Entscheidungsstichwort (Thema)
Meniskusschaden bei Untertagetätigkeit. Berufskrankheit. ursächlicher Zusammenhang. Beweis des ersten Anscheins
Orientierungssatz
1. Hat der Versicherte während seiner Untertagetätigkeit mindestens drei Jahre lang regelmäßig irgendeine Tätigkeit in hockender, knieender oder liegender Körperhaltung verrichtet oder hat er in schräger Lage oder in geringmächtigen Flözen gearbeitet, so ist von der Ursächlichkeit dieser Tätigkeit für den Meniskusschaden auszugehen, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für andere Ursachen vorhanden sind. In diesem Falle kann dem Kläger nicht die Beweislast für den Ursachenzusammenhang aufgebürdet werden, denn das würde dem Sinn der BKVO widersprechen.
2. Solange im Einzelfall kein Anhaltspunkt dafür vorhanden ist, daß von den vielen theoretischen Möglichkeiten außer der Untertagearbeit andere Ursachen konkret in Betracht kommen, solange also die Untertagearbeit als einzige konkrete Möglichkeit festgestellt ist, muß es bei der durch die medizinische Erfahrung begründeten Wahrscheinlichkeit für den Ursachenzusammenhang bleiben. Das führt zwar nicht zu einer Umkehr der Beweislast, jedoch geht es zu Lasten des Unfallversicherungsträgers, wenn der Beweis des ersten Anscheins nicht durch die Feststellung konkreter anderer Ursachen erschüttert werden kann.
Normenkette
RVO § 551 Abs 1 S 1; BKVO Anl 1 Nr 2102 Fassung: 1976-12-08
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 16.11.1978; Aktenzeichen L 2 BU 51/78) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 14.06.1978; Aktenzeichen S 9 BU142/77) |
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger eine Verletztenrente wegen eines Meniskusschadens zusteht.
Der Kläger ist seit 1947 im Bergbau tätig und war nacheinander Gedingeschlepper, Lehrhauer, Hauer, Lehrsteiger und Steiger. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. Juli 1977 die Gewährung einer Entschädigung für eine Berufskrankheit nach Nr 2102 der Anlage 1 der 7. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) ab.
Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil vom 16. November 1978 im wesentlichen ausgeführt, der ursächliche Zusammenhang zwischen der beruflichen Tätigkeit des Klägers und dem festgestellten Meniskusschaden sei nicht hinreichend wahrscheinlich. Es könne die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, daß andere Ursachen zur Entstehung des Meniskusschadens geführt hätten. Der gehörte medizinische Sachverständige habe überzeugend dargetan, daß das Auftreten von Meniskusdegenerationen keineswegs die übliche oder überwiegend häufige Folge von Untertagearbeiten sei, sondern daß der Meniskusschaden durch eine Vielzahl von anderen Ursachen, zB Fußballspielen, Dauerzwangshaltungen über Tage, Allgemeindegenerationen des Knieinnenraums, angeborene Fehlbildungen und angeboren-vergrößerter Popliteusspalt des Außenmeniskus hervorgerufen werden könnte. Da der Sachverständige die Ursachen beispielhaft und nicht abschließend aufgezählt habe, könne aus dem Umstand, daß die aufgeführten Beispiele im vorliegenden Fall möglicherweise nicht vorlägen, nicht gefolgert werden, nur die berufliche Untertagearbeit des Klägers sei Ursache seines Meniskusschadens. Die Untertagetätigkeit sei eine mögliche Ursache, die ebenso wie andere Ursachen den Schaden hervorgerufen haben könnte. Ob die Untertagearbeit die überwiegend wahrscheinliche Ursache sei, könne nach dem Gutachten erst durch Operation und feingewebliche Untersuchung sowie gründliche Anamnese festgestellt werden. Solange Operation und feingewebliche Untersuchungen nicht durchgeführt worden seien, sei die Ursache des Meniskusschadens nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festzustellen. Der Kläger müsse die Nachteile der verbleibenden Ungewißheit über die Ursache seiner Meniskusschädigung nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast tragen.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, daß er die Voraussetzungen der Nr 2102 der Anlage 1 zur 7. BKVO erfülle, denn er habe etwa 30 Jahre lang überwiegend knieende Untertagetätigkeiten im Bergbau verrichtet. Mangels konkreter Anhaltspunkte für andere mögliche Ursachen müsse davon ausgegangen werden, daß diese Tätigkeit den Meniskusschaden hervorgerufen habe. Der vom Berufungsgericht und von der Beklagten geforderte Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs, der nur durch eine Operation geführt werden könne, verstoße gegen die §§ 62, 65 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB 1).
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 14. Juni 1978 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Juli 1977 zu verurteilen, dem Kläger aus Anlaß einer Meniskuserkrankung eine Verletztenrente nach einer vom Gericht festzusetzenden Minderung der Erwerbsfähigkeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet. Zusätzlich trägt die Beklagte vor, der Hinweis des Berufungsgerichts auf verschiedene Entstehungsmöglichkeiten des Meniskusschadens bedeute, daß der Anscheinsbeweis als erschüttert anzusehen und nach den allgemeinen Beweisgrundsätzen zu verfahren sei. Es sei daher Sache des Klägers, den Nachweis zu führen, daß trotz verschiedener anderer denkbarer Ursachen die Körperbeschädigung auf die Untertagetätigkeit zurückzuführen sei.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen wird. Die Tatsachenfeststellungen - soweit sie verfahrensfehlerfrei zustandegekommen sind - reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nach § 581 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wird eine Verletztenrente gewährt, wenn der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Nach § 551 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch eine Krankheit, die von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung als Berufskrankheit bezeichnet wird. Nach Nr 2102 der Anlage 1 zur BKVO idF vom 20. Juni 1968 (BGBl I, 721) sind Meniskusschäden nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit unter Tage als Berufskrankheit anerkannt. Das LSG hat zwar nicht ausdrücklich festgestellt, daß der Kläger mindestens drei Jahre lang regelmäßig unter Tage tätig gewesen ist; jedoch ist es offenbar als selbstverständlich davon ausgegangen, wofür auch der berufliche Werdegang des Klägers spricht. Das allein genügt jedoch für die Anerkennung als Berufskrankheit noch nicht, denn aus § 1 der BKVO geht hervor, daß die dreijährige Untertagetätigkeit für den Meniskusschaden ursächlich sein muß (vgl auch BSG SozR Nr 1 zur Anlage Nr 26 der 5. BKVO und BSG SozR 5677 Anlage 1 Nr 42 zur 7. BKVO Nr 1).
Das LSG ist zwar davon ausgegangen, daß der Ursachenzusammenhang zwischen der Untertagetätigkeit des Klägers und dem Meniskusschaden nicht festgestellt werden könne. Daran ist der erkennende Senat jedoch nicht gebunden, denn der Kläger hat diese negative Feststellung des LSG mit einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge angegriffen. Wenn auch die dreijährige Untertagetätigkeit keine unwiderlegbare Vermutung für den Ursachenzusammenhang mit dem Meniskusschaden begründet, so kann sie jedoch zu einem Beweis des ersten Anscheins führen (vgl BSG SozR Nr 1 zur Anlage Nr 26 der 5. BKVO und SozR 5677 Anlage 1 Nr 42 zur 7. BKVO Nr 1). Der Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen der Untertagetätigkeit und dem Meniskusschaden ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats dann als erbracht anzusehen, wenn der Versicherte während seiner Untertagetätigkeit mindestens drei Jahre lang regelmäßig irgendeine Tätigkeit in hockender, knieender oder liegender Körperhaltung verrichtet oder in schräger Lage in niederen (geringmächtigen) Flözen gearbeitet hat, es sei denn, daß die Besonderheiten des Einzelfalles diesen Kausalzusammenhang ausnahmsweise nicht als wahrscheinlich erschienen lassen.
Diese gesetzliche Beweisregel hat das LSG bei seiner Beweiswürdigung nicht beachtet. Zwar hat es dem eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten beispielhaft aufgezählte Möglichkeiten entnommen, die unabhängig von der Untertagetätigkeit zu einem Meniskusschaden führen können. Es hat aber keine Feststellung getroffen, aus der sich ein konkreter Anhaltspunkt dafür ergibt, daß beim Kläger eine dieser theoretischen Möglichkeiten für den Meniskusschaden ursächlich sein kann. Allgemein bestehende mögliche Ursachen können den Beweis des ersten Anscheins nicht entkräften. Hat der Kläger also während seiner Untertagetätigkeit mindestens drei Jahre lang regelmäßig irgendeine Tätigkeit in hockender, knieender oder liegender Körperhaltung verrichtet oder hat er in schräger Lage oder in geringmächtigen Flözen gearbeitet, so ist von der Ursächlichkeit dieser Tätigkeit für den Meniskusschaden auszugehen, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für andere Ursachen vorhanden sind. In diesem Falle kann dem Kläger nicht die Beweislast für den Ursachenzusammenhang aufgebürdet werden, denn das würde dem Sinn der BKVO widersprechen. Die Regelung in Nr 2102 der Anlage 1 zur 7. BKVO geht von der medizinischen Erfahrung aus, daß nach mindestens dreijähriger Untertagetätigkeit der Meniskusschaden auf die Untertagearbeit zurückzuführen sein kann. Solange im Einzelfall kein Anhaltspunkt dafür vorhanden ist, daß von den vielen theoretischen Möglichkeiten außer der Untertagearbeit andere Ursachen konkret in Betracht kommen, solange also die Untertagearbeit als einzige konkrete Möglichkeit festgestellt ist, muß es bei der durch die medizinische Erfahrung begründeten Wahrscheinlichkeit für den Ursachenzusammenhang bleiben. Das führt zwar nicht zu einer Umkehr der Beweislast, jedoch geht es zu Lasten der Beklagten, wenn der Beweis des ersten Anscheins nicht durch die Feststellung konkreter anderer Ursachen erschüttert werden kann.
Es kommt daher nicht auf die vom Kläger aufgeworfene Frage an, ob der Kläger sich zur Feststellung des Ursachenzusammenhangs einer Operation und einer feingeweblichen Untersuchung unterziehen muß. Diese Frage kann erst dann Bedeutung erlangen, wenn entweder die Voraussetzungen für den Beweis des ersten Anscheins nicht vorhanden sind oder wenn dieser Beweis erschüttert ist.
Das LSG wird also Feststellungen zu der Frage zu treffen haben, ob der Kläger die Voraussetzungen für den Beweis des ersten Anscheins erfüllt und ob konkrete Anhaltspunkte für andere Ursachen vorhanden sind. Ist danach von der Ursächlichkeit der Untertagetätigkeit des Klägers für den Meniskusschaden auszugehen, so wird das LSG weiter festzustellen haben, in welchem Maße die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch den Meniskusschaden beeinträchtigt ist.
Der Senat hat auf die danach begründete Revision des Klägers das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen