Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Richtlinien über künstliche Befruchtung. ICSI. kein Anspruch des Versicherten gegenüber Krankenkasse bei Nichterfüllung der festgelegten Grenzwerte für Indikation. Rechtmäßigkeit der Grenzwerte auch für Fälle uneinheitlicher Befunde. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Versicherte haben gegen ihre Krankenkasse keinen Anspruch auf eine künstliche Befruchtung mittels ICSI, wenn die in den Richtlinien über künstliche Befruchtung rechtmäßig festgelegten Grenzwerte für die Indikation nicht erfüllt sind.
2. Die Richtlinien über künstliche Befruchtung haben im August 2006 rechtmäßige Grenzwerte für die ICSI-Indikation auch für Fälle uneinheitlicher Befunde festgelegt.
Orientierungssatz
Die Regelung der medizinischen Indikation für ICSI in den Richtlinien über künstliche Befruchtung im August 2006 verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1; SGB 5 § 2 Abs. 1 S. 3, § 12 Abs. 1, § 13 Abs. 3 S. 1 Alt. 2 Fassung: 2001-06-19, § 27a Abs. 1, 3, 4 Fassung: 2003-11-14, § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 10; KBRL Nrn. 8, 10.5, Nr. 11.5
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 2010 aufgehoben. Die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 8. April 2008 wird zurückgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung der hälftigen Kosten für eine Maßnahme der künstlichen Befruchtung durch eine Intracytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) im August 2006.
Bei der ICSI werden nach Hormonbehandlung durch Follikelpunktion gewonnene Eizellen durch Einführung eines Spermiums mit Hilfe einer mikroskopischen Nadel befruchtet und der so erzeugte Embryo in den Körper der Frau übertragen (Embryotransfer). Der 1963 geborene Kläger und die 1967 geborene Klägerin, seine Ehefrau, sind bei der beklagten Ersatzkrankenkasse (ErsK) versichert. Der Kläger leidet an einer Oligoasthenozoospermie (herabgesetzte Zahl und Beweglichkeit der Spermien). Seine Spermiogramme vom 29.10.2003, 3.12.2003 und 13.4.2005 wiesen keine Angaben zu Gesamtmotilität sowie Form der Spermien, jeweils Spermienkonzentrationen von 1,87, 0,31 und 1,56 Mio/ml (Nativsperma) und eine Progressivmotilität von 25 %, 25 % und 66 % aus. Deshalb beantragte der Kläger zugleich auch für seine Ehefrau im Juni 2005 die Übernahme der Kosten für eine künstliche Befruchtung mittels ICSI. Angesichts der geringen Spermienkonzentration von unter 10 Mio/ml habe nämlich eine IVF (In-Vitro-Fertilisation) keine hinreichende Erfolgsaussicht. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Voraussetzungen der Richtlinien über ärztliche Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung (idF vom 26.2.2002, BAnz Nr 92 vom 22.5.2002, S 10941, ≪RL über künstliche Befruchtung≫) nicht gegeben seien. Eine Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) komme mithin nicht in Betracht (Bescheid vom 19.7.2005, Widerspruchsbescheid vom 14.12.2005). Die Eheleute ließen ua im August 2006 eine ICSI-Behandlung durchführen, für die sie Kosten von 6052,52 Euro trugen.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8.4.2008). Auf die Berufung der Kläger hat das LSG antragsgemäß die Beklagte verurteilt, 3026,26 Euro (die Hälfte der Kosten der ICSI-Behandlung von August 2006) an die Kläger zu zahlen. Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Nach Nr 11.5 der RL über künstliche Befruchtung seien zwar die Voraussetzungen für eine Behandlung mittels ICSI nicht gegeben, weil die bei uneinheitlichen Befunden entscheidende Progressivmotilität die RL-Grenzwerte nicht unterschritten habe. Die RL über künstliche Befruchtung seien hinsichtlich der Grenzwerte für die Progressivmotilität indessen nicht mit höherrangigem Recht vereinbar. Es bestehe eine Lücke, die den Wertungen des § 27a SGB V widerspreche. Denn bei Spermienkonzentrationen von unter 5 Mio/ml seien nach den Angaben des medizinischen Sachverständigen ca 95 % der Labore nicht bereit, Versicherte einer Behandlung allein mittels IVF zu unterziehen, weil dies aussichtslos sei. Liege aber gleichzeitig eine Progressivmotilität von 25 % und mehr vor, seien diese Versicherten auch von einer Behandlung mittels ICSI ausgeschlossen, weil insoweit die nach den RL über künstliche Befruchtung maßgeblichen Grenzwerte überschritten seien. Unlogische und unhaltbare Zustände seien die Folge. Wenn nämlich von nur 10 Spermien/ml sich zwei Spermien schnell bewegten, läge eine Progression von 20 % vor und sei die Indikation für eine Behandlung mittels ICSI nicht erfüllt. Umgekehrt sei die Indikation für ICSI bei 15 % von 9 Mio/ml (1 350 000) erfüllt, nicht jedoch beim Kläger mit Werten von 467 500 (25 % von 1,87 Mio) bzw 77 500 (25 % von 0,31 Mio). Bei derart geringen Konzentrationen spiele nach den Angaben des medizinischen Sachverständigen die Motilität und Morphologie für ICSI keine entscheidende Rolle (Urteil vom 20.5.2010).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 27a SGB V iVm § 12 Abs 1 und § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V. Neben den speziellen Wertungen des § 27a SGB V seien die allgemeinen Anforderungen an Leistungen der GKV und insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Deshalb habe die höchstrichterliche Rechtsprechung die Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) herausgestellt, die Indikationen für eine Behandlung mittels ICSI zu präzisieren. Das BSG habe betont, dass zu Beschränkungen in dieser Hinsicht Anlass bestehen könne, weil die ICSI im Verhältnis zur konventionellen IVF offenbar erheblich öfter angewandt werde, als es nach der statistischen Verteilung von Fertilitätsstörungen in der männlichen bzw auch weiblichen Bevölkerung zu erwarten wäre. Der GBA habe in den Grenzen seiner Rechtsetzungsbefugnis entschieden und aufgrund der verwendeten algebraischen Termini eine präzise und lückenlose Grenzziehung auf der Basis der medizinischen Einschätzung vorgenommen, dass es für eine ICSI-Indikation auf die Beweglichkeit der Spermien ankomme. Das LSG habe seinen richterlichen Beurteilungsspielraum überschritten, indem es gegenteilige medizinische Schlussfolgerungen an die Stelle der Wertungen des GBA gesetzt habe. Eine Schwangerschaft werde bekanntermaßen durch ein einziges Spermium herbeigeführt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 2010 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 8. April 2008 zurückzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Zu Unrecht hat das LSG das SG-Urteil und die Bescheide der Beklagten aufgehoben und die Beklagte dazu verurteilt, 3026,26 Euro zu zahlen. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Erstattung der Hälfte der Kosten für die Maßnahme der künstlichen Befruchtung mittels ICSI im August 2006.
1. Streitgegenstand ist allein der Anspruch auf Erstattung von 3026,26 Euro unter Aufhebung des aufgrund eines gesonderten Leistungsantrags vom 23.6.2005 hin ergangenen Bescheides vom 19.7.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.12.2005. Zutreffend ist die Beklagte von einem gemeinsamen Antrag der Eheleute ausgegangen und sind diese deshalb gemeinsam als Kläger am Verfahren beteiligt. Eine Krankenkasse (KK) ist gegenüber ihrem Versicherten nicht leistungspflichtig für Maßnahmen, die unmittelbar und ausschließlich am Körper des (bei ihr nicht versicherten) Ehegatten ihres Versicherungsnehmers ausgeführt werden (vgl BSGE 88, 51, 54 f = SozR 3-2500 § 27a Nr 2 S 13 f; BSG SozR 3-2500 § 27a Nr 3 S 26; BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 1 RdNr 13). Es ist dann ggf Sache dieses Ehegatten, bei seiner eigenen KK, privaten Versicherung oder Beihilfestelle die unmittelbar und ausschließlich seinen Körper betreffende Behandlung zur künstlichen Befruchtung geltend zu machen (vgl insgesamt BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 17; Hauck SGb 2009, 321 ff). Hier sind indessen beide Eheleute bei der beklagten ErsK versichert. Der Antrag ist umfassend auf alle in Betracht kommenden Leistungen gerichtet.
2. Rechtsgrundlage für die Erstattung der Kosten ist allein § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V (hier anzuwenden in der seit 1.7.2001 geltenden Fassung des Art 5 Nr 7 Buchst b SGB IX vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Die Norm bestimmt: Hat die KK eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Der in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbst beschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; BSGE 97, 190 = SozR 4-2500 § 27 Nr 12, RdNr 11 mwN - LITT; BSGE 100, 103 = SozR 4-2500 § 31 Nr 9, RdNr 13 - Lorenzos Öl). Daran fehlt es.
Im Zeitpunkt der Leistungsverschaffung im August 2006 hatten die klagenden Eheleute nämlich keinen Anspruch auf Leistungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft mittels ICSI nach Maßgabe des § 27a SGB V idF des GKV-Modernisierungsgesetz (GMG). Denn die Oligoasthenozoospermie des Klägers bestand nicht in einem Ausmaß, dass sie die rechtmäßig vom Bundesausschuss gestellten Anforderungen für die Anwendung der ICSI erfüllte.
a) § 27a Abs 1 SGB V gibt Versicherten nur dann Anspruch auf Leistungen der künstlichen Befruchtung, wenn insgesamt sieben im Gesetz näher umschriebene Voraussetzungen erfüllt sind: Die Leistung muss erforderlich sein (Abs 1 Nr 1), hinreichende Erfolgsaussicht haben (Abs 1 Nr 2), miteinander verheiratete Eheleute (Abs 1 Nr 3), die die Altersgrenzen erfüllen (Abs 3 Satz 1), und eine homologe Insemination betreffen (Abs 1 Nr 4), darf erst nach erfolgter Beratung stattfinden (Abs 1 Nr 5) und muss vor ihrem Beginn genehmigt sein (Abs 3 Satz 2). Während früher der Bundesausschuss für Ärzte und KKn hierfür zuständig war, bestimmt heute der GBA in den RL nach § 92 SGB V die medizinischen Einzelheiten zu Voraussetzungen, Art und Umfang der Maßnahmen nach § 27a Abs 1 SGB V (§ 27a Abs 4 SGB V in der seit 1.1.2004 geltenden Fassung des GMG vom 14.11.2003, BGBl I 2190; vgl auch § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 10 SGB V). Er hat zudem unter Achtung der Wertungen des § 27a SGB V über neue Behandlungsmethoden wie die ICSI Empfehlungen abzugeben (vgl § 135 Abs 1 SGB V; BSGE 88, 62, 72 f = SozR 3-2500 § 27a Nr 3 S 33 f).
Dieser Pflicht ist der Bundesausschuss nachgekommen. Der Bundesausschuss für Ärzte und KKn empfahl ICSI für den GKV-Leistungskatalog und legte die Indikationen in RL über künstliche Befruchtung fest (Beschluss vom 26.2.2002, BAnz Nr 92 vom 22.5.2002, S 10941, in Kraft getreten am 1.7.2002). Nach Nr 11.5 der RL über künstliche Befruchtung gelten als medizinische Indikationen zur Durchführung der ICSI: männliche Fertilitätsstörung nachgewiesen durch zwei aktuelle Spermiogramme im Abstand von mindestens 12 Wochen, welche unabhängig von der Gewinnung des Spermas folgende Grenzwerte - nach genau einer Form der Aufbereitung (nativ oder swim-up-Test) - unterschreiten:
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Indikationsbefund alternativ |
Merkmal |
Nativ |
swim-up |
Konzentration (Mio/ml) |
≪10 |
≪5 |
Gesamtmotilität (%) |
≪30 |
≪50 |
Progressivmotilität (WHO A in %) |
≪25 |
≪40 |
Normalformen (%) |
≪20 |
≪20 |
Sind nicht alle Kriterien gleichzeitig erfüllt, ist das entscheidende Kriterium die Progressivmotilität. Sofern diese unter 15 % im Nativsperma oder unter 30 % im swim-up-Test liegt, so liegt eine Indikation für ICSI vor. Die Beurteilung des Spermas hat nach den gültigen WHO-Vorgaben zu erfolgen.
Diese indikationsbegründenden Anforderungen übertraf das untersuchte Sperma des Klägers. Nach den Feststellungen des LSG, die von den Beteiligten nicht angegriffen und deshalb für das Revisionsgericht bindend sind (§ 163 SGG), überschritt die Progressivmotilität in den Spermiogrammen des Klägers bezogen auf Nativsperma mit Werten von 25 %, 25 %, und 66 % kontinuierlich den Grenzwert von ≪25 % und erst recht denjenigen von ≪15 %. Lediglich die Konzentration lag stets unter dem Grenzwert von 10 Mio/ml.
b) Entgegen der Auffassung der Kläger ist Nr 11.5 der RL über künstliche Befruchtung wirksam und für den streitigen Anspruch maßgeblich. RL sind in der Rechtsprechung des BSG seit Langem als untergesetzliche Rechtsnormen anerkannt. Ihre Bindungswirkung gegenüber allen Systembeteiligten steht außer Frage (vgl § 91 Abs 9 SGB V idF des GMG, jetzt § 91 Abs 6 SGB V). Das BSG zieht die Verfassungsmäßigkeit dieser Art der Rechtsetzung nicht mehr grundlegend in Zweifel. Es behält sich aber vor, die vom GBA erlassenen, im Rang unterhalb des einfachen Gesetzesrechts stehenden normativen Regelungen formell und auch inhaltlich in der Weise zu prüfen, wie wenn der Bundesgesetzgeber derartige Regelungen in Form einer untergesetzlichen Norm - etwa einer Rechtsverordnung - selbst erlassen hätte, wenn und soweit hierzu auf Grund hinreichend substantiierten Beteiligtenvorbringens konkreter Anlass besteht (stRspr; zuletzt BSG Urteile vom 1.3.2011 - B 1 KR 10/10 R - SozR 4-2500 § 35 Nr 4 RdNr 32, 37, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen; B 1 KR 7/10 R - RdNr 22, 26, zur Veröffentlichung vorgesehen, mwN).
Hinsichtlich des Verfahrens und des sachlichen Gehalts ist die Rechtmäßigkeit der in den RL über künstliche Befruchtung festgelegten Indikationen für die ICSI insbesondere an den Regelungen des SGB V zu messen. Hierbei werden die bei sonstigen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahmen zu beachtenden Qualitätskriterien des § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V für die Maßnahmen der künstlichen Befruchtung durch § 27a SGB V modifiziert. Während grundsätzlich der Einsatz einer neuen Behandlungsmethode nicht dem anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse im Sinne des § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V entspricht, solange ihre Wirkungen und Risiken noch der Überprüfung bedürfen (BSGE 86, 54, 64 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 70 - aktiv-spezifische Immuntherapie; BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 30 - neuropsychologische Therapie), kommt es im Rahmen der künstlichen Befruchtung - jedenfalls was die mögliche Fehlbildungsrate betrifft - auf diesen Standard nicht in gleicher Weise an (BSGE 88, 62, 69 = SozR 3-2500 § 27a Nr 3 S 29 f). Nichts anderes gilt für die gesundheitlichen Risiken im Zusammenhang mit der zur Gewinnung von Eizellen ggf notwendigen hormonellen Stimulation (BSGE 88, 62, 69 f = SozR 3-2500 § 27a Nr 3 S 30) und den Wirksamkeitsnachweis, da ein Embryotransfer günstigstenfalls nur in einem Viertel der Fälle zu einer Schwangerschaft führt (BSGE 88, 62, 70 = SozR 3-2500 § 27a Nr 3 S 30 f, unter Hinweis auf BT-Drucks 11/6760, S 15).
Obwohl danach die in § 27a SGB V enthaltene Wertung auf die Entscheidung über die Anerkennung neuer Befruchtungstechniken durchschlagen muss (BSGE 88, 62, 72 = SozR 3-2500 § 27a Nr 3 S 33), entbindet dies doch nicht im Übrigen von der Beachtung der allgemeinen Vorgaben für die Leistungen der GKV, dem Wirtschaftlichkeits- (§ 12 Abs 1 SGB V) und dem Qualitätsgebot (§ 2 Abs 1 Satz 3 SGB V). Deshalb hat der Bundesausschuss die Aufgabe, zu präzisieren, bei welchen Indikationen die ICSI auf Kosten der GKV gerechtfertigt ist (Hauck, SGb 2009, 321 ff). Soweit der dargelegte gesetzliche Regelungsgehalt reicht, verbleibt dem GBA kein Gestaltungsspielraum. Das gilt auch für die Vollständigkeit der vom Bundesausschuss zu berücksichtigenden Studienlage (vgl BSG Urteil vom 1.3.2011 - B 1 KR 10/10 R - SozR 4-2500 § 35 Nr 4 RdNr 37, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen). Der Bundesausschuss entscheidet erst über die weitere Konkretisierung des Gesetzes als Normgeber. Insoweit darf die sozialgerichtliche Kontrolle ihre eigenen Wertungen nicht an die Stelle der vom Bundesausschuss getroffenen Wertungen setzen. Vielmehr beschränkt sich die gerichtliche Prüfung in diesen Segmenten darauf, ob die Zuständigkeits- und Verfahrensbestimmungen sowie die gesetzlichen Vorgaben nachvollziehbar und widerspruchsfrei Beachtung gefunden haben, um den Gestaltungsspielraum auszufüllen (vgl BSG Urteil vom 1.3.2011 - B 1 KR 10/10 R - SozR 4-2500 § 35 Nr 4 RdNr 38, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen; ähnlich BSGE 96, 261 = SozR 4-2500 § 92 Nr 5, RdNr 67 - Therapiehinweise). Nach diesem Maßstab hat der Bundesausschuss die Indikation für die ICSI formell und inhaltlich rechtmäßig festgelegt.
c) Der Bundesausschuss hat die im Interesse der verfassungsrechtlichen Anforderungen der Betroffenenpartizipation umfassend durch Gesetz und - inzwischen - Verfahrensordnung des Bundesausschusses (vgl jetzt Kap 2 der VerfO des GBA) ausgestalteten und abgesicherten Beteiligungsrechte gewahrt. Sie stellen sicher, dass alle sachnahen Betroffenen selbst oder durch Repräsentanten auch über eine unmittelbare Betroffenheit in eigenen Rechten hinaus Gelegenheit zur Stellungnahme haben, wenn ihnen nicht nur marginale Bedeutung zukommt (vgl dazu BSG Urteil vom 1.3.2011 - B 1 KR 10/10 R - SozR 4-2500 § 35 Nr 4 RdNr 34, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen; Hauck, NZS 2010, 600, 604). Die Beschlussbegründung vom 26.2.2002 belegt, dass die seinerzeit anstehende Beratung der ICSI im Bundesanzeiger und im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde. Der Bundesausschuss berücksichtigte die daraufhin eingegangenen schriftlichen Stellungnahmen sowie mündliche Anhörungen von Sachverständigen vom eingerichteten Arbeitsausschuss "Familienplanung" in den Beratungen.
d) Der Bundesausschuss hat die Indikation für die ICSI auch inhaltlich rechtmäßig festgelegt. Er hat als Grundlage seiner Entscheidung die Studienlage vollständig berücksichtigt, denn er hat sich auf die verfügbaren Fachveröffentlichungen gestützt (Abschlussbericht "Fertilisation" der MDS-Projektgruppe P 10, November 1997, S 73 ff; internationale Literaturanalyse; Sachverständigenanhörung, s Beschlussbegründung vom 26.2.2002, S 1 f). Der Ausgangspunkt seiner Indikationsfestlegung ist rechtmäßig, nämlich dass Maßnahmen der künstlichen Befruchtung nur durchgeführt werden dürfen, wenn hinreichende Aussicht besteht, dass durch die gewählte Behandlungsmethode eine Schwangerschaft herbeigeführt wird (RL über künstliche Befruchtung Nr 8. Satz 1). Das stimmt mit den eingangs dargelegten gesetzlichen Anforderungen überein (§ 27a Abs 1 Nr 2 SGB V und § 12 Abs 1 SGB V). Es harmoniert mit der verfassungskonformen Wertung des Gesetzgebers, bei Begründung der Altersgrenze von 40 Jahren für Frauen wesentlich darauf abzustellen, dass die Konzeptionswahrscheinlichkeit jenseits des 40. Lebensjahres gering ist (vgl BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 7 RdNr 17 mwN). Dieser Ausgangspunkt schließt zugleich die Möglichkeit ein, dass nicht alle Versicherten, die von ungewollter Kinderlosigkeit betroffen sind, in formal gleicher Weise Maßnahmen der künstlichen Befruchtung beanspruchen können, weil Methoden ohne hinreichende Erfolgsaussicht nicht in den Leistungskatalog fallen.
Die an die Konzeptionswahrscheinlichkeit anknüpfende Grenzziehung der RL über künstliche Befruchtung für uneinheitliche Befunde ("nicht alle Kriterien gleichzeitig erfüllt") ist selbst dann nicht zu beanstanden, wenn - wie hier - eine alternative Methode der künstlichen Befruchtung nicht indiziert ist. Es ist nicht Aufgabe der GKV, die Methode der ICSI lückenlos in allen Fällen zur Verfügung zu stellen, in denen sie medizinisch machbar ist und die Voraussetzungen für andere Methoden der künstlichen Befruchtung nicht gegeben sind. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz handelt es sich insoweit weder um Fehler in Logik noch in Wertungskonsistenz.
Die unterschiedlichen Ausrichtungen der Methoden müssen bei der Indikationsbildung berücksichtigt werden. So ist der Bundesausschuss auch vorgegangen, indem er angeordnet hat: "In-vitro-Fertilisation und Intracytoplasmatische Spermieninjektion dürfen aufgrund der differenzierten Indikationsstellung … nur alternativ angewandt werden." (vgl RL über künstliche Befruchtung Nr 8. Satz 5). Dabei bewegte sich der Bundesausschuss auch im Rahmen des Hinweises, den der erkennende Senat in einer früheren Entscheidung gegeben hatte: Der Senat sah möglichen Anlass zu Beschränkungen der Indikation für ICSI, weil diese Methode im Verhältnis zur konventionellen IVF offenbar erheblich öfter angewandt wird, als es nach der statistischen Verteilung von Fertilitätsstörungen in der männlichen und weiblichen Bevölkerung zu erwarten wäre. Er hielt es - auch unter Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkten - für erwägenswert, die ICSI beispielsweise nur bei strenger Indikationsstellung als Kassenleistung zuzulassen, zumal generell die ICSI-Methode erheblich kostspieliger ist als die IVF-Methode (BSGE 88, 62, 74 = SozR 3-2500 § 27a Nr 3 S 35; vgl zu den Kosten auch zB die Übersicht unter www.berliner-kinderwunsch.de).
Einzige Ausnahme ist seit der Neufassung der RL über künstliche Befruchtung im Jahr 2007 (idF vom 15.11.2007, BAnz Nr 19 vom 5.2.2008, S 375) die Fallkonstellation eines totalen Fertilisationsversagens nach dem ersten Versuch einer IVF. In diesem Fall kann in maximal zwei darauffolgenden Zyklen die ICSI (Nr 10.5) zur Anwendung kommen, auch wenn die Voraussetzungen nach Nr 11.5 nicht vorliegen (RL über künstliche Befruchtung Nr 8. Satz 6 und 7). Diese spätere Änderung wirkt sich indes auf die Grenzwerte im hier betroffenen Zeitraum im Jahr 2006 nicht aus.
Es bewegt sich im Rahmen des Vertretbaren und Folgerichtigen, dass der Bundesausschuss bei Ausfüllung seines Gestaltungsspielraums hinsichtlich der Indikationsstellung für ICSI auf der Basis der WHO-Referenzwerte (vgl hierzu auch WHO-Laborhandbuch 1999, S 74; jetzt WHO-Laborhandbuch 2010, S 224) strengere Mindestanforderungen an Spermaparameter stellt als für den Einsatz der IVF (vgl Abschlussbericht "Fertilisation", aaO, S 75). Widerspruchsfrei und nachvollziehbar hat er sich hiermit für den Fall des uneinheitlichen Befundes ("nicht alle Kriterien gleichzeitig erfüllt") an der in der Wissenschaft für die IVF erörterten Mindestprogressivmotilität von 15 % orientiert (vgl Michelmann, Sind spermatologische Minimalkriterien sinnvoll?, TW Urologie Nephrologie 8, 18, 1996) und sich damit eines entsprechend der Bedeutung der Beweglichkeit der Spermatozoen für die Spontanbefruchtung wesentlichen Kriteriums der andrologischen Diagnostik bedient.
e) Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass die geltende RL-Regelung der medizinischen Indikation für ICSI im August 2006 nicht mehr in Einklang mit dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse gestanden hat. Das folgt auch nicht aus den Angaben des vom LSG gehörten Sachverständigen über die teilweise divergierende Praxis der Labore. Ohne abweichende, zwingende Hinweise kann der Senat davon ausgehen, dass der GBA als Normgeber die sich ständig ändernde Entwicklung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse im Blickfeld hat (zur Beobachtungspflicht des GBA als Normgeber vgl zuletzt BSG Urteile vom 1.3.2011 - B 1 KR 10/10 R - SozR 4-2500 § 35 Nr 4 RdNr 70 f mwN, zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen; B 1 KR 7/10 R - RdNr 73 f mwN, zur Veröffentlichung vorgesehen).
f) Die auf die dargelegten Sachgründe gestützte Regelung der medizinischen Indikationen für ICSI verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG).Art 3 Abs 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (stRspr, vgl zB: BVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr 55 mwN; BVerfGE 117, 316, 325 = SozR 4-2500 § 27a Nr 3 RdNr 31; BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 7 RdNr 12). Ist ein gesetzliches Regelungskonzept - wie das, welches § 27 a SGB V zugrunde liegt (vgl BVerfGE 117, 316 = SozR 4-2500 § 27a Nr 3, RdNr 35) - verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, so genügen hinreichende sachliche Gründe, um eine unterschiedliche Behandlung Betroffener zu rechtfertigen.
Solche hinreichenden Sachgründe liegen der Grenzziehung in den RL über künstliche Befruchtung zugrunde. Die Definition der Indikation für ICSI führt zwar dazu, dass bei uneinheitlichen Befunden Versicherte mit grenzwertüberschreitender Progressivmotilität gegenüber Versicherten mit grenzwertunterschreitender Progressivmotilität von einer Behandlung mit ICSI zu Lasten der GKV ausgeschlossen und dementsprechend benachteiligt werden. Die Grenzziehung beruht indessen auf den medizinischen Erkenntnissen über die Konzeptionswahrscheinlichkeit bei Anwendung der unterschiedlichen Methoden. Der Bundesausschuss darf ihre Anwendung unter Berücksichtigung der medizinischen Eigengesetzlichkeiten der jeweiligen Methode regeln. Bei ihrer Bewertung ist zu berücksichtigen, dass gerade kein Kernbereich der GKV-Leistungen betroffen ist (vgl BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 7 RdNr 15 mwN; BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 4 RdNr 13 mwN). Ebenso wie der Gesetzgeber muss der Bundesausschuss bei der Gestaltung der Leistungen in der GKV nicht für jeden Einzelfall Ausnahmen schaffen. Das gilt auch, wenn die Grenzen von Ansprüchen neu gestaltet werden (BVerfG SozR 3-2500 § 48 Nr 7 = NJW 1998, 2731; BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 7 RdNr 15; Schlegel, VSSR 2004, 313, 315, 321 f, mit Blick auf den Gesetzgeber). Entscheidet der Bundesausschuss über die Grenzen einer medizinischen Indikation, gilt nichts Anderes. Angesichts des legitimen Anliegens, die Ausgaben für Leistungen der künstlichen Befruchtung zu Lasten der GKV zweckentsprechend zu begrenzen (vgl BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5, RdNr 58, 60), muss der RL-Geber im Grenzbereich zwischen IVF und ICSI nicht auf eine unbeschränkte Öffnungsklausel ausweichen, um jedem Versicherten mit uneinheitlichem Befund zu Lasten der GKV gleitend den Methodenwechsel von der IVF zur ICSI zu ermöglichen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
FA 2011, 351 |
ArztR 2012, 161 |
NZS 2011, 6 |
NZS 2012, 104 |
SGb 2011, 452 |
Breith. 2012, 4 |