das Führen der Staubkartei sei eine im wesentlichen mechanische Tätigkeit, die inzwischen fast vollständig automatisiert worden sei. Selbständige Entscheidungen habe der Karteiführer nicht zu treffen. Er habe nur das in die Kartei einzutragen, was von anderen Stellen angeordnet werde.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Kläger könne als Reviersteiger auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers verwiesen werden. Die besonderen Anforderungen des bergmännischen Berufslebens hätten zur Folge, daß der versicherte Bergmann in aller Regel lange vor seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß die berufliche Spitzenstellung (= Hauptberuf) aufgebe und zu geringer bewerteten Tätigkeiten in den Tagesbetrieben übergehe. Eine derartige Abwärtsentwicklung gehöre regelmäßig zum geschlossenen Bild des Bergmannsberufs. Diese Besonderheit des bergmännischen Berufslebens, insbesondere die Üblichkeit des Berufswechsels bei vorzeitig eintretendem Leistungsbruch, sei bei Prüfung der Berufsunfähigkeit im Sinne von § 46 Abs. 2 RKG angemessen zu berücksichtigen. Der erfolgreiche Besuch der Bergschule und die jahrzehntelange Steigertätigkeit, die in aller Regel die Führung von Schichtenzetteln sowie die Anfertigung von Materialbestellungen und andere schriftliche Arbeiten mit sich brächten, hätten den Kläger genügend wort- und schriftgewandt gemacht, um erfolgreich Büroarbeiten ausführen und auch mit gelernten Büroangestellten konkurrieren zu können. Berufsunfähigkeit im Sinne des § 46 Abs. 2 RKG könne also nicht angenommen werden, zumal auch die dem Kläger objektiv noch möglichen Tätigkeiten eines Holz- oder Versandmeisters nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats einem Steiger subjektiv zumutbar seien.

II

Die Revision ist begründet, weil dem angefochtenen Urteil bei der Beurteilung der Berufsfähigkeit des Klägers nicht in allen Punkten gefolgt werden kann.

Es kann dahinstehen, ob die Rüge des Klägers, ihm seien die in dem angefochtenen Urteil in Bezug genommenen Urteile und sonstigen Unterlagen nicht bekanntgegeben worden, durchgreift. Denn die Revision hat schon aus einem anderen Grunde Erfolg.

Das Berufungsgericht hat es offen gelassen, ob der Kläger im Hauptberuf ("bisheriger Beruf" i. S. des § 46 Abs. 2 RKG) Reviersteiger oder Grubensteiger gewesen ist. Es ist davon ausgegangen, daß sowohl ein Grubensteiger als auch ein Reviersteiger bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit nach § 46 Abs. 2 RKG auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers verwiesen werden kann. Dieser Auffassung kann nicht im vollen Umfang gefolgt werden. Richtig ist zwar, daß der Kläger durch Verrichtung einer solchen Tätigkeit mindestens die Hälfte dessen erwerben kann, was ein gesunder Versicherter gleicher Art, sei es ein Grubensteiger oder ein Reviersteiger, verdient. Das Berufungsgericht denkt wohl auch zu Recht nicht daran, einen Grubensteiger und einen Reviersteiger auf eine einfache Karteikartenführertätigkeit zu verweisen. Doch meint es, sowohl der Grubensteiger als auch der Reviersteiger könnten auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers verwiesen werden, da diese besondere Bedeutung habe und besondere Kenntnisse erfordere. Soweit es sich um den Grubensteiger handelt, ist der Auffassung des Berufungsgerichts im Ergebnis zuzustimmen. Zwar ist es entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts bei der Entscheidung der Frage, ob ein Steiger auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers zumutbar verwiesen werden kann, nicht von wesentlicher Bedeutung, daß er besondere Kenntnisse der Untertageverhältnisse hat. Sicherlich sind solche Kenntnisse für die Führung dieser Kartei wertvoll. Aber dieser Umstand hat nur Bedeutung für die Frage, ob der Steiger die beruflichen Fähigkeiten hat, eine Staubkartei zu führen, nicht aber dafür, ob ihm die Verrichtung dieser Tätigkeit zumutbar ist. Auch kann dem Berufungsgericht nicht darin gefolgt werden, daß es eine Verweisung für zumutbar hält, weil es üblich ist, Steigern, die nicht mehr unter Tage eingesetzt werden können, solche Tätigkeiten zu übertragen.

Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß eine solche Verweisung zumutbar ist (vgl. SozR RKG Nr. 12 zu § 46). Dem Berufungsgericht ist jedoch darin zuzustimmen, daß die Führung einer Staubkartei nicht als einfache Tätigkeit zu bewerten ist, weil sie gewisse Kenntnisse der Untertageverhältnisse voraussetzt und als besonders verantwortungsvoll anzusehen ist, da von der richtigen Führung dieser Kartei für die Gesundheit der Bergleute wichtige Entscheidungen abhängen. Ihre Bedeutung geht also über die einer normalen Bürokartei nicht unwesentlich hinaus. Aus diesem Grunde ist mit dem Berufungsgericht anzunehmen, daß die Verweisung eines Grubensteigers auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers zulässig ist.

Dagegen ist es zweifelhaft, ob einem Reviersteiger nach § 46 Abs. 2 RKG zugemutet werden kann, die Tätigkeit eines Staubkarteiführers zu verrichten. Der Reviersteiger hat in aller Regel nicht nur - wie der Grubensteiger - den Beruf des Hauers erlernt, danach noch mehrere Jahre die Bergschule besucht und eine Abschlußprüfung bestanden, sondern er ist auch noch eine Reihe von Jahren als Grubensteiger tätig gewesen, bevor er zum Reviersteiger aufgerückt ist. Entscheidend aber ist, daß der Reviersteiger eine relativ selbständige Stellung hat, weil ihm die Leitung eines Reviers verantwortlich übertragen ist und er Vorgesetzter der in diesem Revier beschäftigten Bergleute und Grubensteiger ist. Ein solcher Versicherter kann auf die Tätigkeit eines Karteiführers selbst dann nicht verwiesen werden, wenn es sich, wie bei der Führung der Staubkartei, um eine Tätigkeit handelt, die besonders bedeutungsvoll ist. Im Hinblick auf die besondere Stellung des Reviersteigers und die ihm obliegende Verantwortung kommt eine Verweisung nur auf solche Tätigkeiten in Betracht, die mit größerer Verantwortung verbunden sind und eine gewisse eigene Entscheidungsbefugnis erfordern. Dies wäre nicht der Fall, wenn die Führung der Staubkartei nur in dem mechanischen Übertragen von vorgelegten Daten bestehen würde. Hat der Führer der Staubkartei dagegen in eigener Verantwortung zu entscheiden, welche Eintragungen an Hand des vorgelegten Materials vorzunehmen sind, so könnte auch ein Reviersteiger auf diese Tätigkeit verwiesen werden. Ob die Führung der Staubkartei solche Entscheidungen erfordert oder ob sie nur die mechanische Übertragung vorgelegter Daten zum Inhalt hat, kann auf Grund der von dem Berufungsgericht getroffenen Feststellungen nicht entschieden werden. Da es auf diese Frage entscheidend ankommt und das Berufungsgericht die hierzu erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverwiesen.

Das LSG wird zunächst zu prüfen haben, ob der Kläger im Hauptberuf Grubensteiger oder Reviersteiger gewesen ist. Wenn auch vieles dafür spricht, daß die von dem Kläger zuletzt im Untertagebetrieb ausgeübte Tätigkeit des Grubensteigers als sein Hauptberuf anzusehen ist, da er sich von der vorhergehenden Tätigkeit des Reviersteigers wahrscheinlich freiwillig gelöst haben wird, so kann doch der erkennende Senat diese Frage nicht entscheiden, weil es an den erforderlichen Einzelfeststellungen fehlt. Sollte bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Klägers von der Tätigkeit des Reviersteigers auszugehen sein, so wird das LSG auf Grund der vorstehenden Darlegungen zu entscheiden haben, ob auch der Reviersteiger auf die Tätigkeit eines Staubkarteiführers verwiesen werden kann. Dabei ist aber nicht nur auf die Art der Staubkarteiführung bei der jetzigen Arbeitgeberin des Klägers, sondern auf die übliche Art der Staubkarteiführung im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau überhaupt abzustellen. Kommt das Berufungsgericht zu dem Ergebnis, daß einem Reviersteiger unter Berücksichtigung der vorstehenden Darlegungen die Tätigkeit eines Staubkarteiführers nicht zugemutet werden kann, so wird es weiter prüfen müssen, ob er auf sonstige Übertagetätigkeiten verwiesen werden kann.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380197

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