Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Fliegerbombe. Kausalität
Orientierungssatz
1. Nicht jeder Unfall, den ein Beschäftigter während des Aufenthalts in einer im betrieblichen Interesse erstellten Gemeinschaftsunterkunft erleidet, erfüllt die Voraussetzungen eines entschädigungspflichtigen Arbeitsunfalls iS des § 542 RVO.
2. Unfallversicherungsschutz ist bei Unfällen in sogenannten Betriebslagern im allgemeinen nicht gegeben, wenn der Unfall sich während der arbeitsfreien Zeit ereignet hat.
Normenkette
RVO § 537 Abs. 1, § 542; SozSichAbkZVbg BEL 3
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.04.1970) |
Tenor
Die Revisionen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. April 1970 werden zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger zu 2) ist belgischer Staatsangehöriger und wohnt in Belgien. Er war seit Dezember 1942 bei der Firma K-H-D AG in K beschäftigt und wohnte in einem Ausländerlager in K, G-straße. In der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1943 wurde er in der Nähe des Lagers, das er wegen Fliegeralarms verlassen hatte, um Schutz in der Umgebung zu suchen, bei einem Luftangriff verletzt. Er wurde wegen eines Schädelbasisbruchs einige Monate stationär behandelt.
Wegen der Folgen des Unfalls erhält der Kläger zu 2) vom Königreich Belgien (Kläger zu 1) durch das Ministerium für Volksgesundheit und Familie, Abteilung "Kriegszivilopfer", eine Rente.
Mit dem an den Kläger zu 2) gerichteten Bescheid vom 15. September 1961 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Entschädigung aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, daß ein innerer Zusammenhang zwischen dem Unfall und der betrieblichen Tätigkeit nicht gegeben sei.
Hiergegen hat der belgische Minister für Volksgesundheit und Familie namens des Klägers zu 1) - Königreich Belgien - unter Bezugnahme auf Art. 7 Abs. 3 der Dritten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 - Allgemeines Abkommen - über die Zahlung von Renten für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Abkommens (BGBl 1963 II S. 404 - 3. ZV), ebenfalls vom 7. Dezember 1957, Klage beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben. Der Verletzte hat sich der Klage im Laufe des Verfahrens angeschlossen. Die Kläger haben geltend gemacht: Es habe sich bei dem Wohnlager um ein Betriebslager gehandelt, so daß ein Arbeitsunfall vorliege. Das Lager sei als "Ostarbeiterlager der Firma K-H-D K" bezeichnet gewesen. Dort seien ausschließlich Beschäftigte dieser Firma untergebracht gewesen. Ein Teil des Lohnes der Arbeiter sei für die im Lager erhaltene Verpflegung einbehalten worden. Die Firma K-H-D AG habe in einem Schreiben vom Jahre 1964 nach Erkundigungen bei früheren Betriebsangehörigen mitgeteilt, daß das Lager in der G-straße von der Arbeitsverwaltung in Verbindung mit der Deutschen Arbeitsfront (DAF) eingerichtet und die Einweisung in das Lager von den Behörden der Arbeitsverwaltung vorgenommen worden sei. Neben den Beschäftigten anderer Firmen seien in dem Lager vorwiegend Arbeiter der Firma K-H-D AG untergebracht gewesen. Wer die Kosten für die Errichtung und Unterhaltung des Lagers getragen habe, sei nicht bekannt. Die Betriebsangehörigen der Firma K-H-D seien im Lager durch den Pächter der Werkskantine bei Einbehaltung eines Teils ihres Lohns verpflegt worden.
Das SG hat die Klage durch Urteil vom 20. Juli 1966 mit der Begründung abgewiesen, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und der versicherten Tätigkeit bestehe nicht, weil das Lager nicht als ein Betriebslager anzusehen und der Kläger zu 2) im übrigen außerhalb des Lagers verletzt worden sei.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Kläger durch Urteil vom 16. April 1970 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Gegenstand des Verfahrens sei der vom Kläger zu 2) und für ihn zugleich vom Kläger zu 1) geltend gemachte Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen der erlittenen Verletzungen, soweit er nicht auf den Kläger zu 1) übergegangen sei, und der Anspruch des Klägers zu 1) auf die in Höhe der an den Kläger zu 2) erbrachten Leistungen übergegangenen Rentenansprüche. Grundlage des erstgenannten Anspruchs sei die Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 25. September 1958 (BGBl II S. 473 - EWG-VO Nr. 3). Die Berechtigung des Klägers zu 1), aus übergegangenem Recht vorzugehen, ergebe sich aus Art. 7 Abs. 3 3. ZV. Der Kläger zu 2) habe keinen Anspruch auf Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung, weil es sich bei dem schädigenden Ereignis nicht um einen Arbeitsunfall i.S. des § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO aF) gehandelt habe. Da sich der Kläger zu 2) im Zeitpunkt seiner Verletzung in der näheren Umgebung des Wohnlagers aufgehalten habe, ohne sich auf dem Weg zur oder von der Arbeit zu befinden, hätte Versicherungsschutz nur bestanden, wenn das Lager ein sog. Betriebslager gewesen wäre. Ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt im Lager und der betrieblichen Tätigkeit sei nicht gegeben, weil das Lager in der Grünstraße nach dem Schreiben der Firma K-H-D AG aus dem Jahre 1964 nicht von dieser Firma, sondern von der Arbeitsverwaltung in Verbindung mit der DAF eingerichtet worden sei. Das Lager habe sich weder auf der Betriebsstätte oder auf anderweitigem Betriebsgelände befunden, noch sei es in unmittelbarer Nähe der Betriebsstätte errichtet worden. Schließlich rechtfertige die Bezeichnung "Ostarbeiterlager der Firma K-H-D, K, Gstraße" nicht die Annahme, daß es sich um ein Betriebslager gehandelt habe. Da ein Teil dieser Bezeichnung schon deswegen unzutreffend sei, weil in dem Lager außer Ostarbeitern auch Fremdarbeiter aus Belgien untergebracht gewesen seien, bestehe keine Gewähr dafür, daß die sich auf die Firma K-H-D beziehende Bezeichnung zutreffend und als Ausdruck einer wesentlichen Betriebsbezogenheit des Lagers anzusehen sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Kläger haben dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Die Auffassung des LSG stehe nicht im Einklang mit dem deutsch-belgischen Sozialversicherungsabkommen, das abgeschlossen worden sei, um für Schäden, die die belgischen Fremdarbeiter während des Krieges an Leib oder Leben erlitten hätten, von deutscher Seite aus eine möglichst weitgehende Wiedergutmachung zu gewähren. Es verstoße gegen den Sinn und Zweck des Abkommens, wenn derartige Lagerunfälle von der Entschädigungspflicht ausgeschlossen würden. Beiden Vertragspartnern sei bekannt gewesen, daß der Reichsverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften e.V. mit Rundschreiben vom 13. Juli 1944 - RV 117/44 - seinen Mitgliedern in gewissem Umfang die Anerkennung von Lagerunfällen als Arbeitsunfälle empfohlen hatte. In diese Richtung habe auch die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) gezielt. Das LSG verkenne, daß der Reichsarbeitsminister (RAM) die Entwicklung, der er mit seiner Empfehlung im Erlaß vom 29. Juni 1944 - II c 697/44 - habe Rechnung tragen wollen, noch nicht als abgeschlossen angesehen habe. Er habe weiteren Bericht angefordert, sobald sich aus der unterschiedlichen Behandlung von Lagerunfällen ausländischer Arbeitskräfte Unzuträglichkeiten ergeben sollten. Daraus sei zu folgern, daß beide Vertragsstaaten sich darüber einig gewesen seien, die sog. Lagerunfälle aus der Unfallversicherung zu entschädigen. Das Ausländerlager in K, G-straße, sei ein im betrieblichen Interesse errichtetes Lager gewesen. Das ergebe sich schon aus seiner Bezeichnung. Es habe sich in unmittelbarer Nähe der Betriebsstätte befunden und lediglich oder doch überwiegend Ausländer beherbergt, die in jenem Betrieb beschäftigt gewesen seien. Es müsse davon ausgegangen werden, daß die Firma K-H-D AG die Kosten für die Errichtung und Unterhaltung des Wohnlagers getragen habe. Selbst wenn das fragliche Lager nicht unter die Richtlinien des RAM oder des Reichsverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften eingeordnet werden könnte, sei der Versicherungsschutz unter Heranziehung der Rechtsprechung, die für Unfälle bei Geschäfts- und Dienstreisen entwickelt worden sei, zu bejahen. Die Verletzung des Klägers zu 2) sei dem besonderen Gefahrenbereich zuzurechnen, der für ihn mit der Einweisung in jenes Lager verbunden gewesen sei. Würde dem Kläger zu 2) eine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung versagt, sei ein deutscher Kostenträger, der für die Folgen des Unfalls vom 3./4. Juli 1943 eintreten könnte, nicht vorhanden. Als Ausländer, der außerhalb des Bundesgebiets wohne, falle der Kläger zu 2) nicht unter den Personenkreis, auf den das Bundesversorgungsgesetz (BVG) anzuwenden sei. Ausländern, die während des Krieges im Reichsgebiet beschäftigt worden seien, habe ein Anspruch auf Fürsorge und Versorgung nach der damaligen Personenschäden-VO nicht zugestanden.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 16. April 1970 und des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20. Juli 1966 sowie des Bescheides der Beklagten vom 15. September 1961 zu verurteilen, dem Kläger zu 2) für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 3./4. Juli 1943 eine dem Grad der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit angemessene Verletztenrente ab 1. Oktober 1944 zu gewähren,
hilfsweise: den Rechtsstreit unter Aufhebung des Urteils der Berufungsinstanz an das Landessozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidungen der Vorinstanzen für zutreffend.
II
Die Revisionen sind nicht begründet.
Dem Kläger zu 2) steht wegen der Folgen des Unfalls, den er in der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1943 bei einem Luftangriff erlitten hat, eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung nicht zu. Auf den Kläger zu 1), der wegen der Verletzungsfolgen an den Kläger zu 2) nach belgischen Rechtsvorschriften eine Rente zahlt, sind infolgedessen Ansprüche nicht übergegangen (vgl. Art. 7 Abs. 3 3. ZV).
Die Frage, ob die Voraussetzungen für den mit der Klage geltend gemachten Anspruch auf Rente erfüllt sind, ist nach den deutschen Rechtsvorschriften über die gesetzliche Unfallversicherung zu beurteilen. Sowohl nach der EWG-VO Nr. 3 (vgl. Art. 12 Abs. 1) als auch nach dem deutschbelgischen Allgemeinen Abkommen (vgl. Art. 5 Abs. 1) unterliegen die Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Mitglieds- bzw. Vertragsstaates, in welchem sie beschäftigt sind oder waren. Es kann dahingestellt bleiben, ob die EWG-VO Nr. 3 (vgl. Art. 4) mit der in ihren Anhang aufgenommenen 3. ZV (vgl. Art. 6 Abs. 2 Buchst. e, Art. 5 Buchst. a der EWG-VO Nr. 3) oder ob das Allgemeine Abkommen in Verbindung mit der 3. ZV anzuwenden ist.
Der Verletzte gehörte bei seiner Beschäftigung während des zweiten Weltkriegs in Deutschland zwar zu dem Kreis der gegen Arbeitsunfall versicherten Personen. Er war aufgrund eines Arbeitsverhältnisses im Sinne des - im Unfallzeitpunkt geltenden und daher hier maßgebenden - § 537 Nr. 1 RVO idF des 6. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (6. ÄndG) - RGBl I S. 107 - (RVO aF) tätig. Die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls im Sinne des § 542 RVO aF sind jedoch, wie das LSG mit Recht angenommen hat, nicht gegeben.
Es kann dahingestellt bleiben, ob das Lager an der Grünstraße in Köln-Mülheim eine im betrieblichen Interesse errichtete Gemeinschaftsunterkunft war. Nicht jeder Unfall, den ein Beschäftigter während des Aufenthalts in einer im betrieblichen Interesse erstellten Gemeinschaftsunterkunft erleidet, erfüllt die Voraussetzungen eines entschädigungspflichtigen Arbeitsunfalls im Sinne des § 542 RVO aF. Vom Versicherungsschutz ausgenommen sind auch in sogenannten Betriebslagern die rein eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten, bei denen die Verfolgung persönlicher Interessen derart im Vordergrund steht, daß die Beziehung zu dem Beschäftigungsunternehmen bei der Bewertung der Unfallursachen als rechtlich unwesentlich ausgeschieden werden muß. Unfallversicherungsschutz ist bei Unfällen in sogenannten Betriebslagern im allgemeinen nicht gegeben, wenn der Unfall sich - wie hier - während der arbeitsfreien Zeit ereignet hat. Die Verletzung durch Fliegerbomben außerhalb des Lagers ist - auch in ihrer Schwere - nicht wesentlich auf die Art der Unterbringung zurückzuführen. Eine betriebsbezogene erhöhte Unfallgefahr war hier nicht gegeben, denn das Lager ist bei einem allgemeinen Luftangriff auf Köln getroffen worden. Beherrschende Ursache für die Verletzung des Klägers zu 2) waren unter den gegebenen Umständen Kriegsereignisse. Die Gefahren der versicherten Tätigkeit traten auch in Anbetracht der Unterbringung in einer im betrieblichen Interesse errichteten Gemeinschaftsunterkunft hinter die von dem Luftangriff ausgehende Gefahrenlage zurück.
Die zwangsweise Dienstverpflichtung des Verletzten rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Zwangsverpflichtung aus den besetzten belgischen Gebieten nach Deutschland ist nicht dem Beschäftigungsverhältnis zuzurechnen. Die Gefahrenlage, in welche die Arbeitnehmer durch die Zwangsverpflichtung gekommen sind, gehört nicht zu den Risiken, die der Arbeitgeber und damit die gesetzliche Unfallversicherung zu tragen haben.
Das deutsch-belgische Allgemeine Abkommen in Verbindung mit der 3. ZV sieht keine Wiedergutmachungsleistungen vor, es stellt vielmehr eindeutig darauf ab, ob nach den deutschen Rechtsvorschriften über die gesetzliche Unfallversicherung ein Anspruch besteht. Es bezweckt - wie bei zwischenstaatlichen Sozialversicherungsabkommen üblich - die Gleichbehandlung von belgischen und deutschen Staatsangehörigen und beruht daher im wesentlichen auf den gleichen Grundsätzen, die in den EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4 enthalten sind.
Im übrigen wird auf die Gründe des heute in der Sache 2 RU 32/71 gefällten Urteils verwiesen.
Aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung steht dem Verletzten sonach eine Entschädigung nicht zu.
Die Revisionen waren deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen