Entscheidungsstichwort (Thema)
Neu eröffneter Betrieb. Vollgewerbe
Leitsatz (redaktionell)
Im Zweifel spricht die Vermutung dafür, daß ein Gewerbebetrieb, der eröffnet wird, die Lebensgrundlage hergeben soll. Andererseits ist aber auch vielfältig durch Erfahrung bestätigt, daß ein neu begründeter Betrieb nicht in allen Fällen sogleich von Beginn an die Lebensgrundlage sein kann. Alsdann bestehen in Ausnahmefällen solcher Art keine Bedenken, einen Arbeitslosen, der zu einer selbständigen Tätigkeit übergeht, für eine gewisse, unter verständiger Würdigung der Einzelumstände zu bemessende Anlaufzeit weiter als arbeitslos anzusehen.
Normenkette
AVAVG § 87a Abs. 1 S. 1, § 136 Abs. 1 Fassung: 1927-07-16
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 2. August 1955 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Der Kläger ist gelernter Schneider, war seit 1930 als kaufmännischer Angestellter beschäftigt und betrieb seit 1933 als selbständiger Kaufmann ein Kolonialwaren- und Gemischtwarengeschäft sowie eine Kohlenhandlung in Niederschlesien. Nach der Vertreibung war er Arbeitnehmer in verschiedenen Gewerbezweigen (Sprengmeister, Montagehelfer und Bauhilfsarbeiter). Seit 1948 bezog er mit Unterbrechungen zeitweise Arbeitslosenunterstützung (Alu), zeitweise Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu).
Nachdem er aus der letzten Arbeitsstelle wegen Arbeitsmangels entlassen worden war, beantragte der Kläger neuerdings am 20. Oktober 1953 Alu. Er gab dabei an, daß er in seinem Wohnort ein Lebensmittelgeschäft besitze und daß ihm hierfür auch ein Gewerbeerlaubnisschein erteilt sei.
Das Arbeitsamt Nordhorn lehnte mit Verfügung vom 19. November 1953 den Antrag auf Alu ab, weil der Kläger "ein selbständiges Gewerbe ausübe und dem Arbeitseinsatz nicht mehr zur Verfügung stehe".
In seinem Einspruchsschreiben erklärte der Kläger, daß er in der alten Heimat seinen selbständigen Betrieb verloren habe, nach der Vertreibung jede Arbeit annahm, jedoch beabsichtige, "wieder auf eigene Füße zu kommen". Er habe als Siedler ein kleines Lebensmittelgeschäft in seiner Wohnsiedlung eröffnet. Diese Siedlung sei aber noch sehr klein, so daß erst bei weiteren Wohnbauten eine volle Existenz entstehen könne. Die Arbeit im Geschäft werde ausschließlich von seiner Frau geleistet. Seine Arbeitnehmertätigkeit habe er nicht aufgegeben. Da er ein Aufbaudarlehen bekommen habe, müsse das Geschäft auf seinen Namen laufen.
Vom Spruchausschuß wurde der Einspruch mit Entscheidung vom 21. Dezember 1953 zurückgewiesen. Es komme nicht darauf an, welche Einkünfte erzielt würden, sondern entscheidend sei, daß der Gewerbeerlaubnisschein auf den Kläger ausgestellt sei und auch der Gewerbebetrieb selbst unter dessen Namen laufe. Danach sei er selbständiger Gewerbetreibender und nicht als arbeitslos anzusehen.
II. Der Kläger erhob hiergegen Klage. Mit Urteil vom 27. April 1954 hob das Sozialgericht Osnabrück die vorangegangenen Entscheidungen der Arbeitsverwaltung auf und verurteilte die Beklagte, an den Kläger für die Zeit vom 22. Oktober bis 19. November 1953 Arbeitslosenunterstützung nach den gesetzlichen Bestimmungen zu zahlen.
Die Berufung wurde zugelassen.
Seit 20. November 1953 war der Kläger wieder als Arbeitnehmer im Baufach beschäftigt.
Die Beklagte legte Berufung ein.
Durch Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 2. August 1955 wurde das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht ging davon aus, daß der Kläger nicht arbeitslos sei, weil er als selbständiger Gewerbetreibender angesehen werden müsse. Dieser Eigenschaft stehe nicht entgegen, daß er jahrelang und fortlaufend in unselbständiger Beschäftigung tätig war und dem Arbeitsamt uneingeschränkt zur Verfügung stehe. Ferner könne ein selbständiger Gewerbetreibender das Gewerbe auch durch Hilfspersonen, wie hier der Kläger durch seine Ehefrau, ausüben und nur noch formeller Betriebsinhaber sein. Jedenfalls habe der Kläger als Flüchtling das Darlehen erhalten, um ein Lebensmittelgeschäft zu eröffnen, auf ihn laute die Gewerbeerlaubnis. Er sei dem Finanzamt gegenüber steuerpflichtig und er trage das Risiko des Betriebs. Von diesen Verpflichtungen könne er sich nur dadurch lösen, daß er aus dem Betrieb ausscheide und ihn einer anderen Person nicht nur formal, sondern tatsächlich übertrage. Das sei hier aber noch nicht geschehen. Infolgedessen sei der Anspruch des Klägers auf Alu unberechtigt.
Die Revision wurde zugelassen.
III. Gegen dieses am 19. September 1955 zugestellte Urteil legte der Kläger mit Schriftsatz vom 7. Oktober 1955, beim Bundessozialgericht eingegangen am 8. Oktober, Revision ein und beantragte,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Celle vom 2. August 1955 und der Entscheidung des Spruchausschusses vom 21. Dezember 1953 das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 27. April 1954 wiederherzustellen.
In der Revisionsbegründung vom 11. Oktober 1955, eingegangen am 13. Oktober, wurde ausgeführt, daß hinsichtlich des Betriebes des Lebensmittelgeschäfts der Kläger nur als "Strohmann" seiner Ehefrau zu betrachten sei. Im Außenverhältnis erscheine er zwar als Träger und Inhaber des Rechts, im Innenverhältnis dagegen sei er schuldrechtlich (treuhänderisch) gebunden. Es dürfe nicht vom "Rechtsschein", sondern müsse von den wirtschaftlichen Zusammenhängen ausgegangen werden. Beim Kläger fehle es sowohl an der gewerberechtlichen Voraussetzung einer eigenen Betriebsstätte wie auch an der arbeitsrechtlichen Voraussetzung der Selbständigkeit, um im Sinne des Rechts der Arbeitslosenversicherung als selbständiger Gewerbetreibender angesehen zu werden. Wirtschaftlicher Eigentümer des Geschäfts sei die Ehefrau. Im übrigen sei der Kläger durch seine Bindung an abhängige Arbeit nicht in der Lage, frei über seine Zeiteinteilung zu verfügen, und nach wie vor Arbeitnehmer. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger weiterhin bezweifelt, ob § 87 a AVAVG mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG vereinbar sei.
Die Beklagte beantragte,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie machte geltend, das Revisionsgericht sei an die Feststellungen des Berufungsgerichts, daß der Kläger und nicht die Ehefrau wirklicher Betriebsinhaber sei, gebunden. Die angeblichen Vereinbarungen zwischen den Eheleuten über ein Treuhandverhältnis bei der Geschäftsausübung seien demgegenüber bedeutungslos. Ansonsten bezog sich die Beklagte auf die ihrer Auffassung nach zutreffenden Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils.
Für die Darstellung des Tatbestands wird im übrigen auf die Urteile der Vorinstanzen, für das Vorbringen der Parteien im einzelnen auf die Schriftsätze Bezug genommen.
IV. Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), auch form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist daher zulässig (§ 169 SGG).
Die Feststellung des Landessozialgerichts, daß nach § 143 SGG die Berufung zulässig war, ist ohne Rechtsirrtum erfolgt. Verfahrensrechtlich begegnen auch die Ausführungen darüber, daß die Klage statthaft war, keinen Bedenken. Das nach §§ 78, 80 SGG für den Regelfall vorgeschriebene Vorverfahren kann als bewirkt angesehen werden, weil unmittelbar vor dem Inkrafttreten des SGG im Einspruchsverfahren die Entscheidung des Spruchausschusses vom 21. Dezember 1953 ergangen ist.
V. Materiell-rechtlich aber ist der Auffassung des Landessozialgerichts nicht zu folgen. Der Vorderrichter hat aus den Tatsachen, daß das Lebensmittelgeschäft auf den Namen des Klägers lief, ihm die Gewerbeerlaubnis erteilt war und er das Betriebsrisiko zu tragen hatte, den Schluß gezogen, der Kläger sei selbständiger Gewerbetreibender und könne deshalb nicht als arbeitslos angesehen werden. Nach seiner Meinung kommt es danach nicht darauf an, welche Erträgnisse das Gewerbe einbrachte und daß der Kläger die Arbeiten im Geschäft von seiner Ehefrau verrichten ließ, während er persönlich dem Arbeitsmarkt noch zur Verfügung stand. Diese Negationen sind jedoch nicht ausreichend, um die Anwendbarkeit des § 87 a Abs. 1 Satz 1 AVAVG zu begründen.
Der erkennende Senat hat die Begriffe des "selbständigen Gewerbetreibenden" und der "Arbeitslosigkeit" eingehend im Urteil vom 21. März 1956 - 7 RAr 7/54 - (vgl. BSG. 2 S. 67) behandelt.
Auf die dort dargelegten Einzelheiten wird verwiesen. Der Senat hat dabei als wesentliche Voraussetzung für die Anwendung des § 87 a Abs. 1 Satz 1 AVAVG bezeichnet, daß das Gewerbe ein "Vollgewerbe" darstellt, d.h. ein Gewerbe, daß nach allgemeiner Anschauung die Lebensgrundlage bildet.
Im Zweifel spricht die Vermutung dafür, daß ein Gewerbebetrieb, der eröffnet wird, die Lebensgrundlage hergeben soll. Eine gegenteilige Annahme würde vernunftgemäßem Handeln der Beteiligten widersprechen sowie aus den allgemeinen Erkenntnissen des Wirtschaftslebens nicht gedeckt sein. Andererseits ist aber auch vielfältig durch Erfahrung bestätigt, daß ein neu begründeter Betrieb nicht in allen Fällen sogleich von Beginn an die Lebensgrundlage sein kann, sondern erst durch Werbung und sonstige Entwicklungsmaßnahmen lebens- (und ertrags-) fähig zu machen ist. Alsdann bestehen in Ausnahmefällen solcher Art keine Bedenken, einen Arbeitslosen, der zu einer selbständigen Tätigkeit übergeht, für eine gewisse, unter verständiger Würdigung der Einzelumstände zu bemessende Anlaufzeit weiter als arbeitslos anzusehen und ihm die Alu noch für diese Zeit - gegebenenfalls in entsprechender Anwendung des § 136 AVAVG - ganz oder teilweise zu gewähren. Allerdings bedarf es dann einer ständigen Beobachtung der Entwicklung durch das Arbeitsamt, um diese Personen nicht gegenüber sonstigen Gewerbetreibenden und anderen Antragsstellern von Alu zu bevorzugen.
Für die Beurteilung, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, ist der Tatbestand nicht hinreichend geklärt. Es ergeben sich insbesondere erhebliche Zweifel, ob das vom Kläger begründete und unter seinem Namen laufende Lebensmittelgeschäft z.Zt. des Antrags auf Alu (20. Oktober 1953) bereits den Stand eines "Vollgewerbes" erreicht hatte oder sich noch im Anlaufstadium befand. Der Vorderrichter wird hierzu den genauen Zeitpunkt der Geschäftseröffnung feststellen und für den Sachverhalt auch Größe, Ausstattung und Lage des Geschäftes sowie die Kundenverhältnisse näher erforschen müssen. Anhaltspunkte hierfür gibt die Behauptung des Klägers, daß sich sein Geschäft in einem noch wenig erschlossenen und spärlich bebauten Siedlerortsteil befinde. Die Umsatzzahlen des Betriebs im Jahre der Antragstellung (1953) erscheinen ebenfalls von Belang. Schließlich kann bedeutsam sein, ob und wieweit zu dieser Zeit das dem Kläger gewährte Aufbaudarlehen zurückgezahlt war.
Deshalb kann der erkennende Senat in der Streitsache nicht selbst entscheiden, sondern muß sie unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Rechtlich wird der Vorderrichter davon auszugehen haben, daß der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG durch § 87 a AVAVG nicht verletzt wird. Zwar werden nach seinem Inhalt die verschiedenen Personengruppen zutreffendenfalls bei verschiedenem Tatbestand unterschiedlich behandelt. Bei gleichem Tatbestand jedoch ist für die Beteiligten die Gleichbehandlung gewährleistet.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen