Leitsatz (amtlich)

1. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist es nicht erforderlich, daß die Niederschrift, soweit sie die nach SGG § 122 Abs 1S 2 aufzunehmende endgültige Fassung der Anträge betrifft, den Beteiligten vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt wird. Der Abs 3 des § 122 berührt insoweit den Abs 1 S 2 nicht.

2. Die Freistellung eines Empfängers von Arbeitslosenunterstützung von der Meldepflicht liegt im Ermessen des Arbeitsamts. Im sozialgerichtlichen Verfahren kann nur geprüft werden, ob und inwieweit ein Ermessensfehler vorliegt. Das Gericht darf nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen.

3. Eine Arbeitnehmerin, die ihre Arbeitsstelle aufgibt, um ein pflegebedürftiges Familienmitglied zu betreuen, ist nicht arbeitslos im Sinne des AVAVG 1927 § 87a Abs 2, wenn sie durch diese persönliche Bindung keine andere als geringfügige Beschäftigung im Sinne des AVAVG 1927 § 75a Abs 2 auszuüben vermag.

4. Der Meldepflicht nach AVAG 1927 § 173 Abs 1 unterliegt der Arbeitslose auch während eines Rechtsmittelverfahrens.

 

Leitsatz (redaktionell)

Wenn der Tatbestand eines Urteils Umstände enthält, die sich gegenseitig ausschließen, und das Gericht der Entscheidung nur den einen zugrundelegt, ohne sich mit dem anderen hinreichend auseinanderzusetzen, so liegt darin eine Überschreitung des im SGG § 128 festgelegten Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung.

 

Normenkette

AVAVG § 75a Abs. 2; AVAVG 1927 § 75a Abs. 2; AVAVG § 87a Abs. 2; AVAVG 1927 § 87a Abs. 2; AVAVG § 114; AVAVG 1927 § 114; AVAVG § 173 Abs. 1 Fassung: 1932-03-21; SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 122 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Februar 1955 mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I. Die Klägerin war vom 28. November 1949 bis zum 29. August 1953 als Gießerin in der Porzellanfabrik H. W. in M. beschäftigt. Sie schied auf eigenen Wunsch aus, weil ihr krankes, an Sprechhemmungen leidendes Kind, das bisher von der Großmutter betreut worden war, zur Schule gekommen war. Da es deshalb besonderer Obhut bedurfte, wollte sie einige Zeit daheim bleiben, später aber die bisherige Beschäftigung wieder aufnehmen. Ihr Antrag auf Arbeitslosenunterstützung (Alu) wurde durch Bescheid des Arbeitsamts Marktredwitz vom 9. September 1953 auf Grund des § 87a Abs. 2 AVAVG abgelehnt, weil sie wegen persönlicher Bindungen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe.

Ihr Einspruch, in dem sie sich bereit erklärte, stundenweise Arbeit aufzunehmen, wurde vom Spruchausschuß des Arbeitsamts am 16. Oktober 1953 als unbegründet zurückgewiesen. In ihrer Berufung an die Spruchkammer des Oberversicherungsamts Nürnberg gab sie zu erkennen, daß sie zur Annahme einer Voll-Arbeitsstelle an ihrem Wohnort Hebanz bereit sei; dagegen könne sie ihres Kindes wegen zur Zeit in dem etwa 3km entfernten M. die Arbeit nicht wieder aufnehmen.

Die Berufung ging gemäß § 215 Abs. 2 des am 1. Januar 1954 in Kraft getretenen Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht Bayreuth über. Sie wurde mit Urteil vom 9. Juni 1954 abgewiesen, da die Klägerin nach § 87a Abs. 2 AVAVG dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehe. Als Facharbeiterin könne sie an ihrem Wohnort nicht vermittelt werden. Nach dem AVAVG sei sie aber verpflichtet, auch außerhalb ihres Wohnortes Arbeit aufzunehmen. Weil ihr dies nicht möglich sei, habe sie sich anscheinend auch nur bis zum 28. November 1953 ihrer Meldepflicht unterzogen.

In ihrer Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht vom 25. Juli 1954 führte die Klägerin aus: Nach ihrer "Stempelkarte" habe sie sich am 7. Dezember 1953 das letzte Mal beim Arbeitsamt gemeldet. Da sie ihr Kind von der Schule wieder habe wegnehmen müssen, habe sie am 10. Dezember 1953 bei der Firma W. "wieder um Arbeit nachgefragt und in den folgenden Tagen wieder aufnehmen können", was jedoch infolge Erkrankung ihres Kindes nicht möglich gewesen sei. Deshalb sei die Weitermeldung beim Arbeitsamt unterblieben. Der Arzt habe ihr geraten, sich "dieses Jahr" ganz ihrem Kind zu widmen und es dann auf eine Sonderschule zu schicken. Mit Schreiben vom 22. Dezember 1954 teilte sie mit, daß sich das Kind seit dem 19. November 1954 in der Hilfsschule B. befinde und sie selbst am 22. November 1954 und danach noch zweimal bei der Firma W. um Arbeit nachgefragt habe, aber "wegen Mangels an Arbeitsplätzen" nicht habe eingestellt werden können.

Auf Rückfrage des Landessozialgerichts bestätigte die Firma W. mit Schreiben vom 27. Januar 1955, die Klägerin habe im Dezember 1953 wegen Arbeitsaufnahme vorgesprochen. Der genaue Zeitpunkt könne nicht mehr festgestellt werden. Zu dieser Zeit sei jedoch kein Arbeitsplatz frei gewesen. Am 22. November 1954 habe sie neuerdings wegen Arbeit nachgefragt, aber aus dem gleichen Grunde nicht eingestellt werden können.

Mit Schreiben vom 27. Januar 1955 teilte die Klägerin zu der Frage, weshalb sie sich nicht weiterhin beim Arbeitsamt gemeldet habe, mit, sie habe am 10. Dezember 1953 bei der Firma W. um Arbeit nachgefragt "und hätte am darauffolgenden Montag anfangen können". Deshalb habe sie geglaubt, sie brauche sich beim Arbeitsamt nicht mehr zu melden. "Am Tag der Arbeitsaufnahme" sei jedoch ihr Kind erkrankt, so daß sie die Arbeit nicht habe antreten können. Inzwischen habe sie schon zwei Meldezeiten versäumt gehabt und deshalb die weitere Meldung unterlassen.

Mit Urteil vom 4. Februar 1955 erklärte das Landessozialgericht unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Bayreuth vom 9. Juni 1954 die Beklagte für verpflichtet, der Klägerin die Alu ab 10. Dezember 1953 auf die Dauer von 39 Wochen nach der gesetzlich zustehenden Höhe zu gewähren. Im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen.

Das Urteil kommt für die Zeit von der Arbeitsaufgabe bis zum 9. Dezember 1953 zu derselben Auffassung wie das Sozialgericht, die Klägerin sei durch die Betreuung ihres Kindes so weit gebunden gewesen, daß sie daneben keine anderen als geringfügige Beschäftigungen im Sinne des § 75a Abs. 2 AVAVG hätte ausüben können. Vom 10. Dezember 1953 an habe jedoch das Gericht eine persönliche Bindung nicht mehr annehmen können; denn zu dieser Zeit habe sich die Klägerin wieder um Beschäftigung bei der Firma W. bemüht und damit zu erkennen gegeben, daß sie dem Arbeitsmarkt nunmehr voll zur Verfügung stehen wolle und auch stehe. Wenn auch das Datum des 10. Dezember von der Firma nicht habe bestätigt werden können, so stehe ihre auf den "Dezember" lautende Erklärung doch nicht im Widerspruch zu derjenigen der Klägerin; deren Angabe sei glaubhaft. Der Senat sehe für die Zuerkennung der Alu auch kein Hindernis darin, daß die Klägerin sich seit dem 7. Dezember 1953 nicht mehr der Meldepflicht unterzogen habe - aus der im Laufe des Verfahrens von ihr vorgelegten Meldekarte war festgestellt worden, daß sie sich noch am 30. November und 7. Dezember 1953 gemeldet hatte -; denn nach zweimaliger Ablehnung ihres Unterstützungsantrages durch das Arbeitsamt und den Spruchausschuß und, nachdem sie auf ihre erneute Arbeitslosmeldung keinen Bescheid erhalten habe, sei ihr eine weitere Meldung nicht mehr zuzumuten gewesen. Da die Wartezeit am 10. Dezember 1953 bereits abgelaufen war, sei der Anspruch von diesem Tage an gerechtfertigt.

Die Revision ist nicht zugelassen worden.

II. Gegen das am 13. Mai 1955 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 7. Juni 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 10. Juni - Revision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben, ggf. die Sache zur nochmaligen Verhandlung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen. Mit Schriftsatz vom 2. Juli 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 6. Juli - hat sie als wesentliche Verfahrensmängel Verstöße gegen § 122 SGG in Verbindung mit den §§ 159, 160, 162 ZPO, §§ 103 und 128 SGG, Art. 20 GG sowie materiell-rechtliche Verstöße gegen die §§ 87, 87a, 114 und 173 AVAVG gerügt. Nach § 122 Abs. 1 Satz 2 SGG sei die endgültige Fassung der von den Beteiligten gestellten Anträge in die Verhandlungsniederschrift aufzunehmen und gemäß Abs. 3 in Verbindung mit den §§ 160 Abs. 2 Nr. 2 und 162 ZPO insoweit den Beteiligten vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen. Das sei offensichtlich unterlassen worden, da die Niederschrift nicht den durch § 162 Satz 2 ZPO vorgeschriebenen Vermerk enthalte. Weiter habe das Berufungsgericht gegen seine Aufklärungspflicht verstoßen, wenn es unterstelle, die Klägerin habe am 10. Dezember 1953 die Arbeit bei der Firma Winterling nicht wieder aufnehmen können, da zu dieser Zeit kein Arbeitsplatz frei gewesen sei. Die Klägerin selbst habe in ihrer Berufungsschrift vorgetragen, daß sie wegen Erkrankung ihres Kindes mit der Arbeit nicht habe beginnen können. Das Gericht habe damit auch den Rahmen der freien Beweiswürdigung überschritten. Im übrigen sei bei der Beurteilung der Rechtswirksamkeit eines Verwaltungsaktes die Sachlage zur Zeit seines Erlasses maßgebend, so daß spätere Änderungen außer Betracht zu bleiben hätten. Ferner habe das Berufungsgericht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 GG) verstoßen, indem es bei der Frage der Meldeversäumnis die dem Arbeitsamt vorbehaltene Freistellung selbst ausgesprochen und damit sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltung gesetzt habe.

Auch materiell-rechtlich hält die Beklagte den Anspruch der Klägerin nicht für begründet, da diese nach § 87a Abs. 2 AVAVG nicht als arbeitslos habe gelten können, im übrigen auch ihrer Meldepflicht (§§ 114, 173) nicht nachgekommen sei.

Die Klägerin hat beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie zurückzuweisen. Die im § 122 Abs. 3 SGG für entsprechend anwendbar erklärten §§ 159 - 165 ZPO kämen für Abs. 1 nicht in Betracht, da eine Vorlesung oder Vorlegung der Niederschrift nur für die im Abs. 2 erwähnten Fälle ausdrücklich vorgeschrieben sei. Im übrigen sei nicht ersichtlich, inwieweit dieser Verfahrensmangel wesentlich sei. Auch eine Verletzung der §§ 103, 128 SGG liege nicht vor. Die übrigen Rügen seien keine Verfahrensrügen, sondern richteten sich gegen die Urteilsfindung selbst und seien deshalb der Nachprüfung durch das Revisionsgericht im Rahmen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG entzogen.

 

Entscheidungsgründe

III. Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Da sie vom Landessozialgericht nicht zugelassen worden ist, kann sie nur Erfolg haben, wenn wesentliche Verfahrensmängel zu Recht gerügt sind.

Dies trifft für die Rüge einer Verletzung des § 122 SGG nicht zu. In dessen Abs. 1 ist zwar vorgeschrieben, daß die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung, vor allem die endgültige Fassung der von den Beteiligten gestellten Anträge in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen sind. Weitere Forderungen aber sind nicht gestellt, insbesondere nicht die, daß die Niederschrift den Beteiligten vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen ist. Dies sieht Abs. 2 nur für die Aussage eines Zeugen, Sachverständigen oder Beteiligten vor. Abs. 3 bestimmt allerdings, daß "im übrigen" die §§ 159 bis 165 der Zivilprozeßordnung "entsprechend" gelten, und nach § 162 ZPO ist das Protokoll insoweit, als es die Nr. 1 bis 4 des § 160 ZPO betrifft, den Beteiligten vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen; in der Niederschrift ist zu vermerken, daß dies geschehen und die Genehmigung erfolgt ist oder welche Einwendungen erhoben sind. Nach § 160 Abs. 2 Nr. 2 ZPO sind durch Aufnahme in das Protokoll festzustellen "die Anträge und Erklärungen, deren Feststellung vorgeschrieben ist". Da aber § 122 Abs. 3 SGG die entsprechende Anwendung der §§ 159 bis 165 ZPO nur "im übrigen" vorsieht und lediglich im Abs. 2 ausdrücklich die Vorlesung oder Vorlegung zur Durchsicht vorgeschrieben ist, dagegen nicht im Abs. 1, muß daraus der Schluß gezogen werden, daß es - im Gegensatz zum zivilprozessualen - im sozialgerichtlichen Verfahren nicht erforderlich ist, die Niederschrift, soweit sie die nach § 122 Abs. 1 Satz 2 SGG aufzunehmende endgültige Fassung der Anträge betrifft, den Beteiligten vorzulesen oder zur Durchsicht vorzulegen. Der Abs. 3 des § 122 berührt insoweit den Abs. 1 Satz 2 nicht.

IV. Dagegen greift die weitere Rüge der Verletzung der §§ 103, 128 SGG durch. Das Urteil des Landessozialgerichts stützt die Abänderung der sozialgerichtlichen Entscheidung darauf, daß bei der Klägerin seit dem 10. Dezember 1953 persönliche Bindungen nicht mehr hätten angenommen werden können. Zu diesem Zeitpunkt sei sie aus eigenem Antrieb bei der Firma W. wegen Beschäftigung wieder vorstellig geworden. Den Umstand, daß ein Arbeitsverhältnis nicht zustande gekommen sei, weil kein Arbeitsplatz frei war, habe sie nicht zu vertreten.

Ob das Datum vom 10. Dezember 1953 zutrifft, kann hier dahingestellt bleiben. Es hätte ggf. durch Vernehmung des Betriebsleiters P., bei dem die Klägerin vorgesprochen hatte, näher geklärt werden können. Jedenfalls können die bisherigen Feststellungen das Urteil nicht tragen. Denn es beruht zwar bezüglich des Datums auf den Angaben der Klägerin und den etwas unbestimmteren der Firma, hinsichtlich des Grundes, daß die Arbeitsaufnahme - und zwar mangels eines freien Arbeitsplatzes - nicht möglich gewesen sei, jedoch nur auf den Angaben der Firma.

Im Urteil ist aber am Schlusse der gedrängten Darstellung des Tatbestandes darauf verwiesen, daß "im übrigen auf den Akteninhalt Bezug genommen" werde. Aus der oben erwähnten Berufungsschrift der Klägerin vom 25. Juli 1954 und ihrem Schreiben vom 27. Januar 1955 ergibt sich insoweit ein anderer Sachverhalt, als ihn das Landessozialgericht angenommen hat. Die Klägerin gibt zwar an, am 10. Dezember 1953 bei der Firma wegen Arbeitsaufnahme vorgesprochen zu haben, fährt aber fort, sie habe "am darauffolgenden Montag anfangen können" - der 10. Dezember 1953 war ein Donnerstag -, jedoch sei "am Tag der Arbeitsaufnahme" ihr Kind über Nacht erkrankt, so daß sie die Arbeit nicht habe aufnehmen können. Es habe sich zwar nur um eine Erkältungskrankheit gehandelt, sie habe es aber "direkt als einen Wink des Schicksals" betrachtet, daß sie sich doch lieber eine Zeitlang ihrem Kinde widmen solle, und habe sich dabei der Besprechung mit dem Arzt erinnert, der dies auch für angebracht gehalten habe.

Aus dieser Darstellung geht offensichtlich das Gegenteil von dem Sachverhalt hervor, den das Landessozialgericht seinem Urteil zugrundegelegt hat, nämlich: die Klägerin konnte wegen der Erkrankung ihres Kindes die Arbeit nicht aufnehmen und stand damit objektiv dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, und sie wollte sich "eine Zeitlang" dem Kinde widmen und damit auch subjektiv dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stellen. Mit dieser Frage hat sich das Landessozialgericht jedoch nicht auseinandergesetzt, obwohl auf Grund der Verweisung auf den übrigen Akteninhalt auch dieser Teil des Tatbestandes Gegenstand der Rechtsfindung hätte sein müssen. Denn wenn der Tatbestand eines Urteils Umstände enthält, die sich gegenseitig ausschließen, und das Gericht der Entscheidung nur den einen zugrundelegt, ohne sich mit dem anderen hinreichend auseinanderzusetzen, so liegt darin eine Überschreitung des im § 128 SGG festgelegten Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung. Es hätte einer weiteren Sachaufklärung (§ 103 SGG) bedurft. ggf. durch Anordnung des persönlichen Erscheinens der Klägerin gemäß § 111 Abs.1 SGG. Auf diesem insoweit mangelhaften Tatbestand beruht das Urteil des Landessozialgerichts.

V. Die Revision war demnach statthaft, da dieser wesentliche Verfahrensmangel durchgreifen mußte. Auf die weitere Rüge, das Berufungsgericht habe nur von der Sachlage zur Zeit des Erlasses des Verwaltungsaktes ausgehen und spätere Änderungen nicht berücksichtigen dürfen, brauchte unter diesen Umständen nicht mehr eingegangen zu werden.

VI. Materiell-rechtlich hängt die Entscheidung davon ab, ob die Klägerin zu der fraglichen Zeit arbeitslos im Sinne des AVAVG war. In seinem Urteil 7 RAr 7/55 vom 21. März 1956, auf dessen Darlegungen unter Nr. III ff verwiesen wird, hat der erkennende Senat eingehende Feststellungen zu dem Begriff "arbeitslos" einschließlich des Begriffs der Verfügbarkeit getroffen. Aus ihnen ergibt sich, daß eine Arbeitnehmerin, die ihre Arbeitsstelle aufgibt, um ein pflegebedürftiges Familienmitglied zu betreuen, nicht für den Arbeitsmarkt verfügbar und damit nicht arbeitslos ist, wenn sie durch diese persönliche Bindung keine anderen als geringfügige Beschäftigungen im Sinne des § 75a Abs. 2 AVAVG auszuüben vermag (§ 87a Abs. 2 AVAVG). Dieser Fall liegt hier vor.

VII. Im übrigen war auf Grund der Ausführungen des Landessozialgerichts noch auf die Frage einzugehen, ob Meldepflicht auch während eines Rechtsmittelverfahrens besteht.

Nach § 173 Abs. 1 AVAVG hat ein Unterstützungsempfänger sich regelmäßig beim Arbeitsamt zu melden, um Arbeit zu erlangen. § 114 AVAVG schreibt vor, daß die Alu für die Zeit nicht gewährt werden darf, für die der Arbeitslose die nach § 173 Abs. 3 vorgeschriebenen Meldungen ohne genügende Entschuldigung unterläßt. Eine nachträgliche Entschuldigung ist zulässig.

Auf Grund der Feststellungen des Landessozialgerichts aus der Meldekarte der Klägerin ergibt sich, daß diese sich am 7. Dezember 1953 das letzte Mal beim Arbeitsamt gemeldet hat. Gleichwohl hat das Landessozialgericht ihr die Alu vom 10. Dezember 1953 ab mit der Begründung zugesprochen, es sehe beim Vorliegen aller übrigen Anspruchsvoraussetzungen kein Hindernis darin, daß die Klägerin sich danach der Meldepflicht nicht mehr unterzogen habe; denn nach zweimaliger Ablehnung ihres Unterstützungsantrages durch das Arbeitsamt und den Spruchausschuß und nachdem sie auf ihre erneute Arbeitslosmeldung keinen Bescheid erhalten habe, sei ihr eine weitere Meldung nicht zuzumuten gewesen. Dieser Auffassung vermochte sich der erkennende Senat nicht anzuschließen.

Im § 173 Abs. 1 Satz 1 AVAVG ist die Meldepflicht allerdings zunächst für den Unterstützungsempfänger vorgeschrieben. Aber im Satz 2 wird der gleichen Pflicht unterstellt, wer nur deswegen keine Alu erhält, weil gegen ihn eine Sperrfrist verhängt ist oder die Wartezeit noch nicht abgelaufen ist. Diese Vorschrift ist mit voller Absicht und schon durch die Novelle vom 12. Oktober 1929 (RGBl. I S. 153) eingefügt worden. Die Gesetzgeber nach 1945 haben diese Vorschrift übernommen.

Zweck der Meldepflicht ist, die Durchführung des § 131 AVAVG zu ermöglichen, wonach Arbeitslosigkeit in erster Linie durch Vermittlung von Arbeit verhütet und beendigt wird. Weitere Absicht ist dabei, die Unterstützung nur denen zukommen zu lassen, die tatsächlich arbeitslos sind. Dies läßt sich jedoch nur oder doch am ehesten durch die laufenden Meldungen des Arbeitslosen beim Arbeitsamt prüfen.

Deshalb ist es erforderlich, daß sich der Arbeitslose auch während eines Rechtsmittelverfahrens an den für Unterstützungsempfänger vorgeschriebenen Meldezeiten regelmäßig beim Arbeitsamt meldet. Dies hatte übrigens bereits vor der Ergänzung des § 173 Abs. 1 durch den oben erwähnten Satz 2 das Reichsversicherungsamt in seiner Grundsätzlichen Entscheidung Nr. 3422 vom 18. Januar 1929 (RABl. IV S. 189) gefordert und darauf hingewiesen, daß der Arbeitslose sich während des Rechtsmittelverfahrens als unterstützungsberechtigt ansehe und deshalb den Unterstützungsempfängern gleichgestellt werden müsse. Auf diese Pflicht zur laufenden Meldung ist die Klägerin auch bereits in dem Ablehnungsbescheid vom 9. September 1953 hingewiesen worden.

Das Landessozialgericht durfte jedenfalls nicht dahin entscheiden, daß die laufende Meldung nicht zumutbar gewesen sei und damit in der rechtlichen Wertung die Säumnis der Klägerin nachträglich als entschuldigt erklären. Denn die Freistellung eines Empfängers von Alu oder eines sonstigen Arbeitslosen von der Meldepflicht liegt im Ermessen des Arbeitsamtes. Im sozialgerichtlichen Verfahren kann nur geprüft werden, ob und inwieweit bei der Verfügung des Arbeitsamtes ein Ermessensfehler vorliegt. Das Gericht darf nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen. Sonst verstößt es gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG).

VIII. Da der vom Landessozialgericht festgestellte Tatbestand aus den unter Nr. IV dargelegten Gründen nicht ausreicht, mußte das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304764

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge