Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff der "feindlichen Maßnahmen"
Leitsatz (amtlich)
AVG § 28 Abs 1 Nr 3 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 3) setzt feindliche Maßnahmen voraus, welche die Rückkehrverhinderung bezweckt oder unmittelbar bewirkt haben.
Orientierungssatz
1. Bei "feindlichen Maßnahmen", iS des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO) muß es sich um Maßnahmen handeln, die sich gegen den ehemaligen Kriegsgegner Deutschland richteten; hierunter fallen solche Maßnahmen, die allein oder hauptsächlich deutsche Bevölkerungsteile treffen oder gerade eine Ausreise nach Deutschland verhindern sollten (vgl BSG vom 30.6.1983 11 RA 30/82 = SozR 2200 § 1251 Nr 103).
2. Die unterstellte Unterversorgung von Deutschen im Gebiet von Königsberg ab Februar 1947, hatte eine Rückkehrverhinderung weder als Ziel noch als unmittelbar mit ihr verbundene Wirkung. Daß sie letztlich mittelbar eine Bedingung für eine Ausreiseverhinderung gewesen sein mag, kann zur Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG nicht genügen.
Normenkette
AVG § 28 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs 1 Nr 3 Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.12.1983; Aktenzeichen L 3 An 1/82) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 12.11.1981; Aktenzeichen S 5 An 68/81) |
Tatbestand
Im Streit steht, ob auch die Zeit von Februar 1947 bis August 1948 als eine Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorzumerken ist.
Während dieser Zeit hielt sich die 1920 in Königsberg/Ostpreußen geborene Klägerin, Inhaberin des Vertriebenenausweises A, ohne Ortsbeschränkung und Arbeitsverpflichtung in Ostpreußen und Litauen auf (zunächst in der Umgebung von Königsberg, ab Sommer 1947 in Litauen, ab Frühjahr 1948 abwechselnd in Gumbinnen und Litauen) und verrichtete gegen Kost und Lebensmittel Gelegenheitsarbeiten in der Landwirtschaft. Im September 1948 gelang ihr von Gumbinnen aus die Ausreise zu ihrem Ehemann nach Westdeutschland, ohne daß sie einen Ausreiseantrag zu stellen brauchte. Von der ab Februar 1947 bestehenden Möglichkeit, auf Antrag auszureisen, war ihr nichts bekannt.
Die Beklagte lehnte eine Vormerkung der strittigen Zeit mit der Begründung ab, die Klägerin sei nicht durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr verhindert gewesen (Bescheid vom 29. April 1980, Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1980).
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben, das Landessozialgericht (LSG) hat sie insoweit abgewiesen und die Revision zugelassen. Nach seiner Ansicht ist die Klägerin ab Februar 1947 keinen feindlichen Maßnahmen mehr ausgesetzt gewesen, die einen wesentlichen Grund für eine Rückkehrverhinderung darstellten. Soweit die sowjetische Verwaltung ab dieser Zeit den Deutschen die Ausreise nach Deutschland nur in beschränktem Umfang auf Antrag erlaubt habe, könne offen bleiben, ob darin eine feindliche Maßnahme iS des Gesetzes liege. Im Falle der Klägerin habe eine solche Maßnahme jedenfalls nicht wesentlich mitgewirkt, da sie den für eine Ausreiseerlaubnis notwendigen Antrag nicht gestellt habe. Daß ihre Unkenntnis Folge der in den besetzten Ostgebieten damals typischen ungeordneten Verhältnissen gewesen sei, könnte nur dann von Bedeutung sein, wenn diese Verhältnisse feindliche Maßnahmen wären. Dies sei indes nicht der Fall. Unter "feindlichen Maßnahmen" seien Handlungen eines ehemaligen Feindstaates mit Regelungs- und Eingriffscharakter zu verstehen; sie unterschieden sich grundlegend von den allgemeinen Lebensverhältnissen. Auch das Fehlen ausreichender Transportmöglichkeiten für die Ausreise stelle keine feindliche Maßnahme dar, die die Rückkehr verhindert habe.
Mit der Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß), das Urteil des Landessozialgerichts zu ändern sowie die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen, soweit diese darin verurteilt worden ist, die Zeit von Februar 1947 bis August 1948 als Ersatzzeit vorzumerken.
Zur Begründung rügt sie, das LSG habe den Begriff "feindliche Maßnahmen" verkannt. Eine solche Maßnahme liege darin, daß keine ausreichenden Transportkapazitäten für die Aussiedelung zur Verfügung gestellt worden seien; dieser Verstoß gegen das Potsdamer Abkommen stelle eine wesentliche Ursache für die erst im September 1948 mögliche Ausreise dar. Die Deutschen seien von der sowjetischen Verwaltung bewußt unterversorgt worden; wegen dieser feindlichen Maßnahme habe sie sich nach Litauen begeben müssen, um nicht zu verhungern. Von einer Ausreisemöglichkeit auf Antrag habe sie daher keine Kenntnis erlangen können.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet; zutreffend hat das LSG entschieden, daß die Beklagte nicht verpflichtet ist, die Zeit von Februar 1947 bis August 1948 als - weitere - Ersatzzeit für die Klägerin vorzumerken (zum Vormerkungsstreit s Urteil vom 9. Februar 1984 - 11 RA 6/83, BSGE 56, 151).
Als Ersatzzeittatbestand kommt hier, wovon auch die Vorinstanzen und die Beteiligten übereinstimmend ausgehen, nur § 28 Abs 1 Nr 3 AVG (idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965) in Betracht. Er setzt in der interessierenden Teilregelung das Vorhandensein von Zeiten voraus, in denen der Versicherte nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen ist; einer "Rückkehr" steht dabei nicht entgegen, daß der Versicherte vorher einen Wohnsitz außerhalb dieser Gebiete nicht gehabt hat (SozR 2200 § 1251 Nr 58 mit weiteren Hinweisen).
Den Begriff der "feindlichen Maßnahmen", den das Gesetz nicht erläutert, hat die Rechtsprechung - für Nachkriegsgeschehnisse - dahin ausgelegt (BSGE 43, 218, 220 = SozR 2200 § 1251 Nr 33; 47, 113, 115 = SozR 2200 § 1251 Nr 52; SozR aaO Nrn 58, 91, 103), daß es sich um Maßnahmen handeln muß, die sich gegen den ehemaligen Kriegsgegner Deutschland richteten; hierunter fallen solche Maßnahmen, die allein oder hauptsächlich deutsche Bevölkerungsteile treffen oder gerade eine Ausreise nach Deutschland verhindern sollten. Wegen der Verwendung des Wortes "durch" verlangt die Rechtsprechung ferner, daß zwischen der Maßnahme und der Rückkehrverhinderung ein ursächlicher Zusammenhang besteht (BSGE 47 aaO); dabei ist Ursache diejenige Bedingung, die im Verhältnis zu anderen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat.
Daß die Klägerin Maßnahmen ausgesetzt war, durch die ihre Ausreise in die damaligen Westzonen zu ihrem Ehemann in der Zeit von Februar 1947 bis August 1948 verhindert wurde, hat das LSG verneint; in diesem Ergebnis stimmt der erkennende Senat mit ihm überein. Dabei legt er zunächst seiner Beurteilung die vom LSG getroffene Feststellung zugrunde, die sowjetische Verwaltung habe zu Beginn und im Verlauf der in Rede stehenden Zeit bis zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt eine Ausreise nur auf Ausreiseantrag und in beschränktem Umfang gestattet. Ob dies allein oder vorwiegend für die deutsche Bevölkerung galt - zumal das sowjetisch verwaltete Ostpreußen zu jener Zeit noch nicht fremdbesiedelt war -, hat das LSG unentschieden gelassen. Nach Lage der Sache begegnet das keinen rechtlichen Bedenken. Auch wenn diese Maßnahmen als noch gegen den Kriegsgegner Deutschland gerichtet angesehen werden müßten, haben sie nämlich nicht wesentlich mitgewirkt, eine Ausreise der Klägerin zu verhindern. Denn die Klägerin hat es zu keiner Zeit unternommen, einen Antrag einzubringen; es ist daher für das LSG nicht feststellbar gewesen, daß die mit einer Antragstellung verbundenen Ausreisebeschränkungen sich auf die Verweildauer negativ ausgewirkt haben.
Soweit die Unkenntnis der Klägerin von der Notwendigkeit der Antragstellung auf damals "den Informationsfluß erschwerende Verhältnisse" in Ostpreußen zurückzuführen ist, fehlt es schon an einer feindlichen Maßnahme. Das LSG hat nicht festgestellt, daß die deutsche Bevölkerung vom Informationsfluß gegenüber anderen Personen in einem besonderen Maße ferngehalten worden ist; die unzureichenden Informationsverhältnisse sind deshalb als eine - wohl durch die Kriegsokkupation Ostpreußens entstandene - allgemeine Erscheinung der damaligen Zeit zu werten.
Die Klägerin will die Unkenntnis vom Erfordernis der Antragstellung allerdings ferner, worauf das LSG nicht eingegangen ist, auf eine bewußte Unterversorgung der Deutschen im Gebiet von Königsberg zurückführen; sie habe sich deswegen aus Gründen des Überlebens aufs Land und speziell nach Litauen begeben müssen und auch aus diesem Grunde nichts von der seit Frühjahr 1947 bestehenden Ausreisemöglichkeit erfahren. Ein solcher Sachverhalt, selbst wenn er festgestellt würde, kann jedoch ebenfalls nicht den Tatbestand des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG erfüllen.
Die bisher vom BSG entschiedenen Fälle einer Rückkehrverhinderung durch feindliche Maßnahmen betrafen stets Maßnahmen, die unmittelbar zu der Rückkehrverhinderung geführt haben konnten. Es handelte sich in BSGE 38, 266, 267 = SozR 2200 § 1251 Nr 7, in BSGE 43 aa0 und in SozR 2200 § 1251 Nr 91 um Ausreiseverbote, in BSGE 47 aa0 um die Wegnahme eines Passierscheins, in SozR 2200 § 1251 Nr 58 um eine restriktive Handhabung von Paßgesetzen und in SozR 2200 § 1251 Nr 103 um eine Strafverbüßung im Ausland. Bei dem von der Klägerin geltend gemachten Sachverhalt ließe sich dagegen, wenn eine bewußte Unterversorgung der deutschen Bevölkerung als feindliche Maßnahme zu kennzeichnen wäre, zwischen dieser und der Ausreise(Rückkehr)verzögerung nur ein mittelbarer Zusammenhang herstellen; in der Kausalkette würde die Verhinderung nicht mehr das der feindlichen Maßnahme nachfolgende, sondern erst ein späteres Glied bilden. In § 28 Abs 1 Nr 3 AVG hat der Gesetzgeber jedoch Maßnahmen vor Augen, welche die Rückkehrverhinderung bezweckt oder sie doch selbst bewirkt haben. Dafür spricht schon der Gesetzeswortlaut, wonach der Versicherte "durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr verhindert gewesen" sein muß; § 28 AVG setzt davon abgesehen auch allgemein unmittelbar auf den Versicherten einwirkende Eingriffe von hoher Hand voraus (vgl hierzu SozR Nrn 53 und 54 zu § 1251 RVO), was gerade § 28 Abs 1 Nr 3 in der weiteren Alternative des "dort festgehalten" besonders deutlich macht. Die unterstellte Unterversorgung hatte aber eine Rückkehrverhinderung weder als Ziel noch als unmittelbar mit ihr verbundene Wirkung. Daß sie letztlich mittelbar eine Bedingung für eine Ausreiseverhinderung gewesen sein mag, kann zur Anwendung des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG nicht genügen.
Der Umstand, daß nach Wegfall des Antragserfordernisses Transportkapazitäten für die Ausreise nur in ungenügender Zahl eingesetzt worden sein sollen, vermag schließlich ebenfalls keine feindliche Maßnahme darzustellen. Das LSG ist offenbar davon ausgegangen, daß der Sowjetunion als Folge des Krieges in der fraglichen Zeit zu wenig Transportmöglichkeiten zur Verfügung standen. Selbst wenn aber eine geringe Bereitstellung von Beförderungsmitteln aus dem Grunde erfolgt wäre, die Zahl der ausreisenden Deutschen gering zu halten, ist nicht dargetan, daß dies eine wesentliche Bedingung für eine Rückkehrverhinderung gewesen wäre. Es hat sich nämlich nicht feststellen lassen, daß Versuche der Klägerin, schon vor September 1948 auszureisen, wegen zu geringer Transportkapazitäten fehlgeschlagen sind.
Nach alledem war das Urteil des LSG, soweit es von der Klägerin angefochten worden ist, zu bestätigen. Das führte mit der aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes entnommenen Kostenfolge zur Zurückweisung der Revision.
Fundstellen