Entscheidungsstichwort (Thema)
Erläuterung des Gesetzes durch den Gesetzgeber
Leitsatz (amtlich)
Die Witwenrente aus der Versicherung des 1. Ehemannes lebt nach Auflösung einer 3. Ehe nicht wieder auf (Anschluß an BSG 1965-06-23 11/1 RA 70/62 = BSGE 23, 124).
Leitsatz (redaktionell)
Wenn der Gesetzgeber als solcher ein Gesetz authentisch und sonach allgemein verbindlich erläutern will, muß er sich des Mittels der Rechtsetzung bedienen.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. März 1970 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin begehrt, nachdem ihre vierte Ehe aus dem Verschulden des Mannes geschieden worden ist, die Wiederbewilligung der Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes. Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) lehnte den Antrag ab. Sie erklärte, nach § 1291 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lebe der Anspruch auf Witwenrente nur einmal wieder auf; er sei bereits mit Eingehen der dritten Ehe endgültig erloschen.
Der Klage hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat sie abgewiesen. Es hat sich von der Überlegung leiten lassen, daß die Klägerin ihre vierte Ehe nicht mehr als Witwe ihres ersten Ehemannes - des Versicherten -, sondern als geschiedene Frau des dritten Ehemannes geschlossen habe.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Sie meint, § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO - die hier einschlägige Vorschrift bezeichne die Hinterbliebene eines Versicherten auch dann noch als dessen Witwe, wenn diese mehrmals wiedergeheiratet habe. Außerdem habe die Witwe mit ihrem Rentenanspruch ein eigenes, ihre Versorgung sicherndes Recht erworben, das nicht infolge eines späteren Eheschlusses ein für allemal untergehe.
Die Beklagte hält das Urteil des LSG für richtig.
Die Revision ist unbegründet.
Mit der in diesem Rechtsstreit aufgeworfenen Rechtsfrage hat sich das Bundessozialgericht (BSG) bereits früher für den Bereich der Kriegsopferversorgung (BSG 17, 120; 21, 35) und auch für den der Rentenversicherung (BSG 23, 124) befaßt. Es hat entschieden, daß der Witwe eines Versicherten nur bei ihrer ersten Wiederheirat die Abfindung des Anspruchs auf Hinterbliebenenrente zusteht, und hat ausgeführt, daß der Anspruch auf die Witwenrente nur nach Auflösung der zweiten, nicht aber auch nach dem Ende der dritten oder einer weiteren Ehe wiederauflebe (BSG 23, 127).
Bei diesen Entscheidungen hat das BSG an das natürliche Sprachempfinden angeknüpft: Als Witwe, die wieder heirate - und davon spreche § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO -, könne nur diejenige Frau angesehen werden, die nach dem Tode ihres Ehemannes als seine Witwe eine neue - zweite - Ehe eingehe. Nach diesem Eheschluß sei diese Frau nicht mehr Witwe. Werde die zweite Ehe geschieden und heirate die Frau zum dritten Mal, so schließe sie diese Ehe nicht als Witwe des ersten, sondern als geschiedene Frau des zweiten Mannes. Gegenüber diesem sprachlichen Argument hat die Revision darauf aufmerksam gemacht, daß § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO die Ehefrau des Versicherten auch dann noch als Witwe bezeichne, nachdem sie sich wieder verheiratet habe ("Hat eine Witwe ... sich wiederverheiratet": "und wird diese Ehe ... ohne ... Verschulden der Witwe ... aufgelöst"). Diese Formulierungen sind indessen auch dem BSG nicht entgangen. Daß das Gesetz an den angeführten Stellen die Bezeichnung "Witwe" beibehält, hat es damit erklärt, daß die Witwe des ersten Ehemannes den Anspruch auf die wiederauflebende Rente nur habe, weil sie die Witwe des Versicherten gewesen sei; aus dieser Bezeichnung ergebe sich aber nicht, daß sie es auch noch nach der zweiten Ehe geblieben sei (BSG 23, 126). - Weiterhin hat sich das BSG von dem Zweck des Gesetzes leiten lassen. Der Gesetzgeber habe, um unerwünschten Rentenkonkubinaten (Onkelehen) entgegenzuwirken, in Gestalt der Witwenrentenabfindung eine "Starthilfe" zur Errichtung eines neuen Hausstandes geschaffen und sei dem Sicherungsinteresse der Witwe dadurch entgegengekommen, daß er ihr für den Fall des Scheiterns der neuen Ehe den Wiederbeginn der Hinterbliebenenrente in Aussicht gestellt habe. Dem Gesetz sei aber nicht zu entnehmen, daß auch eine dritte oder weitere Heirat durch Zusagen aus der Versicherung des ersten Ehemannes erleichtert werden sollte. Davon könne um so weniger ausgegangen werden, als die Höhe einer wiederholten Abfindung und einer mehrmals erneuerten Rente durch die Verrechnung mit früher gewährten Abfindungen und durch die Anrechnung inzwischen erworbener Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenansprüche beeinträchtigt werde. Dem Wunsch nach "Starthilfe" und dem Sicherungsbedürfnis würde also häufig nur unvollkommen genügt. - Diesen Darlegungen ist die Revision mit dem Gedanken begegnet, die das Wiederaufleben der Witwenrente anordnende Norm müsse im Zusammenhang damit gesehen werden daß sich die Aufgabe des Rentenversicherungsverhältnisses gewandelt habe. Die Rente habe für die Witwe nicht bloß wie früher Unterhaltsersatzfunktion, sondern diene auch ihrer lebenslänglichen sozialen Sicherung. Deshalb dürfe mit der Wiederverheiratung nicht der definitive Verlust der Witwenrente verbunden sein. Die Witwe werde nicht lediglich auf die durch die neue Ehe erworbenen Unterhaltsquellen verwiesen, sondern bleibe im Schutz der Versicherung ihres ersten Ehemannes. Deshalb verliere sie niemals mehr die Eigenschaft als Witwe des Versicherten. Damit kommt die Revision in ihrer Rechtsansicht solchen Vorstellungen nahe, die - im Hinblick auf eine künftige Gesetzgebung - unter dem Stichwort "Einbeziehung der nichtberufstätigen Ehefrau in die Rentenversicherung" diskutiert werden (vgl. Bericht der Bundesregierung zur Frage der Rentenversicherung, Bundestagsdrucksache VI/1126 unter A I 5 S. 12). Für das geltende Recht kann der Revision nicht beigepflichtet werden. Der Anspruch auf die Witwenrente ist nicht von seiner Unterhaltsersatzfunktion gelöst; er ist eine vom Ehemann abgeleitete Berechtigung; diese ist sowohl in ihrem Bestand als auch der Höhe nach von der Versicherung des Mannes abhängig. Mit der Heiratsabfindung und dem Neuerwerb einer infolge der zweiten Ehe verlorenen Rente wird zwar wirtschaftlichen Belangen der Frau entsprochen, die Einführung dieser Leistungen ist aber vornehmlich im öffentlichen Interesse geschehen. Freilich kann man bezweifeln, ob der sozialpolitisch erwünschte Effekt, nämlich "wilde Ehen" junger Witwen zu vermeiden, mit den vorhandenen gesetzlichen Mitteln überhaupt wirksam erreicht wird. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat die Gründe für einen solchen Zweifel geschildert; darauf wird Bezug genommen (Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerwG Nr. 232 § 164 BBG; dazu auch Plog/Wiedow, Kommentar zum Bundesbeamtengesetz, Rd. Note 20 zu § 164). Der Gefahr einer Ausnutzung der gesetzlichen Möglichkeiten und eines Mißbrauchs des Scheidungsrechts könnte vielleicht durch eine andere Rechtsgestaltung besser begegnet werden (hierzu Näheres: BVerwG aaO). In Anbetracht der Mißbrauchsgefahr und des Umstandes, daß umfassende Erfahrungen mit den in Betracht kommenden Rechtsinstituten - soweit ersichtlich - noch nicht gesammelt und ausgewertet worden sind, erscheint es angebracht, die Gesetzesanwendung in Grenzen zu halten. Das ist um so eher angezeigt, als sich die Rechtsfrage in mehreren Bereichen der sozialen Sicherung stellt (§ 164 Abs. 3 des Bundesbeamtengesetzes; § 44 Abs. 2 des BVG; § 23 Satz 2 des Bundesentschädigungsgesetzes; § 59 Abs. 3 des Soldatenversorgungsgesetzes; § 615 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung) und die Antwort nicht allein von den Aspekten eines einzelnen Teilbereichs her gegeben werden sollte. Indem nur eine zweite Heirat unter § 1291 Abs. 2 RVO subsumiert wird, dürfte am ehesten gewährleistet sein, daß bloß solche Verbindungen von Mann und Frau gefördert werden, die sich als dauerhaft erwiesen haben oder erweisen werden und die allein durch Heirat legalisiert werden sollten. Aus diesen Überlegungen heraus schließt sich der erkennende Senat der in BSG 23, 124 veröffentlichten Entscheidung des 11. Senats des BSG an.
Hieran sieht sich der Senat nicht durch eine Stellungnahme gehindert, die der Sozialpolitische Ausschuß des Bundestags während der Beratung des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes abgegeben hat. Zu § 615 Abs. 2 RVO (= § 612 Abs. 2 des Gesetzentwurfs), der die Regelung des § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO im wesentlichen für das Recht der Unfallversicherung gebracht hat, heißt es im Schriftlichen Bericht des Ausschusses (Bundestagsdrucksache IV/938 neu): "Im Ausschuß besteht übereinstimmend die Auffassung, daß die Abfindung nach Absatz 1 nicht nur bei der erstmaligen Wiederverheiratung, sondern auch bei einer möglicherweise folgenden Wiederverheiratung gewährt werden sollte." Diese Mitteilung verdient nicht allein in bezug auf die erwähnte Rentenabfindung, sondern auch für ein Wiederaufleben der Rente Beachtung. Andererseits ist zu bedenken, daß zu der im Streitfalle anzuwendenden - älteren - Vorschrift des § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO keine gleichlautende Stellungnahme vorliegt. Die Absichtsäußerung des Ausschusses betrifft vielmehr einen anderen, wenn auch das gleiche Thema behandelnden, aber nicht demselben Versicherungszweig angehörende Rechtssatz. Vor allem aber ist mit der Verlautbarung des Ausschusses nicht einmal diese andere Bestimmung - § 615 Abs. 2 RVO - authentisch interpretiert worden. Denn, wenn der Gesetzgeber als solcher ein Gesetz authentisch und sonach allgemein verbindlich erläutern will, muß er sich ebenfalls des Mittels der Rechtsetzung bedienen (Reichsgericht in Zivilsachen 27, 411; Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, 80; Ossenbühl, Archiv des öffentlichen Rechts, 92. Band, 1967, 9 f.). Interpretiert der Gesetzgeber aber nicht als solcher, so ist die Kundgabe seiner Meinung nicht authentisch. Der Vorgang ist ebenso zu beurteilen, wie wenn die Rechtserkenntnis vom Richter ausginge. Die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten sind mithin nicht abgeschnitten, nicht auf ein einziges Auslegungsergebnis eingeengt (Ossenbühl aaO). Das gilt schon gar nicht für das Verständnis der hier in Rede stehenden älteren Normen des § 1291 Abs. 2 Satz 1 und des § 1302 Abs. 2 RVO sowie des § 44 Abs. 1 und 2 BVG. Zumindest in bezug auf die letzterwähnte Vorschrift gab es zur Zeit der Stellungnahme des erwähnten Bundestagsausschusses eine gefestigte höchstrichterliche Rechtsprechung, die dem Gesetzgeber gegenüber so lange ihr eigenes Gewicht behält, bis er ihr als solcher entgegenwirkt. Die gefestigte Judikatur wäre zwar aus Gründen einer besseren Einsicht zu korrigieren. Von ihr ist aber im Interesse einer kontinuierlich gleichmäßigen Rechtsanwendung nicht lediglich deshalb, weil eine andere Meinung in einem Bundestagsausschuß geäußert wurde, abzurücken. Daß der Ausschuß bei der Beratung des § 615 Abs. 2 RVO der von seiner Ansicht abweichenden Rechtsprechung zu anderen Vorschriften hat entgegentreten wollen, hat er nicht ausgesprochen; das ist auch nicht im Gesetz verdeutlicht worden. Dazu hätte aber wegen der Auslegungsbedürftigkeit und wegen der Nichtübereinstimmung seiner Absichten mit der Judikatur Anlaß bestanden. So ist es bei der Situation geblieben, daß sowohl die Auffassung des Ausschusses als auch die von dem BSG vertretene mit dem Gesetzestext vereinbar sind. Ein Vergleich des § 615 Abs. 2 RVO mit dem § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO läßt sogar die Rückkehr zu einer entschiedeneren Formulierung erkennen. § 615 Abs. 2 RVO lautet: "Hat die Witwe ... sich wiederverheiratet und wird diese Ehe ... aufgelöst, so lebt der Anspruch ... wieder auf." Demgegenüber spricht § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO von "einer" Witwe, deren Anspruch mehrmals entsteht. So wie in § 615 Abs. 2 RVO ist auch in § 44 Abs. 1 BVG der bestimmte Artikel "die" - "die Witwe" - verwendet. Gerade daraus hatte das Urteil in BSG 17, 122 gefolgert, daß nur an die unmittelbar durch den Tod ihres Ehemannes betroffene Frau gedacht sein könne. Unter diesen Umständen sieht sich der Senat nicht zu einer Änderung der Rechtsprechung veranlaßt.
Das Berufungsurteil ist zu bestätigen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen