Leitsatz (redaktionell)
1. Für die Erfüllung einer Anspruchsberechtigung nach RVO § 1244a Abs 2 können neben bundes- und reichsrechtlichen Beitragszeiten auch gegebenenfalls im Ausland - europäische Mitgliedstaaten (Italien, Luxemburg) - zurückgelegte Beitragszeiten herangezogen werden.
2. Anrechnung der in Italien und Luxemburg zurückgelegten Versicherungszeiten auf die zeitlichen Anspruchsvoraussetzungen des RVO § 1244a Abs 2:
Versicherungszeiten, die in anderen Staaten der EG zurückgelegt wurden, sind für die Gewährung der stationären Tuberkulosebehandlung durch die Rentenversicherungsträger gemäß RVO § 1244a Abs 2 (AVG § 21a Abs 2) mit deutschen Rentenversicherungszeiten nach EWGV 3 Art 16 ff zusammenzurechnen, wenn sie in einer Versicherung erworben worden sind, die funktionell, dh in ihrer Aufgabe, ihrer Wirkungsweise und ihrer inhaltlichen Ausgestaltung der deutschen Rentenversicherung verwandt ist.
3. Versicherungszeiten, die in Staaten außerhalb der Mitgliedstaaten der EG zurückgelegt wurden, sind aufgrund des EWG-Rechts bei der Ermittlung der Versicherungszeiten gemäß RVO § 1244a Abs 2 (AVG § 21a Abs 2) nicht zu berücksichtigen.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 2 Fassung: 1959-07-23; AVG § 21a Abs. 2 Fassung: 1959-07-23; EWGV 3 Art. 16
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. April 1970 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Mai 1969 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin (Allgemeine Ortskrankenkasse) begehrt von der Beklagten (Träger der Rentenversicherung) den Ersatz der Kosten, die ihr durch die stationäre Heilbehandlung der Tochter des italienischen Staatsangehörigen P. P (P.) wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose entstanden sind.
Die Tochter des P. erkrankte im Mai 1965. Bis dahin hatte P. in Rentenversicherungen folgende Versicherungszeiten zurückgelegt:
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Italien 1953/1954 |
17 Wochen |
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Luxemburg 1955 |
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8 Monate |
Bundesrepublik Deutschland 1959/1960 |
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10 Monate |
Bundesrepublik Deutschland 1962 |
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4 Monate |
Italien 1962/1964 |
116 Wochen |
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Bundesrepublik Deutschland März/April 1965 |
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2 Monate. |
Außerdem war P. zeitweise in der Schweiz beschäftigt.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin einen Betrag von 10.836,50 DM zu erstatten. P. sei - so hat das SG ausgeführt - Versicherter im Sinne der ersten Alternative des § 1244 a Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gewesen. Die Zusammenrechnung seiner Versicherungszeiten sei zwar nicht nach Art. 16 der Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nr. 3) möglich, weil zwischen dem Ende der letzten ausländischen und dem Beginn der inländischen Versicherungszeit mehr als ein Monat verstrichen sei (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der EWG-VO Nr. 3); die Maßnahmen nach § 1244 a RVO zählten aber zu den in Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der EWG-VO Nr. 3 aufgeführten Leistungen bei Invalidität, so daß die Art. 26 und 27 der EWG-VO Nr. 3, die ebenfalls eine Zusammenrechnung von Versicherungszeiten vorsähen, anzuwenden seien. - Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Anwendbarkeit der Art. 26 und 27 der EWG-VO Nr. 3 stünden - so das LSG - weder die Systematik des § 1244 a RVO noch die der EWG-VO Nr. 3 entgegen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie sieht die Maßnahmen nach § 1244 a RVO als Leistungen bei Krankheit (Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der EWG-VO Nr. 3) an und hält die Klägerin für leistungspflichtig. Die letzte Versicherungszeit des P. in Italien könne wegen der Vorschrift des Art. 17 Abs. 1 Satz 2 der EWG-VO Nr. 3 nicht angerechnet werden.
Da der Ausgang des Rechtsstreits u. a. von der Auslegung von Vorschriften der EWG-VO Nr. 3 abhängt, hat der erkennende Senat gemäß Art. 177 des Vertrages zur Gründung der EWG den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) angerufen. Dieser hat durch Urteil vom 16. November 1972 den Begriff der sozialen Sicherheit im Sinne des EWG-Rechts definiert, ferner vorabentschieden, daß die Maßnahmen der Tuberkulosebekämpfung gemeinschaftsrechtlich als Leistungen bei Krankheit anzusehen seien, und daraus gefolgert, daß die Zusammenrechnung von Versicherungszeiten in mehreren Mitgliedstaaten der EWG sich nach den Art. 16 ff EWG-VO Nr. 3 richte. Schließlich hat der EuGH dahin Stellung genommen, daß der Versicherungsträger eines Mitgliedstaates solche Beitragszeiten nicht zu berücksichtigen hat, die ein anderer Mitgliedstaat nach einem zweiseitigen Abkommen mit einem Drittland gutzubringen hat. - Wegen weiterer Einzelheiten der Entscheidung wird auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache 16/72 Bezug genommen.
Die Beklagte wiederholt den oben mitgeteilten Antrag.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) ist begründet. Die Beklagte hat nicht für die Kosten der stationären Heilbehandlung, die der an Tuberkulose erkrankten Tochter des P. gewährt wurde, aufzukommen.
Eine solche Verpflichtung des Trägers der Rentenversicherung bestünde nur, wenn P. zur Zeit der Erkrankung seiner Tochter versichert im Sinne des § 1244 a Abs. 2 RVO gewesen wäre. Das war er nicht. Allein mit den nach Bundesrecht wirksamen Beiträgen (§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO) hat er weder die Wartezeit erfüllt noch eine Vorversicherungszeit von sechs Monaten innerhalb von zwei Jahren vor der Tbc-Erkrankung seiner Tochter aufzuweisen. In der deutschen Rentenversicherung war er bis dahin nur 16 Monate. Während der letzten zwei Jahre vor der Erkrankung seiner Tochter war er in Deutschland sogar nur zwei Monate versichert.
Ein anderes Ergebnis wird nicht durch Hinzurechnen von Versicherungszeiten in anderen Mitgliedstaaten der EWG erreicht. Die Erfordernisse, die für eine Zusammenrechnung solcher Zeiten verwirklicht sein müssen, sind nach der Entscheidung des EuGH (vgl. auch Urteil des Senats vom 21. Februar 1973 - 4 RJ 473/69 -) den Art. 16 ff EWG-VO Nr. 3 zu entnehmen. Dafür ist u. a. zu verlangen, daß beim Überwechseln von einem Mitgliedstaat in einen anderen die Versicherungszeiten nicht um mehr als um einen Monat unterbrochen wurden (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EWG-VO Nr. 3). Die Zeiten, deren Summierung - im Rahmen des § 1244 a RVO - aufgrund der Art. 16 ff VO Nr. 3 in Betracht kommt, sind dem Bereich der sozialen Rentenversicherung zu entnehmen (Urteil des Senats vom 21. Februar 1973 - 4 RJ 473/69 -). Da P. vor Aufnahme seiner Beschäftigung in der Bundesrepublik im März 1965 zuletzt in Italien 1964 in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis gestanden hatte, ist die Anschlußfrist des Art. 17 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 3 nicht gewahrt. Damit entfällt die Grundlage für eine Addition der Versicherungszeiten in Deutschland und einem europäischen Mitgliedstaat.
Ob und wann P. in der Schweiz der Rentenversicherung angehörte, kann auf sich beruhen. Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 verschafft dem Arbeitnehmer P. - einem italienischen Staatsangehörigen - einen solchen Rechtsvorteil nicht; denn die deutsch-schweizerische Übereinkunft begünstigt in dem hier erörterten Zusammenhang nur die Angehörigen der Vertragsstaaten. Die Berücksichtigung der in der Schweiz erworbenen Rechtspositionen käme allenfalls über den zwischen der Schweiz und Italien abgeschlossenen Vertrag in Betracht. Daran wäre zu denken, wenn diese Vertragsbeziehung zwischen Italien und der Schweiz sich mittelbar, und zwar über das Recht der EWG, auf das Versicherungsverhältnis in der Bundesrepublik auswirkte. Nach der Auslegung, die der EuGH den einschlägigen Vorschriften der VO Nr. 3 gegeben hat, sind jedoch "die Träger der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten nicht verpflichtet, in Drittländern zurückgelegte Versicherungszeiten für den Erwerb eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen".
Das Abkommen des einen Vertragspartners mit einem dritten Staat darf den anderen Vertragspartner nicht belasten.
Den versicherungsrechtlichen Vorbedingungen, unter denen die Beklagte zur Gewährung stationärer Heilbehandlung nach § 1244 a Abs. 1, 3 RVO verpflichtet sein könnte, ist sonach nicht genügt. Die mit diesem Ergebnis nicht übereinstimmenden Entscheidungen der Vorinstanzen sind aufzuheben; die Klage ist abzuweisen.
Eine Kostenerstattung findet nicht statt (§ 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes).
Fundstellen