Entscheidungsstichwort (Thema)
Verschlossener Teilzeitarbeitsmarkt Verschlossener Arbeitsmarkt bei stark eingeschränktem Leistungsvermögen. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Bei einem Versicherten mit stark eingeschränktem Leistungsvermögen (ua Amputation des linken Beines mit rezidivierenden Stumpfhautentzündungen, Steilstellung der Lendenwirbelsäule mit Bandscheibendegeneration, arthrotischen Veränderungen am Kniegelenk, Spreizfuß Effloreszenzen an Bein und Händen, funktionelle Herzbeschwerden iS eines Roemheld-Syndroms) kann ohne weitere Ermittlung davon ausgegangen werden, daß ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist.
Orientierungssatz
Zur Frage der Erwerbsunfähigkeit eines Oberschenkelamputierten.
Normenkette
RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 24 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 14.06.1973; Aktenzeichen L 5 A 57/71) |
SG Trier (Entscheidung vom 26.11.1970; Aktenzeichen S 4 An 1114/68) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Juni 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob der Kläger erwerbsunfähig ist und ihm deshalb entsprechende Versichertenrente zusteht (§ 24 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -).
Dem 1924 geborenen Kläger wurde vom Versorgungsamt T durch Bescheid vom 19. September 1968 eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. ab 1. März 1965 gewährt. In dem am 18. August 1971 erteilten Ausführungsbescheid sind als Schädigungsfolgen anerkannt: Verlust des linken Beines im Oberschenkel mit rezidivierenden Stumpfhautentzündungen, Hornhautnarben links mit Herabsetzung der Sehschärfe, Schwerhörigkeit links, Fehlbelastung der Wirbelsäule und arthrotische Veränderungen im rechten Fuß- und Kniegelenk.
Infolge der erlittenen Kriegsbeschädigungen übte der Kläger seit April 1954 den erlernten Beruf eines Landwirtschaftsgehilfen nicht mehr aus. Er war seitdem bis Ende 1967 als Versicherungsvertreter im Außendienst beschäftigt. Den im August 1967 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß durch die ärztlicherseits festgestellte chronische Gallenblasenerkrankung, die Fehlbelastung und Überlastung der Wirbelsäule bei Oberschenkelamputation und Beckenschiefstand sowie durch die vorhandenen Überlastungsbeschwerden im rechten Knie- und Fußgelenk die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht in einem die Berufsunfähigkeit oder gar die Erwerbsunfähigkeit rechtfertigenden Ausmaß eingeschränkt werde (Bescheid vom 24. Juli 1968).
Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) ab (Urteil vom 26. November 1970). Im Berufungsverfahren beauftragte das Landessozialgericht (LSG) den Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik K, Professor Dr. ... mit der Erstattung eines umfassenden Gutachtens. Dieser stellte unter Berücksichtigung von ihm veranlaßter Zusatzgutachten auf röntgenologischem und internistischem Fachgebiet beim Kläger folgende krankhaften Veränderungen fest: Verlust des linken Beines im mittleren Oberschenkeldrittel mit entzündlichen Hautreizerscheinungen am Amputationsstumpf, eine Steilstellung der Lendenwirbelsäule mit geringfügigeren Bandscheibendegenerationen, arthrotische Veränderungen am rechten Kniegelenk, ein Spreizfuß rechts, Effloreszenzen am rechten Bein und an den Händen, eine Gastro-Duodenitis mit fraglicher Begleitpankreopathie und Begleitcholecystopathie, funktionelle Herzbeschwerden im Sinne eines Roemheld-Syndroms, ein leichter, einstellbarer Diabetes mellitus, eine milde Hypertonie und eine Neigung zu Allergie. Das LSG hob die erstinstanzliche Entscheidung auf und verpflichtete die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. August 1967 an. Es ging davon aus, daß der Kläger entsprechend dem Gesamtergebnis der gehörten ärztlichen Sachverständigen nur noch für leichte, überwiegend im Sitzen auszuführende Bürotätigkeiten bis zu sechs Stunden täglich eingesetzt werden könne. Nach den Beschlüssen des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 sei dem Kläger mit dieser eingeschränkten Leistungsfähigkeit der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, weil sich aus den in den Vierteljahresstatistiken der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit (ANBA) für die Berufsgruppe "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" ausgewiesenen Zahlen ergebe, daß das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen und für den Kläger in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger sei als 75 : 100. Diese Zahlen seien maßgeblich, weil die Bundesanstalt für Arbeit (BA) für die Erforschung des Arbeitsmarktes der Bundesrepublik allein zuständig sei (Urteil vom 14. Juni 1973).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts sowie eine Verletzung der dem LSG obliegenden Amtsermittlungspflicht.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Trier vom 26. November 1970 zurückzuweisen; hilfsweise beantragt sie, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG sind dem Kläger seit August 1967 nur noch leichte, vorwiegend im Sitzen auszuführende Bürotätigkeiten von höchstens sechs Stunden täglich gesundheitlich zumutbar. Das LSG hat weiter und von der Revision ebenfalls unwidersprochen festgestellt, daß es sich dabei nur um einfachere Büroarbeiten "ohne besondere geistige Anforderungen" handeln darf und sonstige sitzende Verweisungstätigkeiten - u.a. auch Maschinen- und Fließbandarbeiten - für den Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in Betracht kommen. Wie der erkennende Senat mit Urteil vom 27. März 1974 (Az.: 1 RA 31/73) bereits entschieden hat, ist einem Versicherten mit einem derartig eingeschränkten Leistungsvermögen der Zugang zum Teilzeitarbeitsmarkt im Sinne von Abschnitt C V 2 b, aa des Beschlusses des GS des BSG vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69 - (BSG 30, 167, 189/190) in besonders starkem Maße erschwert, so daß nach dem weiteren Beschluß des GS vom selben Tage - GS 2/68 - (BSG 30, 192, 206) schon allein deswegen die Erwerbsunfähigkeit im Sinne von § 24 Abs. 2 AVG bejaht werden muß.
Im Falle des Klägers ist kein anderes Ergebnis gerechtfertigt. Auch hier durfte das LSG im Hinblick auf die starke Einschränkung der für den Kläger noch vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten ohne weitere Ermittlungen davon ausgehen, daß ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Dann können aber - wie der Senat in seinem Urteil vom 27. März 1974 aaO bereits näher ausgeführt hat - keine rechtserheblichen Einwände daraus hergeleitet werden, daß das LSG seine damit im Ergebnis übereinstimmende Entscheidung auf die in den ANBA für die Berufsgruppe "Organisations-, Verwaltungs- und Büroberufe" veröffentlichten Vierteljahresstatistiken gestützt hat.
Daraus erhellt, daß auch die Verfahrensrüge der Beklagten, das LSG habe die ihm nach § 103 SGG obliegende Amtsermittlungspflicht verletzt, nicht durchgreift. Diese Rüge entspricht bereits nicht der Formvorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG, wonach die Revisionsbegründung auch die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen muß, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben. Die Beklagte hält das LSG für verpflichtet, "auf andere Weise" eine Aufhellung des Teilzeitarbeitsmarktes zu versuchen, weil das LSG "nach den Entscheidungsgründen" der Ansicht gewesen sei, die BA könne derzeit kein geeignetes Zahlenmaterial zur Verfügung stellen. Dies läßt sich indes den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nicht entnehmen, weil dort das LSG davon ausgegangen ist, daß das von der BA in den Vierteljahresstatistiken der ANBA veröffentlichte "Zahlenmaterial" für die Entscheidung über die Erwerbsunfähigkeit des Klägers ausreichend ist. Das Revisionsgericht kann insoweit nur prüfen, ob sich das LSG hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen durchzuführen. Da hierbei das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel - wie der GS des BSG gerade zur Feststellung der Teilzeitarbeitsplätze betont hat (vgl. BSG 30, 192, 205) - weitgehend vom Einzelfall abhängen, hat es der erkennende Senat im Urteil vom 27. März 1974 aaO auch für verfahrensrechtlich unbedenklich angesehen, wenn der Kreis der auszuschöpfenden Erkenntnisquellen von den Tatsachengerichten je nach dem im Einzelfall vorhandenen Ausmaß der quantitativen und qualitativen Einsatzbeschränkungen auf dem Teilzeitarbeitsmarkt weiter oder enger gezogen wird. Unter Berücksichtigung des vom LSG festgestellten Gesundheitszustandes, der dem Kläger nur noch qualitäts- und quantitätsmäßig erheblich eingeschränkte Arbeitsleistungen ermöglicht, ist sonach die Annahme eines praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes auch verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden.
Der Revision der Beklagten muß somit der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen