Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassung der Revision. wesentlicher Verfahrensmangel. Widerruf der Klagerücknahme
Orientierungssatz
1. Die Nichtzulassung der Revision durch das LSG ist für das BSG bindend; sie kann auch nicht auf dem Weg der Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens zum Gegenstand der Prüfung durch das BSG gemacht werden (vgl BSG 1955-11-29 1 RA 15/54 = BSGE 2, 81). Selbst wenn das Berufungsgericht sich über die grundsätzliche Bedeutung von Rechtsfragen geirrt haben sollte (§ 162 Abs 1 Nr 1 SGG), wird gleichwohl aus diesem Grund die Revision nicht eröffnet. Dann liegt nämlich nicht ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG vor (§ 162 Abs 1 Nr 2 SGG), sondern eine in ihrem Inhalt unrichtige Entscheidung (vgl BSG 1958-08-26 2 RU 239/57 = SozR Nr 112 zu § 162 SGG).
2. Die Rücknahme der Klage ist eine Prozeßhandlung, die grundsätzlich nicht widerrufen oder angefochten werden kann; eine entsprechende Anwendung der §§ 119 ff BGB ist ausgeschlossen (vgl BSG 1961-08-12 3 RK 13/59 = SozR Nr 5 zu § 119 BGB).
3. Ein in einem früheren Rechtszug unterlaufener Verfahrensmangel kann nur dann das Verfahren weiterer Instanzen gleichermaßen als fehlerhaft erscheinen lassen, wenn es sich um einen Mangel handelt, der von Amts wegen in jeder Instanz zu berücksichtigen ist, weil er die Grundlagen des Verfahrens betrifft (vgl BSG 1955-12-15 4 RJ 108/54 = SozR Nr 40 zu § 162 SGG) und davon das Revisionsverfahren ebenfalls berührt wird.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1958-08-23, Nr. 2 Fassung: 1958-08-23; BGB § 119
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 10.08.1962) |
SG Berlin (Entscheidung vom 01.03.1962) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. August 1962 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I. Die 1907 geborene Klägerin, die sich nach entsprechender Vorbildung auf Fach- und Kunstschulen ursprünglich als Künstlerin (Schauspielerin, Sprecherin), aber auch als technische Zeichnerin betätigt hatte, war mit verschiedenen kurzfristigen Unterbrechungen (Notstandsarbeiten) seit Jahren arbeitslos. Sie bezog zuletzt seit Juni 1961 Arbeitslosenhilfe (Alhi). Da es der Arbeitsverwaltung nicht gelang, die Klägerin in einen Dauerarbeitsplatz als technische Zeichnerin oder in kaufmännische Berufsstellen zu vermitteln, sollte sie an Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen für die Elektro- und Metallwirtschaft teilnehmen. Als die Klägerin dies verweigerte und gewerbliche Arbeit ablehnte, entzog ihr das Arbeitsamt (ArbA) die bisher gewährten Unterstützungsleistungen (Verfügung vom 14. August 1961), da sie trotz ausreichendem Leistungsvermögen nicht ernstlich bereit sei, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes auszuüben. Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 29. September 1961) nahm in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, ein Rechtsbeistand, die Klage zurück. Diese Erklärung wurde in die Sitzungsniederschrift aufgenommen. Bevor sie aber verlesen und genehmigt werden konnte, entzog die Klägerin ihrem Vertreter die erteilte Vollmacht und beantragte Aufhebung der Verfügungen der Arbeitsverwaltung. Das SG wies die Klage als unzulässig ab (Urteil vom 1. März 1962). Die Berufung der Klägerin wurde vom Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 10. August 1962). Der Rechtsstreit sei infolge der Klagerücknahme durch den Prozeßbevollmächtigten, die sich im Rahmen seiner Vollmacht gehalten habe, in der Hauptsache erledigt; danach sei eine Sachentscheidung unzulässig gewesen. Deswegen habe das SG zu Recht die weitere Klage als unzulässig abgewiesen. Die Klagerücknahme sei als Prozeßhandlung grundsätzlich unwiderruflich und nicht wegen Willensmängeln anfechtbar, wie auch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) wiederholt entschieden habe. Etwas anderes gelte nur unter den Voraussetzungen, unter denen die Wiederaufnahme eines durch Urteil abgeschlossenen Verfahrens statthaft sei. Derartige Wiederaufnahmegründe seien jedoch zu Gunsten der Klägerin hier nicht vorhanden.
Revision wurde zugelassen.
II. Die Klägerin legte gegen das am 27. August 1962 zugestellte Urteil des LSG am 30. August 1962 Revision ein und begründete sie gleichzeitig. Sie rügt zunächst, die Revision habe vom LSG zugelassen werden müssen, da es sich um einen Fall von grundsätzlicher Bedeutung handele und ein gleich oder ähnlich gelagerter auch vom BSG bislang nicht entschieden worden sei. Weiterhin wird Verletzung des § 162 der Zivilprozeßordnung (ZPO) gerügt, der in bezug auf § 160 Abs. 2 ZPO vorschreibe, daß die zu beurkundenden Vorgänge, hier die Klagerücknahme, den Beteiligten vorzulesen und dies im Protokoll zu vermerken sei. Zwar liege diesbezüglich eine Unterlassung des SG vor. Dieser Verfahrensmangel sei jedoch vom LSG sanktioniert worden und müsse deshalb als Mangel in dessen eigenen Verfahren gelten. Im übrigen habe die Klägerin vor der Verlesung und Genehmigung der Protokollserklärung über die Klagerücknahme ihrem Prozeßbevollmächtigten die Vollmacht entzogen und eine Sachentscheidung begehrt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Berlin aufzuheben und die Sache zur erneuten sachlichen Entscheidung dorthin zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die von der Klägerin gerügten Verfahrensmängel seien nicht vorhanden. Das Prozeßurteil des SG sei zu Recht ergangen und von dem LSG zutreffend mit einer Sachentscheidung bestätigt worden. Die Nichtzulassung der Revision sei bindend und könne nicht auf dem Wege der Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels zum Gegenstand der Prüfung des BSG gemacht werden.
III. Da die Revision vom LSG nicht zugelassen wurde, ist sie nur statthaft, wenn im Verfahren des LSG ein wesentlicher Mangel gerügt wird und auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSG 1, 150). Diese Voraussetzungen sind aber nicht erfüllt.
Die von der Klägerin erhobenen Rügen greifen sämtlich nicht durch.
Die Nichtzulassung der Revision durch das LSG ist für das BSG bindend; sie kann auch nicht auf dem Weg der Rüge eines wesentlichen Mangels des Verfahrens zum Gegenstand der Prüfung durch das BSG gemacht werden (BSG 2, 81). Selbst wenn das Berufungsgericht sich über die grundsätzliche Bedeutung von Rechtsfragen geirrt haben sollte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), wird gleichwohl aus diesem Grund die Revision nicht eröffnet. Dann liegt nämlich nicht ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG vor (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG), sondern eine in ihrem Inhalt unrichtige Entscheidung (vgl. BSG 2, 45, 81; 3, 275; 5, 150; ferner SozR SGG zu § 162 Nr. 112). Der Senat hat keine Veranlassung, von dieser ständigen Rechtsprechung des BSG abzuweichen.
IV. Die weitere Rüge der Klägerin, daß die Erklärung der Klagerücknahme durch ihren Prozeßbevollmächtigten nach Aufnahme in das Sitzungsprotokoll der ersten Instanz den Beteiligten nicht vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt und genehmigt worden sei (§ 162 i. V. m. § 160 Abs. 2 ZPO), war von ihr bereits im Berufungsverfahren erhoben worden. Das LSG hatte daraufhin die Entscheidung des SG überprüft, war aber, gestützt auf die einschlägige Rechtsprechung, auch des BSG (vgl. BSG zu BGB § 119 Nrn. 3 und 5), zu dem Ergebnis gekommen, daß ein wesentlicher Mangel im Verfahren der ersten Instanz nicht vorliege, und hatte infolgedessen die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. Wenn die Klägerin daraus, daß das LSG die Entscheidung des SG sachlich bestätigt hat, den Schluß ableiten will, dann habe das Berufungsgericht selbst einen Verfahrensmangel begangen, so ist dies rechtlich unzutreffend. Als wesentliche Verfahrensmängel sind nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG vor dem Revisionsgericht grundsätzlich nur verfahrensmäßige Fehler jenes Gerichts mit der Rüge angreifbar, dessen Urteil angefochten wird, hier also des LSG (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kom. z. SGb Anm. 3 zu § 162 - III/80 - 30/2). Selbst wenn also Verfahrensmängel des SG vorgelegen hätten, würde deren unzutreffende Beurteilung durch das Berufungsgericht keinen Mangel des Berufungsverfahrens darstellen (vgl. BSG in SozR SGG § 162 Nr. 40 und die dort zitierte Rechtsprechung). Ein in einem früheren Rechtszug unterlaufener Verfahrensmangel kann nur dann das Verfahren weiterer Instanzen gleichermaßen als fehlerhaft erscheinen lassen, wenn es sich um einen Mangel handelt, der von Amts wegen in jeder Instanz zu berücksichtigen ist, weil er die Grundlagen des Verfahrens betrifft (BSG in SozR SGG § 162 Nr. 40; Mellwitz, Kom. z. SGG § 162 Anm. B 9; RGZ 159, 84) und davon das Revisionsverfahren ebenfalls berührt wird (vgl. Baumbach/Lauterbach, ZPO Anm. 2 C zu § 559 und Anm. 3 B zu § 295). Solche Verfahrensmängel früherer Instanzen sind jedoch hier nicht ersichtlich.
V. Da nach alledem die von der Klägerin gerügten Verfahrensmängel, soweit es sich um das Verfahren des LSG handelt, tatsächlich nicht vorliegen, war die Revision unstatthaft und mußte nach § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen